Europarecht

Zum Zeitpunkt des Neubeginns der Dublin-Überstellungsfrist nach Einstellung eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung

Aktenzeichen  AN 14 E 20.50389

Datum:
10.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38174
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin-III-VO Art. 29 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5, Abs. 7, § 123 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Erklären die Beteiligten ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO übereinstimmend für erledigt, so kann ein späterer Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO nur auf solche Änderungen der Sach- und Rechtslage gestützt werden, die erst nach Eingang der Erledigungserklärung des Antragstellers bei Gericht eingetreten sind oder ihm ohne eigenes Verschulden erst nach diesem Zeitpunkt bekannt geworden sind. (Rn. 10 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Erklären die Beteiligten ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bezüglich einer Abschiebungsanordnung in einem Dublin-Fall übereinstimmend für erledigt, beginnt die Überstellungsfrist erst mit dem gerichtlichen Einstellungsbeschluss respektive dessen Zustellung an die Bundesrepublik Deutschland neu zu laufen (entgegen VG Saarlouis BeckRS 2020, 25874). (Rn. 18 – 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Anträge werden abgelehnt.
2. Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten über die Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 17. Juni 2020 (AN 14 S 20.50089) bzw. eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO hierzu.
Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2020, eingegangen bei Gericht am 9. Dezember 2020, haben die Antragstellerinnen das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach im Wege des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO um die Abänderung des Beschlusses vom 17. Juni 2020 (AN 14 S 20.50089) ersucht bzw. hilfsweise um eine Anordnung nach § 123 VwGO.
Zur Begründung wurde ausgeführt, die sechsmonatige Überstellungsfrist sei mit Ablauf des 10. Dezember 2020 verstrichen, denn die zuletzt abgegebene Erledigungserklärung sei am 10. Juni 2020 bei Gericht eingegangen (wird ausgeführt).
Es wird daher im Wege des Eilantrags sinngemäß (§ 88 VwGO) beantragt,
1.) den Beschluss des VG Ansbach vom 17. Juni 2020 (AN 14 S 20.50089) abzuändern und das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO wieder zu eröffnen,
2.) hilfsweise § 80 Abs. 7 VwGO analog anzuwenden,
3.) weiter hilfsweise eine entsprechende einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zu erlassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren, in den Verfahren AN 14 S 20.50089 sowie AN 14 K 20.50090 sowie auf die in elektronischer Form vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der teilweise zulässige Antrag, zu dessen Entscheidung nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG der Einzelrichter berufen ist, führt nicht zum Erfolg.
1. Die Anträge zu 1.) und 2.) sind nicht zulässig, da nicht statthaft. Das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist abgeschlossen, ein erneuter Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO scheitert schon an der hierfür einzuhaltenden Wochenfrist. § 80 Abs. 7 VwGO ist vom Sinn und Zweck der Regelung her nur anwendbar, wenn es um eine Abänderung einer nach Absatz 5 getroffenen Sachentscheidung des Gerichts geht. Da der Beschluss vom 17. Juni 2020 ein nur deklaratorischer Einstellungsbeschluss war, scheidet demnach § 80 Abs. 7 VwGO aus. Es fehlt unter Berücksichtigung der Besonderheiten der hier zu entscheidenden Fallkonstellation an einer Statthaftigkeit der gemäß § 123 Abs. 5 VwGO grundsätzlich vorrangigen Verfahren nach § 80 Abs. 5 und Abs. 7 VwGO.
Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben; nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO haben auch die Beteiligten die Möglichkeit, wegen geänderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände eine solche Änderung oder Aufhebung zu beantragen. Damit knüpft der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO bereits nach dem Gesetzeswortlaut an eine vorangegangene gerichtliche Entscheidung in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO an. Die Existenz des § 80 Abs. 7 VwGO ist somit darauf zurückzuführen, dass Beschlüssen nach § 80 Abs. 5 VwGO in der Sache eine – wenn auch beschränkte – Bindungswirkung zukommt, auf deren Beseitigung die dort vorgesehene gerichtliche Änderungsbefugnis abzielt (Schoch in: Schoch/Schneider/Bier, 38. EL Januar 2020, VwGO, § 80 Rn. 529). Die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO setzt damit – in anderen Worten ausgedrückt – das Ergehen einer Sachentscheidung in einem vorangegangenen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO voraus, deren sachliche Bindungswirkung auf diese Weise durchbrochen werden soll. Hier jedoch ist in dem vorherigen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO (AN 14 S 20.50089) gerade keine gerichtliche Sachentscheidung ergangen, deren Bindungswirkung nunmehr im Wege des § 80 Abs. 7 VwGO zu durchbrechen wäre. Vielmehr ist die Rechtshängigkeit dieses Verfahrens konstitutiv durch die übereinstimmende Erledigungserklärung der Beteiligten entfallen; dem gerichtlichen Einstellungsbeschluss vom 17. Juni 2020 kommt insoweit eine rein deklaratorische Bedeutung zu.
Der Antrag zu 3.) ist aber statthaft, und zwar als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO mit dem Ziel der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage in dem Verfahren AN 14 K 20.50090 im Hinblick auf die von der Antragsgegnerin erlassene Abschiebungsanordnung.
Um aber die durch § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorgesehene Wochenfrist und den in § 123 Abs. 5 VwGO geregelten Vorrang der Verfahren nach § 80 Abs. 5 und 7 VwGO vor dem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht zu unterlaufen, kann ein solcher Rechtsbehelf nur unter engen Voraussetzungen in Betracht kommen. Hat ein Antragsteller also in der Hauptsache fristgemäß Klage gegen die Abschiebungsanordnung erhoben, ohne jedoch innerhalb der Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gestellt zu haben, kann er sich im Rahmen eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung grundsätzlich nur auf solche Änderungen der Sach- oder Rechtslage berufen, die entweder nach dem Ablauf der Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eingetreten oder ihm ohne Verschulden erst später bekannt geworden sind (BeckOK-AuslR/Pietzsch, 25. Ed. 1.3.2020, AsylG, § 34a Rn. 33b). Die hier zu entscheidende Fallkonstellation ist zwar insofern anders gelagert, als die Antragstellerinnen in dem Verfahren AN 14 S 20.50089 zunächst einen fristgemäßen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hatten. Als Reaktion auf die Erklärung der Antragsgegnerin, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung auszusetzen, haben sie dieses Verfahren jedoch im Einvernehmen mit der Antragsgegnerin für erledigt erklärt und sich damit willentlich einer gerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung des gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs der Abschiebungsanordnung begeben. Eine Umgehung der Antragsfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG bzw. des durch § 123 Abs. 5 VwGO angeordneten Vorrangverhältnisses droht damit in gleicher Weise, wie wenn die Antragstellerinnen von vorneherein von einer fristgemäßen Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO abgesehen hätten.
Zur Gewährleistung des durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten effektiven Rechtsschutzes muss es den Antragstellerinnen jedoch, hier wie dort, möglich sein, solche Umstände mit Bedeutung für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung geltend zu machen, die in dem eigentlich statthaften Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO keine Berücksichtigung hätten finden können, weil sie erst nachträglich eingetreten bzw. den Rechtsschutzsuchenden ohne eigenes Verschulden erst nachträglich bekannt geworden sind. Während dies im Fall der gänzlich unterbliebenen Antragstellung – wie bereits dargelegt – für solche Umstände gilt, die erst nach dem Ablauf der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG eingetreten bzw. den Antragstellern schuldlos erst zu diesem Zeitpunkt bekannt geworden sind, muss dies im Fall der hier einschlägigen Erledigungserklärung konsequenterweise für solche Änderungen der Sach- oder Rechtslage Geltung beanspruchen, die entweder erst nach deren Eingang bei Gericht (10. Juni 2020) neu hinzugetreten oder den Antragstellerinnen ohne eigenes Verschulden erst nach diesem Zeitpunkt bekannt geworden sind.
Zunächst haben hier die Antragstellerinnen derart „neue“, d.h. erst nach Abgabe der Erledigungserklärung in dem ursprünglichen Verfahren AN 14 S 20.50089 eingetretene, und damit in dem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO berücksichtigungsfähige Umstände zur Situation in Italien nicht vorgebracht. Im Verfahren nach § 123 VwGO hätten die Antragstellerinnen unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 80 Abs. 7 VwGO und zur Herstellung einer praktischen Konkordanz von § 123 und § 80 VwGO auch nur Änderungen geltend machen können im Vergleich zum Zeitpunkt ihrer Erledigterklärung bezüglich des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO. Denn mit der Erledigterklärung vom 8. Juni haben die Antragstellerinnen sich bewusst des Rechtsschutzes aus dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO begeben, auch mit Aussicht darauf, dass die Überstellungsfrist dadurch früher abläuft. Im Vergleich zum 8. Juni 2020 bzw. des Eingangs der Erledigterklärung bei Gericht am 10. Juni 2020 aber haben sich die Verhältnisse in Italien zumindest nicht zu Ungunsten der Antragstellerinnen geändert, was die Beantwortung der Frage nach evtl. systemischen Mängeln oder Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG betrifft.
Die Antragstellerinnen verfügen indes hinsichtlich des Vortrags zum Abgelaufensein der Überstellungsfrist über die notwendige Antragsbefugnis. Diese ist allgemein dann gegeben, wenn sich die für die Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte derart geändert haben, dass objektiv eine andere Beurteilung der Erfolgsaussichten möglich oder zumindest eine neue Interessenabwägung erforderlich ist. Die Geltendmachung derart veränderter Umstände setzt dabei einen schlüssigen Vortrag der Antragsteller zur Änderung der Sach- und Rechtslage, auch der Prozesslage, voraus (Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, 38. EL Januar 2020, VwGO, § 80 Rn. 576). Dies ist hier der Fall; die Antragstellerinnen haben in schlüssiger Weise seit ihrer Erledigterklärung geänderte Umstände dargetan, auf deren Grundlage eine andere Bewertung der Erfolgsaussichten ihres Rechtsschutzbegehrens zumindest möglich erscheint.
Sie berufen sich darauf, dass mit der Erledigungserklärung beider Beteiligten (die zweite Erledigungserklärung der Antragsteller stammt vom 8. Juni 2020 und ging beim Gericht am 10. Juni 2020 ein) mehr als sechs Monate seit der Abgabe der letzten Erledigungserklärung in dem Verfahren AN 14 S 20.50089 verstrichen seien. Da nach der Dogmatik des deutschen Verwaltungsprozessrechts die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten konstitutiv zur Beendigung der Rechtshängigkeit führen, wäre demnach am 10. Juni 2020 die Rechtshängigkeit des Verfahrens AN 14 S 20.50089 (rückwirkend) entfallen. Die somit gegebene prozessuale Situation ähnelt derjenigen, die im Fall einer den dortigen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Sachentscheidung eingetreten wäre. Ein solcher Beschluss, der nach § 80 AsylG unanfechtbar gewesen wäre, hätte nämlich (wenn auch nicht rückwirkend) gleichermaßen zum Ende der Rechtshängigkeit des Verfahrens AN 14 S 20.50089 geführt. Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 27.4.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 22; U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11), wonach die durch einen fristgemäß gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unterbrochene sechsmonatige Überstellungsfrist in Einklang mit der Bestimmung des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO mit der Bekanntgabe des den vorläufigen Rechtsschutz ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Beschlusses (an das Bundesamt) erneut zu laufen beginnt, erscheint es damit auch im Fall der Beendigung des Verfahrens infolge übereinstimmender Erledigungserklärungen zumindest nicht ausgeschlossen, insoweit auf den Eingang der letzten Erledigungserklärung abzustellen. Ein solches Verständnis hätte wiederum zur Folge, dass mit Blick auf den dann gegebenen Ablauf der Überstellungsfrist die Zuständigkeit für die Prüfung der Asylanträge der Antragstellerinnen gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergehen würde und damit das hinsichtlich der Abschiebungsanordnung bestehende Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen höher zu bewerten wäre als das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
2. In der Sache jedoch erweist sich der einzig zulässige Antrag zu 3.) als unbegründet. In diesem Verfahren nach § 123 VwGO hat sich gegenüber der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erledigung des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allenfalls der Umstand geändert, dass die Überstellungsfrist abgelaufen sein könnte.
Dies ist aber nicht der Fall.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO noch nicht abgelaufen und somit auch kein Übergang der Zuständigkeit für die Prüfung der Asylgesuche der Antragsteller auf die Antragsgegnerin erfolgt, Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO. Ein solcher Zuständigkeitsübergang kommt hier nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO frühestens sechs Monate nach Ergehen des gerichtlichen Einstellungsbeschlusses in dem Verfahren AN 14 S 20.50089 in Betracht (17. Juni 2020), wobei hier dahinstehen kann, ob es insoweit auf den Zeitpunkt des Beschlusserlasses am 17. Juni 2020 oder auf dessen Zustellung an die Antragsgegnerin am 29. Juni 2020 ankommt.
Entgegen der Ansicht der Antragstellerinnen ist die Überstellungsfrist, die durch den innerhalb der einwöchigen Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem Ziel der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung zunächst unterbrochen worden war, nicht bereits mit der Abgabe der letzten Erledigungserklärung am 8. Juni 2020 (bzw. dem Eingang bei Gericht am 10. Juni 2020) erneut angelaufen. Vielmehr ist insoweit auf die in diesem Verfahren ergangene gerichtliche Entscheidung, nämlich den Einstellungsbeschluss vom 17. Juni 2020 respektive auf dessen Zustellung an die Antragsgegnerin am 29. Juni 2020 abzustellen (vgl. VG Ansbach, B.v. 26.8.2020 – AN 18 S 20.50301 – juris Rn. 53; a.A. VG Saarland, B.v. 1.10.2020 – 5 L 814/20 – juris Rn. 38). Auch wenn Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO hierzu keine ausdrückliche Regelung enthält, lässt sich dies unschwer anhand der üblichen Auslegungsmethoden ermitteln.
Für die Maßgeblichkeit des gerichtlichen Einstellungsbeschlusses spricht zunächst der Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Danach erfolgt die Überstellung eines Antragstellers aus dem um Übernahme ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald dies praktisch möglich ist, spätestens aber innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. In der hier zu entscheidenden Fallkonstellation ist dabei die zweite Alternative des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Gegen die von der Antragsgegnerin angeordnete Abschiebung haben die Antragsteller fristgerecht Klage erhoben und innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nach Maßgabe von § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage beantragt. Hierbei handelt es sich um einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im Sinne des unionsrechtlichen Verständnisses von Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO, denn die rechtzeitige Antragstellung hat nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG zur Folge, dass eine Abschiebung vor der gerichtlichen Entscheidung über den Antrag unabhängig vom Verfahrensausgang kraft Gesetzes nicht zulässig ist (vgl. dazu BVerwG, B.v. 27.4.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 20). Nach dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO kommt es somit für den Anlauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist alleine auf die endgültige gerichtliche Entscheidung über den Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung an. In dem hier maßgeblichen Verfahren wurde eine solche endgültige gerichtliche Entscheidung erstmals mit dem Einstellungsbeschluss vom 17. Juni 2020 getroffen. Zwar ist den Antragstellerinnen zuzugeben, dass es sich hierbei gerade nicht mehr um eine Entscheidung in der Sache handelt, sondern die Rechtshängigkeit des Verfahrens vielmehr als Folge der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten bereits am 10. Juni 2020 (rückwirkend) entfallen war und dem gerichtlichen Einstellungsbeschluss vom 17. Juni 2020 insoweit eine rein deklaratorische Bedeutung zukam. Eine solche – auf die Dogmatik des deutschen Verwaltungsprozessrechts zurückzuführende – Differenzierung zwischen gerichtlichen Sachentscheidungen und lediglich deklaratorischen Einstellungsbeschlüssen ist der Bestimmung des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO jedoch fremd. Stattdessen wird dort für den Anlauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist einheitlich auf das Ergehen einer gerichtlichen Entscheidung in dem Rechtsbehelfsverfahren mit aufschiebender Wirkung abgestellt.
Des Weiteren spricht auch die Regelungssystematik des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO dafür, hinsichtlich des in der zweiten Alternative vorgesehenen (erneuten) Anlaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf den im Anschluss an die übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ergangenen gerichtlichen Einstellungsbeschluss abzustellen. Dies ergibt sich namentlich aus einer Gegenüberstellung der beiden Regelungsalternativen dieser Vorschrift. Während Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO für den Beginn der sechsmonatigen Überstellungsfrist im Regelfall auf die Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch den zuständigen Mitgliedstaat abstellt, sieht Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO, wenn sich der betroffene Ausländer unter Einlegung eines Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO gerichtlich gegen die Überstellungsentscheidung wendet, eine Verschiebung des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über diesen Rechtsbehelf vor. Es sollen dadurch die widerstreitenden Interessen der Verordnung, nämlich einerseits eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen (Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO), und andererseits für die betroffenen Ausländer einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen zu gewährleisten (Erwägungsgrund 19 zur Dublin III-VO), einem angemessenen Ausgleich zugeführt werden. In beiden Konstellationen jedoch bleibt es dabei, dass sich die betroffenen Mitgliedstaaten bei der Organisation der Überstellung mit den gleichen praktischen Schwierigkeiten konfrontiert sehen und folglich über die gleiche Frist von sechs Monaten verfügen sollen, um diese Überstellung zu bewerkstelligen. In beiden Regelungsalternativen müssen die Mitgliedstaaten daher jeweils über eine Frist von sechs Monaten verfügen, die sie in vollem Umfang zur Regelung der organisatorischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung nutzen sollen. Insbesondere dürfen diejenigen Mitgliedstaaten, die Rechtsbehelfe gegen die Überstellungsentscheidung mit aufschiebender Wirkung geschaffen haben, im Namen der Einhaltung des Erfordernisses einer zügigen Sachbehandlung nicht in eine weniger günstige Lage versetzt werden als diejenigen Mitgliedstaaten, die solches nicht vorgesehen haben (so zur Vorgängerbestimmung des Art. 20 Abs. 1 Buchst. d Dublin II-VO: EuGH, U.v. 29.1.2009 – C-19/08 – juris Rn. 43 f. und 49). Findet jedoch ein solches Rechtsbehelfsverfahren mit aufschiebender Wirkung seinen Abschluss nicht durch eine gerichtliche Sachentscheidung, sondern durch die Vornahme entsprechender Prozesshandlungen von Seiten der Beteiligten, die diese gegenüber dem Gericht abgegeben haben, so besteht die Gefahr, dass der überstellende Mitgliedstaat hiervon nur mittelbar und ggf. mit Verzögerung Kenntnis erlangt und ihm in der Konsequenz entgegen der Vorgabe des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO zur Bewerkstelligung der Überstellung nicht mehr die vollen sechs Monate zur Verfügung stehen. So ist auch die hier zu entscheidende Fallkonstellation gelagert. Nachdem sich die Antragsgegnerin in dem Verfahren AN 14 S 20.50089 mit Schriftsatz vom 3. April 2020 einer etwaigen Erledigungserklärung der Antragstellerinnen bereits im Voraus angeschlossen hatte, stand es nunmehr diesen anheim, durch die Abgabe einer entsprechenden prozessualen Erklärung gegenüber dem Gericht (konstitutiv) eine Beendigung des Verfahrens herbeizuführen, ohne dass hierbei eine unmittelbare Kenntniserlangung der Antragsgegnerin sichergestellt gewesen wäre. Eine in diesem Sinne gesicherte Kenntniserlangung der Antragsgegnerin vom Ausgang des Verfahrens war vielmehr erst durch die daraufhin vom Gericht deklaratorisch mit Beschluss vom 17. Juni 2020 ausgesprochene Verfahrenseinstellung bzw. dessen Zustellung an die Beteiligten am 29. Juni 2020 gewährleistet. (vgl. in letzterem Sinne BVerwG, B.v. 27.04.2016 – 1 C 22.15 – juris Rn. 22, das judiziert, dass die durch einen Eilantrag unterbrochene Überstellungsfrist erneut mit Bekanntgabe des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses an die Antragsgegnerin zu laufen beginnt; zusätzlich muss die sechsmonatige Überstellungsfrist dem Mitgliedstaat zusammenhängend für eine Überstellung zur Verfügung stehen, EuGH, Urt. v. 29.01.2009 – C-19/08 – juris, Rn. 43 ff. Ob man, wie generell die Antragsgegnerin, dennoch auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abstellt, kann hier dahinstehen, da in beiden Fällen die Überstellungsfrist am 10. Dezember 2020, § 77 Abs. 1 AsylG, noch nicht abgelaufen ist).
Da somit ein Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist nicht vor dem 17. bzw. 29. Dezember 2020 in Betracht zu ziehen ist, kommt es auf die weitergehende Frage, inwieweit der Lauf der Überstellungsfrist daneben durch die von der Antragsgegnerin auf Grundlage von § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung unterbrochen werden konnte, nicht mehr an. Damit erübrigt sich auch eine weitere Erörterung der von der Antragstellerinnenseite erhobenen Einwände gegen die rechtliche Zulässigkeit eines solchen Vorgehens der Antragsgegnerin.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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