Europarecht

Örtliche Zuständigkeit, Selbstbeschaffte Leistung, Hilfe zur Erziehung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Beginn der Leistung

Aktenzeichen  M 18 K 17.4586

Datum:
9.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 19836
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 16
SGB VIII § 27
SGB VIII § 31
SGB VIII § 36a Abs. 3 S. 1
SGB VIII § 86
SGB VIII § 86b
SGB VIII § 86c
SGB VIII § 86d

 

Leitsatz

Gründe

Über die Klage konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die nach § 88 VwGO auszulegende Klage ist teilweise bereits unzulässig, im Übrigen unbegründet.
Der Klageantrag ist nach sachgerechter Auslegung gemäß § 88 VwGO und entsprechender Bestätigung des Klägerbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 31. März 2021 dahingehend zu verstehen, dass von den Klägerinnen der Ersatz von Kosten begehrt wird, die im Rahmen einer in der Einrichtung U. der Beigeladenen zu 3) erbrachten Jugendhilfeleistung vom 16. Mai 2017 bis 15. November 2018 angefallen sind. Für in der Vergangenheit liegende Maßnahmen scheidet eine rückwirkende Bewilligung einer Jugendhilfemaßnahme aus, da Maßnahmen der Jugendhilfe der Deckung eines aktuellen Bedarfs des Hilfeempfängers dienen. Dementsprechend kann sich ein Anspruch für die Vergangenheit ausschließlich auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII richten (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12). Der auf eine Sachleistung gerichtete Primäranspruch hat sich insoweit in einen sekundären Anspruch auf Kostenerstattung gewandelt (vgl. Stähr in: Hauck/Noftz, SGB, 12/14, § 36a SGB VIII, Rn. 43).
Soweit ein Anspruch der Klägerin zu 2) auf Ersatz der angefallenen Betreuungskosten geltend gemacht wird, ist die Klage bereits mangels Klagebefugnis unzulässig. Der Anspruch nach § 36a Abs. 3 SGB VIII steht dem Inhaber des ursprünglichen (Primär-)Anspruchs zu (vgl. SächsOVG, B.v. 22.10.2020 – 3 A 477/20 – juris Rn. 9; Kunkel/Pattar in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 36a Rn. 3 m.w.N.), hier also bei dem geltend gemachten Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII dem Personensorgeberechtigten. Ein Anspruch des Kindes auf die Leistung besteht hingegen nach dem unmissverständlichen Wortlaut des § 27 Abs. 1 SGB VIII nicht (vgl. auch Tammen/Trencek in Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 27 Rn. 33), so dass auch keine Klagebefugnis der Klägerin zu 2) gemäß § 42 Abs. 2 VwGO gegeben ist.
Die zulässige Klage der Klägerin zu 1) bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Ein Anspruch der Klägerin zu 1) auf Kostenerstattung gemäß § 36a Abs. 3 SGB VIII gegen den Beklagten besteht nicht.
Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 35).
Die Klägerin zu 1) hat ihren Bedarf durch unmittelbare Inanspruchnahme der Beigeladenen zu 3) ohne vorherige positive Entscheidung über die Hilfegewährung durch einen Träger der öffentlichen Jugendhilfe gedeckt und sich daher die Leistung im Sinne des § 36a Abs. 3 SGB VIII selbst beschafft (vgl. zu dieser Definition der Selbstbeschaffung Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 36a Rn. 42).
Der Aufwendungsersatzanspruch nach § 36a Abs. 3 SGB VIII setzt zudem denknotwendig voraus, dass dem Leistungsberechtigten auch tatsächlich Aufwendungen entstanden sind, deren Ersatz vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe verlangt werden kann. Grundsätzlich kann alternativ zu der Entschädigung in Geld jedoch auch die Befreiung von der gegenüber dem Leistungserbringer eingegangenen Verbindlichkeit verlangt werden, vorausgesetzt, die Kosten sind von dem Leistungsberechtigten geschuldet (Stähr in: Hauck/Noftz, SGB VIII, 12/14, § 36a Rn. 44). Vorliegend ist die Klägerin zu 1) mit ihrem Einzug in die Einrichtung U. mit Einverständnis ihres Betreuers – zumindest konkludent – einen zivilrechtlichen Vertrag über Betreuungsleistungen mit dem Leistungserbringer, der Beigeladenen zu 3), eingegangen und schuldet demnach die hierfür fällige Vergütung. Nach Angaben der Beigeladenen zu 3) im Schriftsatz vom 29. Oktober 2018 hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein Zahlungsrückstand von 177.653,83 EUR ergeben. Wenngleich auf eine konkrete Rechnungstellung der Klägerin zu 1) gegenüber mangels Solvenz möglicherweise verzichtet wurde, hat die Beigeladene zu 3) deutlich gemacht, einen entsprechenden Zahlungsanspruch für erbrachte Leistungen jedenfalls gegenüber dem zuständigen Jugendhilfeträger geltend machen zu wollen.
Ein Anspruch nach § 36a Abs. 3 SGB VIII scheitert vorliegend allerdings daran, dass zumindest gegenüber dem Beklagten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Leistung kein Anspruch auf die Gewährung der Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII bestand.
Allerdings erlaubt sich das Gericht den Hinweis, dass unabhängig von einer abschließenden rechtlichen Zuständigkeit zumindest eine vorläufige Leistung (ggf. mit nachfolgender Klärung der Zuständigkeit und Kostenerstattungsansprüchen) sei es durch den Beklagten oder die Beigeladenen zu 1) bzw. 2) zu erwarten und angemessen gewesen wäre. Eine Abwälzung des Kostenrisikos auf die – unstreitig hilfebedürftige – Leistungsempfängerin bzw. die Beigeladene zu 3) als freier Träger der Jugendhilfe wie vorliegend widerspricht hingegen den Grundprinzipien der Jugendhilfe.
§ 27 Abs. 1 SGB VIII gewährt dem Personensorgeberechtigten bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Gemäß § 27 Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt und richtet sich hinsichtlich Art und Umfang nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall. Ein Erziehungsdefizit, wie es § 27 Abs. 1 SGB VIII voraussetzt, ist bei der Klägerin zu 1) angesichts ihrer Suchterkrankung in Verbindung wohl auch mit einer psychischen Erkrankung und der Schilderungen der Beigeladenen zu 3) in ihrem Schriftsatz vom 29. Oktober 2018 wohl gegeben. Dies dürfte zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit stehen. Ob sich sodann die Betreuung in der Einrichtung U., wie vom Klägerbevollmächtigten vorgetragen, als konkrete Hilfeform im Rahmen der Hilfe zur Erziehung unter § 31 SGB VIII einordnen lässt oder ob möglicherweise angesichts der stationär erfolgenden Hilfe eine andere, eventuell auch unbenannte Hilfeform vorliegt, kann letztendlich jedoch dahinstehen, da der Wortlaut des § 27 Abs. 2 SGB VIII, wonach Hilfe zur Erziehung „insbesondere“ nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt wird und sich Art und Umfang der Hilfe nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall richten, auch Raum für die Berücksichtigung neuer atypischer Hilfeformen lässt, auf die bei entsprechendem erzieherischen Bedarf ein Anspruch besteht (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.2002 – 5 C 48/01 – juris Rn. 29 f; Schmid-Obkirchner in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 27 Rn. 29).
Eine von der Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII – insbesondere auch bezüglich der Zuständigkeitsregeln zu unterscheidende – Hilfeleistung nach § 19 SGB VIII (in der damals maßgeblichen Fassung) scheidet vorliegend – anders als noch im Eilbeschluss angenommen – hingegen aus.
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. Voraussetzung der Hilfe ist demnach, dass ein Elternteil – faktisch – alleine für ein kleines Kind sorgt, unabhängig von dem bürgerlich-rechtlichen Sorgerechtsstatus. Das Zusammenwohnen der leiblichen Eltern schließt eine Hilfe nach § 19 SGB VIII danach aus (vgl. Telscher in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl, Stand: 4.3.2020, § 19 Rn. 34). Vorliegend wohnte der Lebensgefährte der Klägerin zu 1) ebenfalls (zumindest für einen beträchtlichen Teil des Hilfezeitraums) in der Einrichtung U. – wenngleich in einem separaten Zimmer – und kümmerte sich gemeinsam mit der Klägerin zu 1) um das Kind. § 19 SGB VIII ist daher nicht einschlägig.
Ein Anspruch der Klägerin zu 1) auf Hilfe zur Erziehung kommt in zeitlicher Hinsicht frühestens ab der Geburt der Klägerin zu 2) am 16. Mai 2017 in Betracht.
In der Regel sind die Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII nur für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige sowie Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen vorgesehen, Schwangere und das ungeborene Kind sind hingegen grundsätzlich nicht Leistungsadressaten. Auch der Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung ist daher an die Inhaberschaft der Personensorge für ein – bereits geborenes – Kind gebunden (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten v. 20.9.2018, JAmt 2019, 146; DIJuF-Rechtsgutachten v. 14.9.2018, JAmt 2018, 505). Ausnahmen von diesem Grundsatz stellen Leistungen nach § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII (Aufnahme einer Schwangeren in eine gemeinsame Wohnform für Mütter/Väter und Kinder), u.U. Leistungen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII sowie Angebote der vorgeburtlichen Förderung der Erziehungskompetenzen nach § 16 Abs. 3 SGB VIII dar (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten v. 20.9.2018, JAMt 2019, 146). Diese Ausnahmen sind vorliegend jedoch nicht einschlägig. Eine Leistung nach § 19 SGB VIII kommt entsprechend den obigen Ausführungen mangels Alleinsorge der Klägerin zu 1) vorliegend nicht in Betracht. Auch Leistungen für junge Volljährige scheiden in Hinblick auf die Altersgrenze nach § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII aus.
Ebenfalls nicht einschlägig ist eine sog. „frühe Hilfe“ (vgl. zum diesem Begriff § 1 Abs. 4 BKiSchG) nach § 16 Abs. 3 SGB VIII, die – so versteht das Gericht die Ausführungen der Beigeladenen zu 1) in ihrem Schriftsatz vom 24. März 2021 – bereits im Vorfeld der sozialpädagogischen Familienhilfe nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 31 SGB VIII entweder vom Beklagten oder von der Einrichtung U. geleistet worden wäre. Eine Hilfe nach § 16 Abs. 3 SGB VIII kann allgemeine Informationen für Schwangere und werdenden Väter, aber auch erste praktische Unterstützung wie z.B. Beratung oder ggf. ambulante Hilfen beinhalten; im Bedarfsfall kann sich dabei auch die Einleitung von weiterführenden Hilfen zur Erziehung ergeben (vgl. Telscher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl (Stand: 04.03.2020), § 16 Rn. 90; DIJuF-Rechtsgutachten v. 20.9.2018, JAmt 2019, 146). Eine solche Hilfe wurde vom Beklagten – wenngleich dieser, als die Klägerin zu 1) sich noch im Zuständigkeitsbereich des Beklagten aufhielt, hierfür zweifelsohne zuständig gewesen wäre – jedenfalls nicht erbracht. Auch hat die Klägerin zu 1) dem Beklagten gegenüber keinerlei Bedürfnis bezüglich einer vorgeburtliche Beratung o.Ä. zum Ausdruck gebracht. So ist auch in dem Antrag der Klägerin zu 1) an den Beklagten vom 28. März 2017 nicht zu erkennen, dass bereits vorgeburtliche Jugendhilfemaßnahmen benötigt werden würden. Vielmehr wandte sich die Klägerin zu 1) bzw. die Einrichtung H. erst an den Beklagten, als ein Platz bei der Beigeladenen zu 3) bereits gefunden wurde und sich damit eine Beratung oder Unterstützung hinsichtlich möglicher nachfolgenden Hilfen bereits erübrigt hatte. Von einem Übergang einer Hilfe nach § 16 Abs. 3 SGB VIII in eine Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 31 SGB VIII im Sinne einer einheitlichen Hilfeleistung des Beklagten kann daher nicht ausgegangen werden. Offenbleiben kann vorliegend daher, ob auch bei einer von Hilfen zur Erziehung gefolgten Leistung nach § 16 Abs. 3 SGB VIII von einer zuständigkeitsrechtlich einheitlichen Leistung auszugehen ist, die zu einer weiter bestehenden örtlichen Zuständigkeit des zunächst leistenden Jugendhilfeträgers führt (vgl. dazu grundlegend BVerwG, U.v. 29.1.2004 – 5 C 9/03 – juris; BayVGH, U.v. 2.12.2019 – 12 BV 19.1737 – juris Rn. 27 ff. m.w.N.; Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 86 SGB VIII (Stand: 12.04.2021), Rn. 54 ff.). Entgegen der Auffassung der Beigeladenen zu 3) dürfte vorliegend von der Einrichtung U. ebenfalls keine „frühe“ (jugendhilferechtliche) Hilfe geleistet worden sein. Vielmehr dürfte die Tätigkeit der Beigeladenen zu 3) bis zu der Geburt des Kindes abschließend über die Leistungen durch das Sozialamt H. im Rahmen der Eingliederungshilfe abgegolten worden sein. Im Übrigen käme eine solche Hilfe frühestens ab dem Einzug der Klägerinnen in die Einrichtung U. in Betracht; zu diesem Zeitpunkt bestand – wie im Folgenden auszuführen ist – jedoch keine Zuständigkeit des Beklagten.
Für den erst ab dem 16. Mai 2017 in Betracht kommenden Anspruch auf Hilfe zur Erziehung war der Beklagte vorliegend örtlich unzuständig. Eine örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich weder aus der speziellen Zuständigkeitsregelungen des § 86b SGB VIII noch aus der allgemeinen Regelung des § 86 SGB VIII. Auch begründet § 86d SGB VIII keine vorläufige Zuständigkeit des Beklagten. § 86c SGB VIII ist ebenfalls nicht einschlägig.
Als der allgemeinen Zuständigkeitsnorm des § 86 SGB VIII vorgehende Sonderzuständigkeit (vgl. Loos in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 86 Rn. 1) scheidet § 86b SGB VIII vorliegend aus. Eine von § 86b SGB VIII vorausgesetzte Leistungserbringung nach § 19 SGB VIII liegt nicht vor, s.o.
Eine Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aber auch nicht aus § 86 SGB VIII, welcher als Grundnorm die Zuständigkeit für Jugendhilfemaßnahmen nach § 2 Abs. 2 SGB VIII und damit auch für die hier streitgegenständliche Hilfe zur Erziehung regelt.
Gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII grundsätzlich der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Nach Satz 2 tritt an die Stelle der Eltern die Mutter, wenn und solange die Vaterschaft nicht anerkannt oder gerichtlich festgestellt ist.
Die Vaterschaft für die Klägerin zu 2) wurde erst am 26. Juni 2017 vom Kindsvater anerkannt. Zu Beginn des Zeitraums, für den ein Anspruch der Klägerin zu 1) vorliegend in Betracht kommt – ab Geburt ihrer Tochter am 16. Mai 2017 – war daher gemäß § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII allein auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin zu 1) abzustellen.
Nach der von der Rechtsprechung als allgemeine Legaldefinition auch in der Jugendhilfe herangezogenen Begriffsbestimmung des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich; es genügt vielmehr, dass der Betreffende an dem Ort oder in dem Gebiet tatsächlich seinen Aufenthalt genommen hat, sich dort „bis auf Weiteres“ im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 29.9.2010 – 5 C 21/09 – juris Rn. 14, 21 f. m.w.N.).
Aus diesen Maßstäben folgt zugleich, dass jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt aufgibt bzw. verliert, wenn er seinen Aufenthaltsort tatsächlich wechselt und die konkreten Umstände erkennen lassen, dass er am bisherigen Aufenthaltsort nicht mehr bis auf Weiteres verbleiben und nicht mehr den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben wird (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 22).
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze hat die Klägerin zu 1) ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Kreisgebiet des Beklagten – sofern ein solcher dort überhaupt bestand – jedenfalls zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung U. aufgegeben. Mit dem Umzug am 2. Mai 2017 hat zum einen der tatsächliche Aufenthalt der Klägerin zu 1) vom Kreisgebiet des Beklagten hin zur Beigeladenen zu 1) gewechselt. Zum anderen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin zu 1) am bisherigen Aufenthaltsort in B. nicht mehr verbleiben wollte. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zu 1) nach dem Umzug in die Einrichtung U. nach B. oder – angesichts der Tatsache, dass ein Verbleib der Klägerin zu 1) gemeinsam mit ihrer neugeborenen Tochter in der alten Einrichtung wohl nicht möglich gewesen wäre – auch zu einem anderen Ort im Kreisgebiet des Beklagten zurückkehren wollte, bestehen nicht. Der Aufenthalt in der Einrichtung H. war letztlich auf das Zutun des Betreuers der Klägerin zu 1) zurückzuführen, der in der Entfernung der Klägerin zu 1) zu ihrer Heimat eine Chance für deren psychische Stabilisierung sah. Die Klägerin zu 1) hatte jedoch, wie mehrfach dokumentiert, seit Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft den ausdrücklichen Willen geäußert, in ihre Heimatstadt Halle oder zumindest in deren Nähe zurückzukehren, um – gerade auch in Hinblick auf die bevorstehende Mutterschaft – Unterstützung von ihrer Familie zu erfahren. Alles in allem kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass im Kreisgebiet des Beklagten der Lebensmittelpunkt der Klägerin aufrechterhalten werden sollte. Eine örtliche Zuständigkeit des Beklagten begründet § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII daher nicht.
Auch § 86d SGB VIII, bei dem es sich nicht um eine Zuständigkeitsregelung im engeren Sinne, sondern um eine Leistungspflicht zum vorläufigen Tätigwerden handelt (vgl. OVG NW, B. v. 16.7.2014 – 12 A 717/14 – juris Rn. 9), führt nicht zu einer Zuständigkeit des Beklagten.
Steht die örtliche Zuständigkeit nicht fest oder wird der zuständige örtliche Träger nicht tätig, so ist nach § 86d SGB VIII der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige oder bei Leistungen nach § 19 SGB VIII der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Maßgebliches Anknüpfungskriterium ist danach der tatsächliche Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist „Beginn der Leistung“ i.S.v. § 86 SGB VIII das Einsetzen der Hilfegewährung und damit grundsätzlich der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem Hilfeempfänger erbracht wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 25/10 – juris Rn. 18). Bei selbstbeschafften Leistungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII, bei denen die Hilfe nicht vom Jugendhilfeträger gewährt, sondern ohne dessen Zustimmung direkt vom Leistungserbringer bezogen wird, ist analog dazu ebenfalls auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der Leistungsempfänger die Leistung tatsächlich erhält (vgl. OVG BW – B. v. 25.5.2020 – 12 S 3395/19 – juris Rn. 22; VG Freiburg (Breisgau), U.v. 12.3.2015 – 4 K 1734/14 – juris Rn. 30; Kunkel/Kepert, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 86 Rn. 10; a.A. Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. (Stand: 21.12.2020), § 86 Rn. 53). Wie bereits dargestellt, kommt ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung und damit auch die Selbstbeschaffung der Leistung erst ab Geburt der Klägerin zu 2) in Betracht. Die Klägerin zu 2) hatte ihren tatsächlichen Aufenthalt im Sinne einer physischen Anwesenheit jedoch nie im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Eine Zuständigkeit des Beklagten nach § 86d SGB VIII bestand daher ebenfalls nicht.
Auch § 43 Abs. 1 SGB I kann nicht zu einer Verpflichtung des Beklagten führen. Dieser ist von § 86d SGB VIII als lex specialis verdrängt, wenn – wie hier – ausschließlich die örtliche Zuständigkeit zwischen verschiedenen Jugendhilfeträgern streitig ist (vgl. BayVGH, B.v. 8.8.2007 – 12 CE 07.1443 – juris Rn. 19; Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. (Stand: 17.08.2020), § 86d Rn. 5 m.w.N.; Loos in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 86d Rn. 1).
Der Beklagte ist des Weiteren auch nicht nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zuständig. Wechselt die örtliche Zuständigkeit für eine Leistung, so bleibt nach dieser Vorschrift der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Selbst wenn man vorliegend von einer grundsätzlichen Einheit zwischen der Leistung nach § 16 Abs. 3 und einer sich anschließenden Hilfe zur Erziehung ausgehen würde (vgl. hierzu obige Ausführungen), scheidet eine Zuständigkeit des Beklagten hiernach aus, da § 86c Abs. 1 Satz 1 eine laufende Leistungserbringung voraussetzt (vgl. Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. (Stand: 17.08.2020), § 86c Rn. 18). Eine Leistung wurde vom Beklagten – sowie von den sich ebenfalls nicht in der Zuständigkeit gesehenen Beigeladenen zu 1) und 2) – vorliegend jedoch gerade nicht erbracht.
Des Weiteren lässt sich auch aus einer anfänglichen „Kostenzusage“, die der Beklagte der Beigeladenen zu 3) nach deren Aussage in ihrem Schriftsatz vom 29. Oktober 2018 vor Einzug der Klägerinnen in die Einrichtung U. gegeben und anschließend wieder zurückgenommen habe, keine Verpflichtung des Beklagten ableiten. Eine solche Zusage ist bereits weder in der vorgelegten Behördenakte dokumentiert noch von der Beigeladenen zu 3) anderweitig belegt worden, so dass hieran erhebliche Zweifel bestehen. Zudem scheidet eine Bindungswirkung des Beklagten diesbezüglich aus. Eine Kostenzusage des öffentlichen Jugendhilfeträgers gegenüber dem Leistungserbringer bezieht sich – den zum sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis aufgestellten Prämissen folgend (vgl. zur Übertragbarkeit auf das SGB VIII: BGH, U.v. 18.2.2021 – III ZR 175/19 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 19.6.2018 – 12 C 18.313 – juris Rn. 4) – lediglich auf den Inhalt des im Grundverhältnis (Jugendhilfeträger – Leistungsempfänger) ergangenen Verwaltungsaktes mit Drittwirkung, sprich die Bewilligung einer konkreten Jugendhilfeleistung. Eine solche Leistung wurde der Klägerin zu 1) vom Beklagten jedoch gerade nicht gewährt, was auch eine etwaige Kostenzusage gegenüber dem Einrichtungsträger hinfällig macht. Dafür, dass der Beklagte mit einer möglicherweise zunächst abgegebenen Kostenzusage einen vom Grundverhältnis losgelösten abstrakten Schuldgrund habe schaffen wollen, bestehen keine Anhaltspunkte. Zudem dürfte alleiniger Schuldner eines so entstandenen Zahlungsanspruches allein die Beigeladene zu 3), nicht jedoch die Klägerin zu 1) sein.
Der Beklagte war demnach für die Leistung einer Hilfe zur Erziehung an die Klägerin zu 1) örtlich nicht zuständig. Dementsprechend hat die Klägerin zu 1) auch keinen Anspruch auf Aufwendungsersatz gegen den Beklagten. Die Klage war daher abzuweisen.
Ohne dass es darauf noch in entscheidungserheblicher Weise ankommen würde, merkt das Gericht an, dass die Zuständigkeit für den Hilfefall gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII wohl bei der Beigeladenen zu 1) lag, in deren Zuständigkeitsbereich die Klägerin zu 1) mit Zuzug in die Einrichtung U. ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet haben dürfte. Dort, in der Nähe ihrer Heimat, beabsichtigte die Klägerin zu 1) wohl mit ihrer Tochter und dem Kindsvater bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs zu verweilen. Auch nach § 86d SGB VIII hätte sich eine Zuständigkeit der Beigeladenen zu 1) ergeben, da sich die Klägerin zu 2) dort tatsächlich aufhielt. Die Verweise der Beigeladenen zu 1) auf § 89e SGB VIII gehen offensichtlich fehl, da es sich bei dieser Norm nicht um eine Bestimmung zur örtlichen Zuständigkeit, sondern ausschließlich um eine nachgeschaltete Regelung zur Kostenerstattung handelt. Insoweit teilt das Gericht jedoch die Ansicht der Beigeladenen zu 1), dass es sich sowohl bei der Einrichtung H. als auch der Einrichtung U. der Beigeladenen zu 3) um geschützte Einrichtungsorte handeln dürfte, so dass dem Beklagten sowie der Beigeladenen zu 1) gegenüber eine Kostenerstattungspflicht der Beigeladenen zu 2) gegeben sein dürfte. Hingegen enthält § 89e SGB VIII keine Durchgriffsregelung, die zu einem Anspruch der Klägerin zu 1) unmittelbar gegen die Beigeladene zu 2) führen kann. Die Ausführungen der Beigeladenen zu 1) im Schriftsatz vom 24. März 2021 zu einem angeblich nicht korrekten Antrag der Klägerin zu 1) durch ihren Betreuer unter Verweis auf § 6 SGB VIII können ebenfalls nicht nachvollzogen werden. Gerade eine solche Antragstellung sollte die vom Amtsgericht Laufen angeordnete Betreuung umfassen (vgl. den Beschluss vom 7. April 2016: „Die Betreuung umfasst nunmehr folgende Aufgabenkreise: […] Abschluss, Änderung, Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrages“). Anhaltspunkte dafür, dass der bei der Beigeladenen zu 1) gestellte Antrag auf Hilfe zur Erziehung vom 14. September 2017 nicht wirksam gestellt worden wäre, liegen darüber hinaus nicht vor.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2, 1. Halbsatz VwGO gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Kostenausspruchs beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.


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