Europarecht

Zur Berechnung der Überstellungsfrist im Fall des „flüchtig“-seins

Aktenzeichen  AN 14 E 20.50360

Datum:
7.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38173
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin-III-VO Art. 2 lit. n, Art. 7 Abs. 2, Art. 9, Art. 17 Abs. 1, Art. 27 Abs. 4, Art. 29 Abs. 2
AufenthG § 27
VwGO § 123 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1.  Eine Bindung durch die vorherige Mitteilung eines anderen Grundes zum Scheitern der geplanten Überstellung gegenüber dem Zielstaat der Überstellung lässt sich der Dublin-III-VO nicht entnehmen (Rn. 49). (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Berechnung der Überstellungsfrist kommt es auf die (rechtswidrige -, vgl. VG Ansbach, U.v. 23.09.2020 – AN 14 K 18.50955) Aussetzung der Vollziehung wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht an (Rn. 52). (redaktioneller Leitsatz)
3.  Im Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung war die Antragstellerin jedenfalls nicht verheiratet, so dass bereits aus diesem Grunde eine Anwendung des Art. 9 Dublin-III-VO auf den Fall der Antragstellerin scheitert (Rn. 55). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig eine Abschiebung der Antragstellerin nach Schweden nach der Dublin-III-VO nicht erfolgen darf.
Die Antragstellerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und jezidischen Glaubens und reiste eigenen Angaben zufolge am 9. November 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 20. November 2019 stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Das Bundesamt stellte am 13. November 2019 für die Antragstellerin einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Schweden (Antragstellung am 22.01.2018) fest. Bei ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 28. November 2019 gab die Antragstellerin an, dass sie wegen ihres Mannes in Deutschland sei. Sie sei im Dezember 2017 in Schweden eingereist und sei dort bis Oktober oder November 2019 geblieben. Sie habe sich die ganze Zeit in Schweden aufgehalten. Dort habe sie einen Asylantrag gestellt, sie wisse aber nicht ob das Asylverfahren in Schweden noch laufe oder bereits entschieden sei. Sie sei bereits im Irak mit ihrem Ehemann, mit dem sie religiös verheiratet sei, verlobt gewesen. Sie seien seit 8 Jahren zusammen. Geheiratet hätten sie, als sie nach Deutschland gekommen sei, das sei am 9. November 2019 gewesen. Die Ehe habe ein Scheich geschlossen. Sie sei nicht beim Standesamt in Deutschland gewesen. Ihr Mann habe die Botschaft kontaktiert, diese würden eine Heiratsurkunde ausstellen, da sie von einem Scheich getraut worden seien. Krankheiten, Beschwerden etc. habe sie keine. Sie sei nicht schwanger.
Mit Schreiben vom 29. November 2019 stellte das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch an die schwedischen Behörden nach der Dublin-III-VO. Dieses wurde von den schwedischen Behörden mit Schreiben vom 5. Dezember 2019 akzeptiert, in dem ausgeführt wurde, dass die Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen in Schweden mit Gültigkeit vom 10. November 2017 bis zum 25. Oktober 2019 gehabt habe. Sie habe in Schweden am 22. Januar 2018 einen Asylantrag gestellt. Dieser sei am 21. Mai 2018 abgelehnt worden. Rechtskräftig sei die Entscheidung am 4. Juli 2018 geworden.
Mit Bescheid vom 6. Dezember 2019 wurde der Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), die Abschiebung nach Schweden wurde angeordnet (Ziffer 3) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 22 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Auf die Begründung wird Bezug genommen. Der Bescheid wurde der Antragstellerin am 10. Dezember 2019 gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt.
Hiergegen ließ die Antragstellerin mit Schriftsatz ihres damaligen Bevollmächtigten, der am 17. Dezember 2019 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach einging, Klage erheben (AN 14 K 19.51188). Dieses Verfahren wurde mit Beschluss vom 11. September 2020 eingestellt, nachdem die Antragstellerin bzw. ihr damaliger Bevollmächtigter auf eine Betreibensaufforderung nach § 81 AsylG nicht fristgerecht reagiert hatte.
Ausweislich der Bundesamtsakte bereitete die Antragsgegnerin in Abstimmung mit den schwedischen Behörden eine Überstellung der Antragstellerin nach Schweden für den 5. März 2020 vor. Nach einer Kurzmitteilung der Polizeiinspektion (PI) A* … vom 24. Februar 2020 an die Zentrale Ausländerbehörde bei der Regierung … (ZAB …*) müsse die Gewahrsamnahme der Antragstellerin ab 4:30 Uhr durchgeführt werden, damit die Abschiebung vollzogen werden könne. Mit Abschlussmeldung vom 5. März 2020 teilte die Bundespolizeidirektion … dem Bundesamt und der ZAB … mit, dass die Abschiebung am 5. März 2020 storniert worden sei, da die zu überstellende Person nicht angetroffen worden sei. Dem lag offenbar eine (in den Bundesamtsakten befindliche) Rückantwort der PI A* … zugrunde, nach der die Maßnahme am Flugtag vor Übergabe an die Bundespolizei abgebrochen wurde, da die Antragstellerin in der Unterkunft nicht anwesend gewesen sei. Dies teilte das Bundesamt mit Schreiben vom 5. März 2020 den schwedischen Behörden mit. In dem Formblatt „Storno – Cancellation“ war als Grund nicht angekreuzt, dass die Antragstellerin „flüchtig“ sei, sondern als „sonstiger Grund“ „nicht angetroffen – absent“. Mit Schreiben vom gleichen Tag wurde der ZAB … mitgeteilt, dass der Überstellungsversuch am 5. März 2020 gescheitert sei, die Überstellungsfrist habe sich aber nicht verändert und Ende weiterhin am 5. Juni 2020. Es werde unverzüglich ein neuer Terminvorschlag erbeten.
Die ZAB … richtete daraufhin am 5. März 2020 einen Suchauftrag an die Unterkunftsverwaltung, ob Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Antragstellerin „flüchtig“ im Sinne der Dublin-III-VO sei. Das beigefügte Formblatt „Rückantwort“ wurde am 6. März 2020 an die ZAB … zurückgeschickt; dabei war angekreuzt, dass die Antragstellerin sich noch in der Unterkunft aufhalte und daher nicht amtlich unbekannten Aufenthalts sei.
In einem Aktenvermerk der ZAB … vom 9. März 2020 wurde festgehalten, dass laut Unterkunftsverwaltung, Herr M* …, sich die Antragstellerin nicht mehr in der Aufnahmeeinrichtung Zirndorf befinde. Abmeldung als „untergetaucht“ sei erfolgt am 9. März 2020, 7:43 Uhr. Gleichzeitig finde sich ein Verteilungswunsch zum Ehemann, wohnhaft …, … Es bestehe der Verdacht, dass die Antragstellerin die Aufnahmeeinrichtung vor Wohnsitzzuweisung verlassen habe und sich nun beim Ehemann verborgen halte.
Die ZAB … bat daraufhin am 9. März 2020 die für mögliche Wohnorte des „Ehemanns“ der Antragstellerin zuständigen Polizeiinspektionen im Rahmen der Amtshilfe um Nachschau, ob die Antragstellerin sich bei ihm aufhalte. Die PI B* … teilte daraufhin mit Kurzmitteilung vom gleichen Tag mit, dass der Ehemann angetroffen worden sei und erklärt habe, keinen Kontakt mehr zur Antragstellerin zu haben. Die andere genannte Anschrift treffe auf keinem Fall mehr zu.
Mit E-Mail vom 9. März 2020 teilte die Unterkunftsverwaltung der ZAB … mit, dass die Antragstellerin laut Unterkunftsverwaltung, Herr M* …, als untergetaucht gemeldet worden sei. Dies wurde noch am gleichen Tag von der zentralen Ausländerbehörde … an das Bundesamt weitergeleitet mit der Bitte um Prüfung einer Verlängerung der Überstellungsfrist.
Das Bundesamt bat mit Schreiben vom 10. März 2020 um weitere Informationen der ZAB … Hierzu antwortete diese mit E-Mail vom gleichen Tag, dass im Rahmen der für den 5. März 2020 geplanten Überstellung festgestellt werden konnte, dass die Antragstellerin in der ihr zugewiesenen Unterkunft nicht anwesend gewesen sei. Im Nachgang sei die Unterkunftsverwaltung befragt worden, die zunächst mitgeteilt habe, dass die Antragstellerin wohl noch in der Unterkunft wohnhaft sei. Am 9. März 2020 sei durch den Hausmeister der Unterkunft, Herrn M* …, die Abmeldung nach unbekannt erfolgt, da die Antragstellerin nach telefonischer Auskunft durch den Hausmeister seit dem erfolglosen Abschiebungsversuch mehrfach in der Unterkunft gesucht, aber nie gefunden werden konnte. Im Nachgang sei ergebnislos versucht worden, den Aufenthaltsort der Antragstellerin zu ermitteln.
Mit E-Mail vom 16. März 2020 fragte das Bundesamt bei der ZAB … an, ob die Antragstellerin weiterhin als flüchtig gelte. Daneben wurde gefragt, ob Zimmerkontrollen durchgeführt worden seien und wie das Ergebnis gewesen sei. Weiter, ob das Zimmer, falls die Antragstellerin weiter abgängig sei, anderweitig benutzt werde. Die ZAB … antwortete mit E-Mail vom gleichen Tag dahingehend, dass Zimmerkontrollen in der Zeit vom 6. März 2020 bis zum 15. März 2020 stattgefunden hätten. Als Ergebnis sei festgestellt worden, dass die Antragstellerin nicht anwesend gewesen sei. Daher sei durch die Unterkunftsverwaltung die Abmeldung erfolgt. Nach der Abmeldung könne das Zimmer anderweitig belegt werden.
Am gleichen Tag teilte das Bundesamt den schwedischen Behörden mit, dass eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil die Antragstellerin flüchtig sei. Es gelte die 18-monatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO. Fristende sei der 5. Juni 2021.
Mit Schreiben vom 8. April 2020 teilte das Bundesamt dem damaligen Bevollmächtigten der Antragstellerin mit, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO ausgesetzt werde. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise sein derzeit Dublin Überstellungen nicht zu vertreten. Mit Schreiben vom 26. Juni 2020 wurde die Aussetzung der Vollziehung widerrufen, da Dublin-Überstellungen nach Schweden wieder zu vertreten seien.
Hierüber wurde auch die ZAB … informiert. In dieser Mitteilung wurde als Ende der Überstellungsfrist der 26. Dezember 2020 genannt. Der zuständige Sachbearbeiter der ZAB … wandte sich daraufhin mit E-Mail vom 24. Juli 2020 an das Bundesamt. Die Zeit der Vollziehungsaussetzung müsste nach Einschätzung der ZAB … auf die bereits verlängerte Überstellungsfrist bis 5. Juni 2021 angerechnet werden. Das Bundesamt wandte sich daraufhin telefonisch am 24. Juli 2020 an die ZAB … und teilte mit, dass aufgrund der Vollziehungsaussetzung vorherige Fristen „gestoppt“ worden seien, daher sei die neue, kürzere Frist korrekt. Im Falle eines erneuten Untertauchens könne diese jedoch wieder auf 18 Monate verlängert werden.
In den Bundesamtsakten findet sich ein Schreiben des Bundesamts an die Antragstellerin vom 9. April 2020, nach dem sie an diesem Tag einen Folgeantrag nach § 71 AsylG habe stellen wollen, was aber wegen des noch nicht abgeschlossenen Klageverfahrens (AN 14 K 19.51188) (noch) nicht möglich sei. Daneben findet sich auch ein „Laufzettel Folgeantragsteller“ der Regierung …, Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber, nach dem die Antragstellerin am 9. April 2020 bei der ZAB …erschienen ist.
Das Bundesamt vereinbarte in der Folgezeit für den 26. August 2020 eine Überstellung der Antragstellerin nach Schweden. Diese scheiterte jedoch, da die Antragstellerin nicht in der Unterkunft angetroffen wurde. Die Unterkunftsverwaltung teilte mit E-Mail vom 1. September 2020 auf Nachfrage mit, dass sich die Antragstellerin nicht mehr in der Aufnahmeeinrichtung aufhalte. Seit wann sie abgängig sei könne nicht festgestellt werden. Das Bundesamt teilte den schwedischen Behörden daraufhin mit Schreiben vom 2. September 2020 mit, dass die Antragstellerin flüchtig und neues Fristende der 5. Juni 2021 sei.
Mit Schreiben ihrer jetzigen Bevollmächtigten vom 5. Oktober 2020 beantragte die Antragstellerin beim Bundesamt die Aufhebung des Bescheids vom 6. Dezember 2019. Sie sei mittlerweile mit einem anerkannten Flüchtling verheiratet, sodass gemäß Art. 9 Dublin-III-VO Deutschland für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei. Dieser Wunsch werde hiermit ausdrücklich schriftlich kundgetan. Die zunächst religiös geschlossene Ehe sei am … offiziell in das Personenstandsregister des Irak eingetragen worden. Beide Eheschließende verfügten mittlerweile über einen Personalausweis, der sie als verheiratet ausweise. Daneben sei die Antragstellerin schwanger. Voraussichtlicher Entbindungstermin sei der 26. März 2021. Da sie erst 2019 einen Abort gehabt habe sei bei der erneuten Schwangerschaft Vorsicht geboten. Es werde beantragt, vorläufig von einer Überstellung nach Schweden Abstand zu nehmen.
Das Bundesamt bat die ZAB … mit Schreiben vom 8. Oktober 2020 um Stellungnahme zum Antrag der Bevollmächtigten der Antragstellerin und um Mitteilung, ob es aus Sicht der ZAB Gründe gebe, weshalb die Antragstellerin nach Schweden zurückgeführt werden solle. Hierzu nahm die ZAB … mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 dahingehend Stellung, dass aus ihrer Sicht die Berechtigung zum Familiennachzug gemäß § 27 AufenthG fraglich sei, da der Anwendungsbereich dieser Norm nicht eröffnet sein könnte. Dies liege daran, dass die Ehe der Antragstellerin in Deutschland staatlich nicht registriert und anerkannt sei und eine zivilrechtliche Eheschließung durch das zuständige Standesamt erforderlich sei. Hierzu werde auf die Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 6. Dezember 2019 verwiesen. Es läge nach wie vor keine zivilrechtliche Eheschließung vor. Daneben setze die Zulassung zum Familiennachzug (Erteilung eines Aufenthaltstitels) voraus, dass die Betroffene mit einem erforderlichen Visum eingereist sei (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) was hier nicht der Fall sei. Ein solches Visum könne beispielsweise von der deutschen Botschaft in Schweden ausgestellt werden. Daneben sei auch die Passpflicht gemäß § 3 AufenthG für einen Aufenthalt im Bundesgebiet nicht erfüllt (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Eine Überstellung nach Schweden sei daher möglich.
Am 2. November 2020 hielt das Bundesamt in einem Vermerk fest, dass von dem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO nicht Gebrauch gemacht werde. Am gleichen Tage wurde der Bevollmächtigten der Antragstellerin mitgeteilt, dass der Dublin-Bescheid nicht aufgehoben werde und an der Überstellung der Antragstellerin nach Schweden festgehalten werde. Denn die Ehe sei nicht von einem deutschen Standesamt anerkannt, demnach sei sie keine zivilrechtliche anerkannte Eheschließung. Zu dem ungeborenen Kind bestünde noch keine familiäre Bindung des Kindsvaters. Die Schwangerschaft stehe einer Überstellung nicht entgegen. Eine gegebenenfalls vorliegende Risikoschwangerschaft sei nicht durch Atteste belegt. Dieses Schreiben wurde am gleichen Tag in Kopie an die ZAB … weitergeleitet und ergänzt, dass während des Mutterschutzes eine Überstellung nicht möglich sei. Bis zum Beginn des Mutterschutzes werde gebeten, eine Begleitung durch medizinisches Personal während der Überstellung sicherzustellen.
Am 5. November 2020 ließ die Antragstellerin durch ihre jetzige Bevollmächtigte den vorliegenden Antrag nach § 123 VwGO stellen.
Sie beantragt,
Der Antragsgegnerin wird im Rahmen der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der zuständigen Ausländerbehörde (ZAB …*) mitzuteilen, dass vorläufig eine Abschiebung der Antragstellerin aufgrund der Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Dezember 2019 (Gz.: …*) nicht erfolgen darf.
Zur Begründung lässt sie ausführen, dass die Antragstellerin sich auf Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO berufen und geltend machen könne, dass die 6-monatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, da sie nicht flüchtig gewesen sei. Sofern die für den 5. März 2020 geplante Überstellung an einem nicht-antreffen der Antragstellerin gescheitert sei begründe dies noch kein „flüchtig“ sein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO. Ein solches liege nämlich nur dann vor, wenn sie sich aus von ihr zu vertretenden Gründen dem staatlichen Zugriff entzogen habe. Nach der Legaldefinition der Fluchtgefahr in Art. 2 lit. n) Dublin-III-VO müsse ein „entziehen“ durch Flucht festgestellt werden. Bereits im Begriff des Entziehens liege ein Element des planvollen und vorsätzlichen. Ein flüchtig sein sei nicht schon dann anzunehmen, wenn die betreffende Person nicht angetroffen werde und bei dieser Gelegenheit der aktuelle Aufenthaltsort nicht ermittelt werden könne. Die Antragstellerin habe sich dem Zugriff nicht entzogen, ihr sei eine Überstellung nicht angekündigt worden. Zum Zeitpunkt Überstellung sei seitens der Unterkunftsverwaltung auch auf Nachfrage bestätigt worden, dass sich die Antragstellerin dort aufgehalten habe. Die Überstellung sei aus einem „sonstigen Grund – nicht angetroffen“ storniert worden. Sofern die Antragsgegnerin von einer Verlängerung der Überstellungsfrist aufgrund des nicht-antreffens am 5. März 2020 ausgegangen sei habe sie der zuständigen Ausländerbehörde auf Nachfrage mitgeteilt, dass diese aufgrund der Vollziehungsaussetzung „gestoppt“ worden sei.
Daneben habe die Antragstellerin mit Schreiben vom 5. Oktober 2020 die Aufhebung des Bescheids vom 6. Dezember 2019 aufgrund der Ehe mit dem als Flüchtling anerkannten Ehemann der Antragstellerin beantragt. Aufgrund der Eheschließung sei Deutschland gemäß Art. 9 Dublin-III-VO für die Prüfung des Asylantrags der Antragstellerin zuständig. An der Eintragung der Ehe in das Personenstandsregister im Irak bestünden seitens der Antragsgegnerin keine Zweifel, sie verlange jedoch im Widerspruch zu Art. 13 Abs. 4 Satz 2 EGBGB eine zivilrechtlich anerkannte Eheschließung in Form einer Anerkennung durch ein deutsches Standesamt. Schließlich befinde sich die Antragstellerin in der 20. Schwangerschaftswoche, voraussichtliche Entbindungstermin sei der 26. März 2021. Die Antragstellerin habe erst 2019 bedauerlicherweise einen Abort gehabt. Ein Attest über das Bestehen einer Risikoschwangerschaft könne derzeit noch nicht vorgelegt werden, da die letzte Vorsorgeuntersuchung im August 2020 stattgefunden habe. Eine solche sei jedoch in der Kalenderwoche 46 geplant und werde gegebenenfalls nachgereicht. Um einen erneuten Abort zu verhindern solle der Antragstellerin keinesfalls der Stress einer Dublin-Überstellung zugemutet werden. Sie sei insofern auf die Unterstützung ihres Ehemannes im Sinne von Art. 16 Dublin-III-VO angewiesen, sodass eine Trennung zu unterbleiben habe.
Mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2020 ergänzte sie ihr Vorbringen dahingehend, dass die für den 5. März 2020 geplante Überstellung der Antragstellerin nicht angekündigt gewesen sei. Ein planvolles „sich entziehen“ könne daher schon wegen der Unkenntnis des Überstellungstermins nicht angenommen werden. Soweit die Antragstellerin die ihr zugewiesene Wohnung verlassen habe, ohne die Behörden zu informieren, fehle es an der Unterrichtung über dir die ihr insoweit obliegenden Pflichten. In den Akten finde sich nirgendwo ein Hinweis darauf, dass die Antragstellerin darüber belehrt worden sei, dass eine Abwesenheit von mehr als 3 Tagen zur Folge habe, dass angenommen werde, dass sie flüchtig sei. Dass der aufenthaltsberechtigte Ehemann der Antragstellerin … wohnhaft gewesen sei, sei der ZAB … bekannt gewesen. Nach dem Urteil des EuGH müsse der Antragstellerin die Möglichkeit gegeben werden nachzuweisen, dass sie ihre Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt habe. Eine derartige Anhörung sei hier vor der Mitteilung an die schwedischen Behörden über die Verlängerung der Überstellungsfrist nicht erfolgt. Jedenfalls am 8. April 2020 sei die Antragstellerin wieder in die Aufnahmeeinrichtung eingezogen und habe angegeben, sich bei ihrem Ehemann in … aufgehalten zu haben. Daraufhin sei sie von der ZAB … verwarnt worden. Der Aufenthalt beim Ehemann stelle kein „flüchtig sein“ dar, sondern allenfalls einen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung, als solcher sei er auch geahndet worden. In der Zusammenschau der Umstände, dass die Überstellung der Antragstellerin nicht angekündigt worden sei, dass das Zimmer im Zeitpunkt der Durchsuchung am 5. März 2020 um 4:30 Uhr als bewohnt anzusehen gewesen sei und dass die Antragstellerin sich beim Ehemann aufgehalten hatte liege keine Flüchtigkeit vor.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Akteninhalt. Die ursprüngliche 18-monatige Überstellungsfrist sei noch nicht abgelaufen. Fristende sei der 5. Juni 2021. Die Meldung des unbekannten Aufenthaltes sei gemäß Vorgaben erfolgt, siehe Korrespondenz vom 16. März 2020. Das Fristende sei unabhängig von der Aussetzung gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO. Eine Zusicherung, dass bis zur Entscheidung im vorliegenden Eilverfahren aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht erfolgten, könne nicht abgegeben werden.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Bundesamtsakten sowie die Akten des gerichtlichen Verfahrens AN 14 K 19.51188 Bezug genommen.
II.
Der Antrag aus Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
Der Antrag ist nach § 123 Abs. 5 VwGO statthaft, da der Bescheid des Bundesamtes vom 6. Dezember 2019, mit dem der Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Schweden angeordnet wurde, aufgrund der (fingierten) Klagerücknahme nach Betreibensaufforderung bestandskräftig ist. Ein (vorrangiger) Antrag nach § 80 Abs. 5 oder 7 VwGO wäre daher vorliegend nicht statthaft.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Voraussetzung dafür ist, dass der Antragsteller sowohl einen Anspruch auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch) als auch eine besondere Dringlichkeit dafür, die Regelung vor einer etwaigen Hauptsacheentscheidung zu treffen (Anordnungsgrund) glaubhaft macht, vgl. § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, da die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht hat. Sie konnte nämlich nicht glaubhaft machen, dass ihre Überstellung nach Schweden auf der Grundlage des bestandskräftigen Bescheids vom 6. Dezember 2019 im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig wäre. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist für das Asylverfahren der Antragstellerin nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist nach der Dublin-III-VO zuständig geworden (hierzu 1. bis 3.). Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich auch nicht aus Art. 9 Dublin-III-VO (hierzu 4.) oder Art. 16 Dublin-III-VO (hierzu 5.). Schließlich steht dem Vollzug der Abschiebungsanordnung auch kein Abschiebungsverbot aufgrund der Schwangerschaft der Antragstellerin entgegen (hierzu 6.).
1. Nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO beginnt die 6-monatige Überstellungsfrist mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedsstaat zu laufen. Dies war vorliegend am 5. Dezember 2019 der Fall. Durch die Erhebung der Klage im Verfahren AN 14 K 19.51188 erfolgte keine Unterbrechung der Überstellungsfrist, da ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht gestellt worden war.
Die Überstellungsfrist wäre daher grundsätzlich am 5. Juni 2020 um 24:00 Uhr abgelaufen, da die mit Schreiben vom 9. April 2020 durch das Bundesamt erfolgte Aussetzung der Vollziehung (§ 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO) nach ständiger Rechtsprechung der Kammer (U. v. 23.09.2020 – AN 14 K 18.50955 – juris) nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist geführt hat.
2. Allerdings wurde die Überstellungsfrist vom Bundesamt nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO in Folge des gescheiterten Überstellungsversuchs am 5. März 2020 wirksam auf 18 Monate verlängert. Denn die Antragstellerin war „flüchtig“ im Sinne dieser Bestimmung.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 19. März 2019 (C – 163/17 – juris Rn. 62) die Anforderungen, die die Dublin-III-VO an das „flüchtig“-sein eines Asylantragstellers stellt konkretisiert. Er hat ausgeführt, dass davon auszugehen sei, dass in dem Fall, indem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden könne, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen habe, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden unter der Voraussetzung, dass die Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet worden ist, annehmen dürften, dass sie beabsichtige, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln (EuGH a.a.O. Rn. 62). Der EuGH geht also von einer Vermutung aus, dass eine Absicht bestanden hat, sich einer Überstellung zu entziehen um diese zu vereiteln, unter der Voraussetzung, dass die Person über ihre Pflichten unterrichtet wurde. Insoweit verweist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in den Randnummern 63 und 64 auf die in Art. 7 Abs. 2 – 5 der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96 v. 29.6.2013 – Aufnahmerichtlinie) genannten Möglichkeiten für einen Mitgliedsstaat, die Wahl des Aufenthaltsorts eines Asylbewerbers zu beschränken und von ihm verlangen zu dürfen, dass er vor Verlassen des zugewiesenen Orts eine behördliche Erlaubnis hierfür einholen muss. Daneben bezieht er sich auf die in Art. 7 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie genannte Möglichkeit der Mitgliedsstaaten, den Antragstellern vorzuschreiben, den Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressänderungen mitzuteilen. Hierüber müsse nach Art. 5 der Aufnahmerichtlinie der Antragssteller unterrichtet werden. Denn nur dann könne ihm der Vorwurf gemacht werden, die ihm zugewiesene Wohnung verlassen zu haben, ohne die zuständigen Behörden darüber informiert zu haben. Ob dies der Fall war, habe das vorlegende Gericht zu prüfen (Rn. 64). Darüber hinaus wird in Rn. 65 ausgeführt, dass dem Antragsteller die Möglichkeit des Nachweises erhalten bleiben müsse, dass er nicht beabsichtigt habe, sich den Behörden zu entziehen, da es nicht ausgeschlossen werden könne, dass es stichhaltige Gründe dafür gäbe, dass der Antragsteller den zuständigen Behörden seine Abwesenheit nicht mitgeteilt habe.
Nach den diese Rechtsprechung umsetzenden und konkretisierenden Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (U. v. 12.2.2020 – 14 B 19.50010 – juris Rn. 20) und der 17. Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach (U. v. 13.8.2019 – AN 17 K 17.50809 – juris Rn. 26), denen die erkennende Kammer in ständiger Rechtsprechung folgt, ergibt sich eine dreistufige Prüfungsreihenfolge: Danach ist auf der 1. Stufe zu prüfen, ob die Entziehung auf der Ortsveränderung des Antragstellers beruht. An 2. Stelle ist die Frage zu stellen, ob die Ortsveränderung in Entziehungsabsicht erfolgt ist, was grundsätzlich (widerleglich) vermutet werde. Schließlich ist festzustellen, ob das Scheitern der Überstellung maßgeblich auf der Ortsveränderung in Entziehungsabsicht beruht.
a) Die 1. Stufe dieser Prüfungsreihenfolge ist erfüllt: Die Überstellung am 5. März 2020 konnte nicht durchgeführt werden, weil die Antragstellerin nicht in der ihr zugewiesenen Unterkunft angetroffen wurde.
Aus den Bundesamtsakten geht hervor, dass die Antragstellerin (entsprechend der Rückantwort der PI A* … vom 5. März 2020) an diesem Tag in der Unterkunft nicht angetroffen wurde. Aufgrund der Kurzmitteilung der PI A* … vom 24. Februar 2020, nach der die Antragstellerin zur Sicherstellung der Überstellung um ca. 4:30 Uhr aufgegriffen werden sollte, muss davon ausgegangen werden, dass sie um diese Uhrzeit nicht in der Unterkunft angetroffen wurde. Ausweislich der in den folgenden Tagen eingeholten Auskünfte der Unterkunftsverwaltung war sie auch bis zum 9. März 2020 nicht in der Unterkunft auffindbar, weshalb sie an diesem Tag als „untergetaucht“ abgemeldet wurde.
Gegen eine Abwesenheit am 5. März 2020 spricht allein die Mitteilung der Unterkunftsverwaltung vom 6. März 2020 (Formblatt). Warum dort angekreuzt war, dass die Antragstellerin sich noch in der Unterkunft aufhalte und sie nicht amtlich unbekannten Aufenthalts sei, ist nicht erkennbar und lässt sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wohl auch nicht aufklären. In der Gesamtschau handelt es sich dabei um einen nicht nachvollziehbaren „Ausreißer“ der das aus den übrigen Nachforschungen gewonnene eindeutige Ergebnis, dass die Überstellung am 5. März 2020 aufgrund der Entziehung durch Ortsveränderung der Antragstellerin gescheitert ist, nicht substantiiert in Frage stellt.
Dafür genügt auch nicht die Behauptung der Bevollmächtigten der Antragstellerin im Schriftsatz vom 2. Dezember 2020, dass diese sich bei ihrem „Ehemann“ aufgehalten hat. Einerseits wurde dieser Aufenthalt bereits nicht glaubhaft gemacht. Es bestehen nämlich keine Anhaltspunkte dafür, dass dies tatsächlich so war. Insbesondere hat der Ehemann der Antragstellerin am 9. März 2020 gegenüber Polizeibeamten der Polizeiinspektion B* … angegeben, keinen Kontakt mehr zur Antragstellerin zu haben. Auch wenn man davon ausgehen würde, dass diese Behauptung gegenüber den Polizeibeamten eine Schutzbehauptung war, die vorgeschoben worden war, um eine Überstellung der Antragstellerin zu verhindern, wird für die gegenteilige Behauptung keinerlei Mittel der Glaubhaftmachung (§ 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920, 294 ZPO) geliefert. Schließlich hat sich die Antragstellerin auch wenn sie sich (ohne dies mitzuteilen und unerlaubt) bei ihrem „Ehemann“ aufgehalten hat, durch Ortsveränderung der Überstellung nach Schweden entzogen.
b) Die Argumentation der Antragstellerin wendet sich hauptsächlich gegen die 2. Stufe der Prüfungsreihenfolge, sie zweifelt an, dass die Ortsveränderung der Antragstellerin in Entziehungsabsicht erfolgt ist, insbesondere bemängelt sie, dass dies mangels entsprechender Aufklärung nicht vermutet werden könne.
Überträgt man die Grundsätze, die der EuGH in seinem Urteil vom 19. März 2019 aufgestellt hat, auf den vorliegenden Fall, so ist zunächst festzuhalten, dass die Antragstellerin über ihre Pflicht, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen und einen Wohnungswechsel den zuständigen Behörden mitzuteilen bei der Asylantragstellung am 20. November 2019 belehrt wurde, und zwar entsprechend Art. 5 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie in kurdisch-bardinani, mithin einer ihr bekannten Sprache (Bl. 20ff der Bundesamtsakte). Es war der Antragstellerin also bekannt bzw. konnte ihr bekannt sein, dass sie in der Aufnahmeeinrichtung wohnen bzw. sich aufhalten musste und einen Wechsel ihres Aufenthaltsortes den zuständigen Behörden mitteilen musste.
Eine darüberhinausgehende Belehrung über eine Pflicht, am Tag der geplanten Überstellung zu einer bestimmten Zeit in ihrem Zimmer zu sein wurde ihr zwar nicht erteilt, dies war aber nach den Ausführungen im Urteil des Europäischen Gerichtshofs auch nicht erforderlich. Ebenso wenig musste eine Belehrung erfolgen, dass, wenn die Antragstellerin sich nicht in der Aufnahmeeinrichtung aufgehalten hat und den zuständigen Behörden auch ihre Abwesenheit nicht mitgeteilt hat bzw. keine Erlaubnis hierfür eingeholt hat und eine Überstellung deswegen scheitert von einer „Flüchtigkeit“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ausgegangen werden könne. Eine derartige Belehrungspflicht lässt sich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und der Aufnahmerichtlinie nicht entnehmen.
Entgegen der Argumentation der Bevollmächtigten der Antragstellerin in deren Schriftsatz vom 2. Dezember 2020 verlangt das Urteil des EuGH auch nicht, dass vor einer Mitteilung an die Behörden des Mitgliedsstaats über die Verlängerung der Frist der Antragstellerin im Wege einer förmlichen Anhörung Gelegenheit zum Nachweis gegeben wird, dass die Abwesenheit andere Gründe hat. Vielmehr besteht nach der genannten Rechtsprechung eine Vermutung für die Entziehungsabsicht, die aber wiederlegt werden kann. Es obliegt also der jeweiligen Antragstellerin, die Vermutung zu wiederlegen. Hierfür hat die Antragstellerin aber nichts vorgetragen.
Angesichts der vorliegend erteilten Belehrung über die Pflicht, in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen etc., der nachgewiesenen Abwesenheit am 5. März 2020 und an den Tagen nach dem 6. März 2020 sowie auch der Abwesenheit der Antragstellerin aus der Aufnahmeeinrichtung im August 2020, die zum Scheitern der für den 26. August geplanten Überstellung geführt hat, hat die Antragstellerin nicht glaubhaft machen können, dass ihre Abwesenheit am 5. März 2020 nicht in Entziehungsabsicht erfolgt ist. Im Übrigen spricht auch bereits die Zeit, in der die Antragstellerin von der PI A* … aufgegriffen werden sollte aber nicht in der Unterkunft gefunden wurde, dagegen, dass diese Abwesenheit nicht in Entziehungsabsicht erfolgt ist. Denn um diese Uhrzeit kann nicht angenommen werden, dass eine nicht angetroffene Person sich mal kurz zum Einkaufen oder ähnliches aufhält.
Es bleibt daher bei der Vermutung, dass die Abwesenheit in Entziehungsabsicht vorgenommen wurde.
c) Schließlich beruhte das Scheitern der Überstellung auch maßgeblich aufgrund der Ortsveränderung in Entziehungsabsicht. Dies ergibt sich aus den infolge der gescheiterten Überstellung vom Bundesamt unter Einbeziehung der ZAB … und der Unterkunftsverwaltung der Regierung … sowie der Polizei vorgenommenen Ermittlungen.
Es schadet dabei nicht, dass das Bundesamt den schwedischen Behörden zunächst mit Schreiben vom 5. März 2020 (Formblatt) als Grund für die Stornierung der Überstellung „sonstiger Grund“ und nicht „flüchtig“ angegeben hatte und die Tatsache, dass die Antragstellerin „flüchtig“ war, erst am 16. März 2020 den schwedischen Behörden mit der neuen Überstellungsfrist bekannt gab. Denn die Antragsgegnerin kam zu der Einschätzung im Schreiben vom 16. März 2020 gerade durch die in der Zwischenzeit vorgenommenen Ermittlungen. Erst aufgrund dieser Ermittlungen bestand aus der Sicht der Antragsgegnerin Gewissheit, dass die Antragstellerin „flüchtig“ war. Eine Bindung durch die vorherige Mitteilung eines anderen Grundes gegenüber dem Zielstaat der Überstellung lässt sich der Dublin-III-VO nicht entnehmen.
Die Antragstellerin konnte folglich nicht glaubhaft machen, dass die gegenüber den schwedischen Behörden mit Schreiben vom 16. März 2020 erklärte Einschätzung des Bundesamts, dass sie zum Zeitpunkt zum Überstellungsversuchs am 5. März 2020 nicht in der ihr zugewiesenen Wohnung war und die Überstellung aus diesem Grund gescheitert ist, sie mithin flüchtig war, unzutreffend war.
3. Die Überstellungsfrist läuft daher noch bis zum 5. Juni 2021, 24:00 Uhr.
Auf die (rechtswidrige, vgl. VG Ansbach, U.v. 23.09.2020 – AN 14 K 18.50955) Aussetzung der Vollziehung wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie kommt es daher nicht an. Ebenso wenig kommt es auf die wegen Abwesenheit der Antragstellerin gescheiterte Überstellung am 26. August 2020 an.
Das gleiche gilt auch für die Angabe unterschiedlicher Fristen für die Überstellung ggü. den schwedischen Behörden durch das Bundesamt. Denn das Gericht ist verpflichtet, den Ablauf der Überstellungsfrist von Amts wegen zu prüfen. Es ist an diesbezügliche Einschätzungen des Bundesamts nicht gebunden.
4. Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht nach Art. 9 Dublin-III-VO für das Asylverfahren der Antragstellerin zuständig. Denn nach Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO wird bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständen Mitgliedsstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zudem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
Ausweislich des bzgl. der Antragstellerin festgestellten EURODAC-Treffers hat die Antragstellerin am 22. Januar 2018 erstmals einen Asylantrag in Schweden gestellt. Nach dem vorgelegten Heiratsvertrag wurde die Ehe mit ihrem „Ehemann“ aber erst am 16. Januar 2020 (durch Stellvertreter) geschlossen. Ungeachtet der Frage, ob die Ehe für die deutschen Behörden als wirksam anzusehen ist, steht jedenfalls fest, dass im Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung die Antragstellerin jedenfalls nicht verheiratet war. Bereits aus diesem Grunde scheitert eine Anwendung des Art. 9 Dublin-III-VO auch den Fall der Antragstellerin.
Ohne das es darauf ankommt wird darüber hinaus noch darauf hingewiesen, dass nach Art. 9 Dublin-III-VO Tatbestandsvoraussetzungen auch ist, dass die betreffenden Personen, also auch der „Ehemann“ der Antragstellerin den Wunsch, dass das Asylverfahren der Antragstellerin in Deutschland durchgeführt wird, schriftlich kundtun. Hierfür geht aus der Bundesamtsakte aber nichts hervor und wurde auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nichts glaubhaft gemacht.
5. Bei dem „Ehemann“ der Antragstellerin handelt es sich auch nicht um eine Person i. S. d.Art. 16 Dublin-III-VO. Diese Bestimmung betrifft allein Kinder, Geschwister oder Elternteile des Asylantragstellers und erfasst daher nicht einen Lebensgefährten oder Ehegatten.
6. Die Antragstellerin hat auch kein Vollstreckungshindernis für die Überstellung nach Schweden aufgrund der bei ihr bestehenden Schwangerschaft glaubhaft gemacht. Da der errechnete Entbindungstermin vorliegend der 26. März 2021 ist, ist der Antragstellerin ein Flug nach … im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) möglich und zumutbar. Die im Antragschriftsatz thematisierte Risikoschwangerschaft wurde von Seiten der Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Die 46. Kalenderwoche, in der lt. Antragsschriftsatz eine Vorsorgeuntersuchung geplant war, ist inzwischen vergangen ohne dass eine eine Risikoschwangerschaft bestätigende Bescheinigung vorgelegt wurde.
Im Übrigen sind Unsicherheiten hinsichtlich des Gesundheitszustandes der schwangeren Antragstellerin grundsätzlich durch eine ärztliche Begleitung Rechnung getragen werden (vgl. auch den Vermerk des Bundesamtes zur nicht Ausübung des Selbsteintrittsrechts vom 2. November 2020).
Nach alledem war der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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