Europarecht

Zuständigkeit der BRD nach Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  RO 13 K 20.50288

Datum:
5.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40737
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 27 Abs. 4, Art. 29
VwGO § 80 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Ein vom Wortlaut her unzulässiges Begehren auf Feststellung, welches aber das Begehren dennoch klar erkennen lässt, kann daher im Wege der Auslegung nach § 88 VwGO in eine zulässige Feststellung umgedeutet werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach Ablauf der Überstellungsfrist geht die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylverfahrens nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO über. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung aufgrund der Coronakrise kann die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nicht unterbrechen.  (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers auf die Beklagte übergegangen ist.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten konnte die Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
Die vorliegende Klage ist als Feststellungsklage zulässig und begründet.
1.) Die Feststellungsklage ist zulässig.
a) Die Feststellungsklage ist im konkreten Fall die statthafte Klageart für die Klärung der Frage, ob die Beklagte das Asylverfahren durchzuführen hat.
aa) Zwischen den Beteiligten liegt ein Rechtsverhältnis vor. Ein Rechtsverhältnis ist eine rechtliche Beziehung, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis mehrerer Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergibt (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz. 12). Rechtsverhältnisse sind durch subjektive Rechte und Pflichten gekennzeichnet, d.h. es muss um die Feststellung von Rechten und/oder Pflichten gehen (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 13). Die Klärung des Vorliegens eines einzelnen Tatbestandsmerkmals stellt kein Rechtsverhältnis, sondern eine bloße Vorfrage oder ein einzelnes Element eines Rechtsverhältnisses dar (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 15). Ein vom Wortlaut her unzulässiges Begehren auf Feststellung ist zu hinterfragen und es ist zu prüfen, ob ggf. im Wege der Auslegung des Klageantrags nach § 88 VwGO eine zulässige Feststellung begehrt wird (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 11, 16).
Im vorliegenden Fall wurde der Asylantrag des Klägers gem. Art. 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG abgelehnt und eine Abschiebung nach Italien angeordnet. Erfolgt die Überstellung nicht innerhalb der nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgegebenen Frist, geht nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Mit anderen Worten hat der Asylantragsteller nach Ablauf der Überstellungsfrist ein subjektives Recht darauf, dass sein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland geprüft, d.h. sein Asylverfahren durchgeführt wird. Der Ablauf der Überstellungsfrist selbst ist insoweit aber nur ein Tatbestandsmerkmal für die Frage, ob die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik übergegangen ist. Das subjektive Recht, welches festgestellt werden kann, ist folglich nicht der Ablauf der Überstellungsfrist, sondern das Recht auf Durchführung des Asylverfahrens. Die Frage, ob das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen ist, weil Deutschland dafür zuständig geworden ist, stellt demnach das verfahrensgegenständliche Rechtsverhältnis dar (vgl. VG Ansbach, 09.08.2019, AN 17 K 18.50463 – juris Rz 25; VG Düsseldorf, 12.06.2020, 29 K 654/20.A – juris, Rz 28).
bb) In diesem Sinne interpretiert das Gericht das Begehren des Klägers. Das Begehren des Klägers auf Feststellung, dass die Überstellungsfrist abgelaufen ist, kann nach den vorgenannten Voraussetzungen nach § 88 VwGO in einen zulässigen Feststellungantrag umgedeutet werden (vgl. Schenke in: Kopp/Schenke, § 88 Rn. 3). Denn das Ziel des Klägers ist die Fortführung des Asylverfahrens und nicht lediglich die darin enthaltene Voraussetzung, dass die Überstellungsfrist für eine Rücküberstellung abgelaufen ist. Ein vom Wortlaut her unzulässiges Begehren auf Feststellung, welches aber das Begehren dennoch klar erkennen lässt, kann daher im Wege der Auslegung nach § 88 VwGO in eine zulässige Feststellung umgedeutet werden. (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 11, 16).
cc) Dieses Rechtsverhältnis ist zwischen den Beteiligten auch strittig. Die Streitigkeit des Rechtsverhältnisses ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal (vgl. z.B. BVerwG, 23.01.1992, 3 C 50/89 – juris, Rz 30 f.), welches erforderlich ist, um unnötige Verfahren zu verhindern. Zwischen den Beteiligten des Rechtsverhältnisses muss ein Meinungsstreit bestehen, aus dem heraus eine Seite der Auffassung ist, sie habe einen Anspruch darauf, dass die andere Seite etwas Bestimmtes tut oder unterlässt (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 25).
Um die Streitigkeit festzustellen, ist es grundsätzlich erforderlich, dass der vermeintlich anspruchsberechtigte Beteiligte dieses Rechtsverhältnisses seinen vermeintlichen Anspruch gegenüber dem anderen Beteiligten geltend macht und dieser andere Beteiligte diesen Anspruch ablehnt. Dazu wäre normalerweise unerlässlich, dass der Asylantragsteller, der sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist beruft, sich mit seinem Begehren an das Bundesamt wendet, bevor eine entsprechende Klage erhoben wird. Denn solange das Bundesamt keine Kenntnis davon hat, dass ein Asylantragsteller sich eines Anspruchs auf Durchführung seines Asylverfahrens wegen Ablaufs der Überstellungsfrist beruft, kann es diesen Anspruch auch nicht ablehnen und das Rechtsverhältnis nicht streitig sein. Im konkreten Fall wandte sich der Kläger zunächst mit Schreiben vom 30.06.2020 an das Bundesamt und bat um Bestätigung, dass die Überstellungsfrist abgelaufen sei. Sodann beantragte der Kläger am 09.07.2020 einstweiligen Rechtschutz nach § 123 VwGO diesbezüglich. Bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes, welches sodann zurückgenommen wurde, wie auch in der vorliegenden Klageerwiderung hat das Bundesamt aber mitgeteilt, dass es nach wie vor der Auffassung ist, dass die Überstellungsfrist aufgrund der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung unterbrochen, also noch nicht abgelaufen sei, sodass kein Asylverfahren in der Bundesrepublik durchzuführen ist. Dies genügt als Nachweis eines streitigen Rechtsverhältnisses, da das Bundesamt insoweit auf die gegenteilige Rechtsauffassung des Klägers reagiert hat.
dd) Vorliegend steht der Klage auch nicht die gesetzlich angeordnete Subsidiarität der Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO entgegen.
Grundsätzlich kann das mit der Feststellungsklage angestrebte Ziel, dass der Asylantrag des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland geprüft wird, auch mit einem Antrag nach § 51 VwVfG (ggf. § 49 VwVfG) und einer nachfolgenden Verpflichtungsklage erreicht werden, sodass ein Fall Subsidiarität gem. § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO gegeben wäre. Eine Ausnahme von der Subsidiaritätsklausel ist aber dann zu bejahen, wenn der Rechtschutz durch eine Feststellungsklage effektiver wäre als durch die vorgenannte Verpflichtungsklage (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 26 ff.). Dies ist zu bejahen, denn das Rechtschutzziel des Klägers ist mit der Feststellungsklage in zeitlicher Hinsicht effektiver und dennoch von der Wirkung gleichwertig zu erreichen. Zwar ist sowohl bei der Feststellungsklage, wie auch der Verpflichtungsklage erforderlich, dass eine negative Äußerung des Bundesamtes in dem Sinne herbeizuführen ist, dass kein Asylverfahren in der Bundesrepublik durchgeführt werden wird. Obwohl diese negative Äußerung auch bei der Feststellungsklage erforderlich ist, um die Streitigkeit des Rechtsverhältnisses zu begründen, kann diese in einem deutlich kürzeren Zeitraum erreicht werden. Denn für die Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage müsste gewartet werden, bis das Bundesamt entweder einen Bescheid erlassen hat oder bis die Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage eingetreten sind. Vor dem Hintergrund der Auswirklungen, würde bei einem Erfolg der Verpflichtungsklage die Verpflichtung zur Aufhebung des streitgegenständlichen Dublin-Bescheids nach § 51 VwVfG ausgesprochen, was zur Folge hätte, dass das Bundesamt kraft Gesetzes das Asylverfahren durchzuführen und über den Asylantrag zu entscheiden hat. Bei der vorliegenden Feststellungsklage wird festgestellt, dass die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags auf die Beklagte (d.h. die Bundesrepublik Deutschland, handelnd durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) übergegangen ist. Folge ist auch hier, dass das Bundesamt kraft Gesetzes das Asylverfahren durchzuführen und über den Asylantrag zu entscheiden hat.
Insoweit spricht im vorliegenden Fall auch die europarechtliche Zielsetzung der Dublin III-VO gegen die Subsidiarität der Feststellungsklage, weil diese der europarechtlichen Intention aufgrund ihrer zeitlichen Effektivität nachkommt. Ausweislich des Erwägungsgrundes 5 der Dublin III-VO ist das Ziel dieser Verordnung die Gewährung des effektiven Zugangs zu dem Verfahren und die zügige Bearbeitung der Asylanträge. Dazu dient eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, in welchem die Asylanträge der Asylbewerber geprüft werden.
Die Behandlung der Feststellungsklage als subsidiär gegenüber der Verpflichtungsklage wäre nur dann erforderlich, wenn das Bundesamt die beantragte Aufhebung des Dublin-Bescheids durch einen Ablehnungsbescheid abgelehnt hätte und bei Erhebung der Feststellungsklage die Klagefrist gegen den Ablehnungsbescheid bereits verstrichen gewesen wäre, denn Sonderregelungen für die Verpflichtungsklage, welche wie die Einhaltung der Klagefrist Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Klage sind, dürfen nicht unterlaufen werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 26). Dies ist vorliegend aber nicht der Fall.
b) Der Kläger hat auch ein berechtigtes Feststellungsinteresse. Ein solches kann sowohl rechtlicher, wie auch schutzwürdiger tatsächlicher, insbesondere wirtschaftlicher oder ideeller Art sein (vgl. Eyermann/Happ, VwGO, 15. Auflage 2019, § 43 VwGO, Rz 30). Dies ist im vorliegenden Fall gegeben, da der Kläger ein berechtigtes im Sinne der Dublin III-VO bestehendes Interesse an einer zeitnahen inhaltlichen Prüfung seines Asylantrages und damit an der Durchführung des Asylverfahrens geltend machen kann (vgl. VG Ansbach vom 9. August 2019, AN 17 K 18.50463, juris, Rz 36; VG Düsseldorf vom 12. Juni 2020, 29 K 654/20.A, juris, Rz 42).
2.) Die Feststellungsklage ist auch begründet, da die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylverfahrens des Klägers nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO nach Ablauf der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergangen ist.
Die Überstellungsfrist endete bereits am 22.04.2020 (24 Uhr), eine Unterbrechung der Überstellungsfrist durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO war nicht möglich.
a) Als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist die Feststellung erforderlich, zu welchem Zeitpunkt die Annahme des Aufnahmegesuchs erfolgte, denn nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO hat die Überstellung spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der „Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs“ durch den ersuchten Mitgliedstaat zu erfolgen (vgl. zum Ganzen: VG Regensburg, B. v. 21.9.2018 – Az. RN 2 S 18.50593).
Das Aufnahmegesuch wurde von Seiten des Bundesamts am 22.08.2019 an Italien übermittelt und auf einen Treffer in der VIS-Datenbank, wegen eines Visums für Italien, gestützt. Italien hat innerhalb der Frist von 2 Monaten gem. Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO keine Antwort übersandt. Folglich ist gem. Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO davon auszugehen, dass mit Ablauf des 22.10.2019 Italien einer Aufnahme des Antragstellers zugestimmt hat. Mithin wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist mit dem Ablauf des 22.10.2019 als letzter Tag der Frist des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO in Gang gesetzt, denn der Ablauf des letzten Tages der Frist des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO ist für die Überstellungsfrist ausschlaggebend und der erste Tag nach diesem Fristablauf ist bereits zur sechsmonatigen Überstellungsfrist zu zählen (VG Regensburg, B. v. 21.9.2018, a.a.O. m.w.N.). Im Ergebnis endet die Frist von 6 Monaten gem. Art. 29. Abs. 2 Dublin III-VO, in welcher der Antragsteller grundsätzlich nach Italien hätte überstellt werden können, mit Ablauf des 22.04.2020.
„ Zwar hat der Kläger gegen den Bescheid vom 23.10.2019 am 25.10.2019 Klage erhoben, allerdings ohne einen entsprechenden Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Da nur bei einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Überstellungsfrist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris) durch den vor ihrem Ablauf gestellten Antrag unterbrochen und mit einer ablehnenden Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes neu in Lauf gesetzt wird, verbleibt es trotz der Klage bei einem Ablauf der Überstellungsfrist am 22.04.2020.
Vor diesem Hintergrund ist die Überstellungsfrist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung jedenfalls abgelaufen, worauf sich der Kläger auch berufen kann (vgl. EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 – juris).
b) Etwas anderes gilt auch nicht nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO, wonach die Frist für die Überstellung verlängert werden kann, entweder auf höchstens ein Jahr, weil die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder aber auf höchstens 18 Monate, weil die betreffende Person flüchtig ist. Für die Inhaftierung bzw. Flüchtigkeit des Klägers sind insoweit aber keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich.
c) Die Überstellungsfrist wurde auch nicht durch die vom Bundesamt unter dem 27.03.2020 verfügte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO, Art. 27. Abs. 4 Dublin III-VO unterbrochen, da diese sich nicht auf die vorgenannte Überstellungsfrist auswirken konnte.
Die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgesehene Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung durch die zuständige Behörde ist dem Bundesamt im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet (vgl. BVerwG, 08.01.2019, 1 C 16.18, BeckRS 2019, 391, Rz 19). Die Tatsache, dass Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nicht genannt wird, ist insoweit unschädlich (vgl. EuGH, 13.09.2017, C-60/16, BeckRS 2017, 124216, Rz 71), da Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lediglich die Fallgruppen des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO erweitert (vgl. BVerwG 08.01.2019, a.a.O., Rz 20). Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsandrohung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO durch die zuständige Behörde ist demnach generell geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO geregelte Überstellungsfrist zu unterbrechen (vgl. BVerwG vom 08.01.2019, a.a.O., Rz 19).
Allerdings ist die Unterbrechung der Überstellungsfrist durch die Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO unionsrechtlich nur dann nicht zu beanstanden, wenn der Betroffene einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat und Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen oder aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (vgl. BVerwG vom 8. Januar 2019, a.a.O., Rz 27).
Entgegen der Auffassung des Bundesamts kann die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung aufgrund der Corona Krise die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nicht unterbrechen. Zur Begründung wird auf folgende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein (B.v. 09.07.2020, 1 LA 120/20 – juris) Bezug genommen, in welcher wie folgt ausgeführt wird:
„Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Eine Auslegung nach den zuvor genannten Kriterien ergibt, dass eine Aussetzung im Sinne dieser Vorschrift voraussetzt, dass diese zum Zwecke einer Prüfung der Überstellungsentscheidung (in Form eines Rechtsbehelfsverfahrens oder einer Überprüfung) angeordnet wird. Eine von der Durchführung eines solchen Prüfungsverfahrens unabhängige Aussetzung der Überstellungsentscheidung aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht vor.
Erfolgt die Aussetzungsentscheidung allein aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit – wie sie sich infolge der als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie unionsweit erlassenen Einreisebeschränkungen ergibt -, ohne dass dies der rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung dient, bewegt sich die Aussetzungsentscheidung nicht in dem von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmen. Die im nationalen Recht vorgesehene Aussetzungsentscheidung (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) kann damit jedenfalls nicht die Aussetzung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO bewirken.
Bereits dem Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO lässt sich mit der Bezugnahme auf den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung entnehmen, dass mit der mitgliedstaatlichen Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eine rechtliche Prüfung der Überstellungsentscheidung verbunden sein muss. Nach dem Wortlaut bestimmt der Abschluss dieser Prüfung den Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann.
Ferner macht die Überschrift des Art. 27 Dublin III-VO („Rechtsmittel“ bzw. „Remedies“ oder „Voies de recours“) sowie dessen systematische Einordnung in den Abschnitt IV der Verordnung („Verfahrensgarantien“ bzw. „Procedural safeguards“ oder „Garanties procédurales“) deutlich, dass Ziel der Vorschrift die Gewährleistung der Möglichkeit einer rechtlichen Prüfung der mitgliedstaatlichen Überstellungsentscheidung und damit eines effektiven Rechtsschutzes für die Antragsteller und andere Personen im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe c oder d Dublin III-VO ist.
Darüber hinaus ist bei der Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO neben dem Wortlaut und der systematischen Stellung insbesondere auch das Dublin-System insgesamt zu berücksichtigen (vgl. zur Auslegung von Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 – C-63/15 -, Rn. 35, juris, m.w.N). Dieses ist von einem Beschleunigungsgedanken geprägt (vgl. Erwägungsgrund 5), der mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in einem Spannungsverhältnis steht (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 – C-63/15 -, Rn. 56 f., juris; BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, Rn. 26, juris; Berlit, jurisPR-BVerwG 5/2019 Anm. 4).
Auch mit Blick auf Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ist eine Auslegung geboten, die den genannten widerstreitenden Interessen Rechnung trägt. Eine Aussetzung des Vollzugs der Überstellungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO verzögert, kann demnach nur im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes, d. h. mit der Zielsetzung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung vorgenommen werden.
Dem steht auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 08. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris) nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass eine behördliche Aussetzungsentscheidung im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO auch dann ergehen kann, wenn diese auf sachlich vertretbaren Erwägungen beruht, die den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, Rn. 27, juris). Jedoch ist auch in diesen Fällen nach der genannten Rechtsprechung die behördliche Aussetzung nur vor dem Hintergrund des effektiven Rechtsschutzes erlaubt.”
Die Einzelrichterin schließt sich diesen Ausführungen vollumfänglich an und nimmt insoweit ausdrücklich auf diese Bezug. Nach alledem ist die Unterbrechung der Überstellungsfrist durch die unbefristete Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung wegen der Corona-Krise nicht möglich (vgl. auch VG Düsseldorf, B.v. 18.5.2020 – 15 L 776/20.A oder VG Münster, B.v. 22.5.2020 – 8 L 367/20 A., das in dieser Konstellation zusätzlich noch auf Ermessensfehler abstellt).
Folge des Ablaufs der Überstellungsfrist am 22.04.2020 ohne erfolgreiche Überstellung des Klägers nach Italien ist somit, dass die Beklagte der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedstaat geworden ist (vgl. Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO).
Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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