Europarecht

Zuständigkeit für das Asylverfahren eines unbegleiteten Minderjährigen

Aktenzeichen  W 1 S 17.50377

Datum:
18.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2h, Art. 8 Abs. 4, Art. 13

 

Leitsatz

Für das Asylbegehren eines unbegleiteten Minderjährigen ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat (EuGH BeckRS 2013, 81155). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2017 (W 1 K 17. 50376) wird hinsichtlich Ziffer 3 des Bescheides angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller wurde eigenen Angaben zufolge am … 2002 geboren. Die Antragsgegnerin geht demgegenüber von der Volljährigkeit des Antragstellers aus. Der Antragsteller gibt des Weiteren an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein und auf dem Landweg aus Afghanistan kommend über Pakistan, den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Italien und Frankreich am 21. Mai 2017 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein, wo er am 20. Juni 2017 einen Asylantrag stellte. Auf Befragen gab der Antragsteller weiter an, dass er in Bulgarien, Slowenien und Italien Fingerabdrücke abgegeben habe; einen Asylantrag habe er nicht gestellt bzw. wisse er nichts über das Ergebnis eines Asylverfahrens, da er keine Bescheide erhalten habe.
Aus den vorgelegten Akten und darin enthaltener Eurodac-Treffer vom 26. Mai 2017 ergibt sich, dass der Antragsteller bereits am 17. November 2016 in Bulgarien und am 15. Mai 2017 einen Asylantrag in Slowenien gestellt hat. Am 23. Juni 2017 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ein Wiederaufnahmegesuch an Bulgarien aufgrund von Art. 18 Abs. 1b) der Verordnung (EU) 604/2013 – Dublin-III-VO –. Die bulgarische Dublin-Unit teilte hieraufhin mit Schreiben vom 4. Juli 2017 mit, dass Bulgarien der Wiederaufnahme nach Art. 18 Abs. 1d) Dublin-III-VO zustimme. Über das Ergebnis eines Asylverfahrens in Bulgarien wurden keine Angaben gemacht. Darüber hinaus wurde mitgeteilt, dass der Antragsteller in Bulgarien unter dem Geburtsdatum … 1997 registriert sei.
Mit Bescheid vom 24. Mai 2017 lehnte das Jugendamt der Stadt Frankfurt a.M. den Antrag des Klägers auf vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII ab, da zwei Fachkräfte zu dem Ergebnis gekommen seien, dass der Antragsteller nicht minderjährig sei, da widersprüchliche Angaben den Rückschluss zuließen, dass die Altersangabe nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspreche.
Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 22. Juni 2017 wies der Antragsteller darauf hin, dass sein korrektes Geburtsdatum der … 2002 sei. Seine Tazkira werde ihm von seinem Onkel aus Afghanistan nach Deutschland geschickt, woraufhin vermerkt wurde, dass er die Tazkira bis zum 22 Juli 2017 vorlege.
Mit Bescheid vom 5. Juli 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Bulgarien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die bulgarischen Behörden auf ein Übernahmeersuchen am 4. Juli 2017 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 18 Abs. 1d) Dublin-III-VO erklärt hätten. Der Asylantrag sei daher nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig; die Abschiebung nach Bulgarien sei gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG anzuordnen gewesen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor, da die derzeitigen humanitären Bedingungen in Bulgarien nicht zu der Annahme führten, dass bei der Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt, ebenso verhalte es sich mit einer Verletzung des Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Der Antragsteller habe zwar angegeben, in Deutschland eine Tante und einen Onkel zu haben, bei denen er leben möchte. Dies sei jedoch unerheblich, da der Kläger bereits volljährig sei.
Gegen den vorgenannten Bescheid hat der Antragsteller am 11. Juli 2017 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg Klage auf Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 5. Juni 2017 erhoben (W 1 K 17.50376) und gleichzeitig im vorliegenden Verfahren beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Antragsteller habe sein Heimatland gemeinsam mit seinem Vater verlassen, sei jedoch vor der Überfahrt mit einem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland von diesem getrennt worden und habe seither keinen Kontakt mehr. Der Vater habe Ausweispapiere für den Antragsteller bei sich gehabt; ein verbliebener Schülerausweis sei ihm in Bulgarien abgenommen worden. Ausweislich der mittlerweile vorgelegten Tazkira sei der Antragsteller am … 2002 geboren und damit minderjährig, weshalb auch nicht nachvollziehbar sei, weshalb das Jugendamt der Stadt Frankfurt a.M. die vorläufige Inobhutnahme abgelehnt habe. Man habe hierzu ein Widerspruchsverfahren anhängig gemacht. Bei der gegebenen Sachlage komme die vorrangige Zuständigkeitsnorm des Art. 8 Abs. 4 Dublin-III-VO zum Tragen. Nach einschlägiger EuGH-Rechtsprechung sei in einem solchen Fall der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich der Minderjährige aufhalte, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt habe. Aus dem streitgegenständlichen Bescheid gehe nicht hervor, auf welchen Tatsachen die Annahme der Volljährigkeit beruhe. Es sei vielmehr Aufgabe des Antragsgegners, bei Vorliegen eines Zweifelsfalls das Alter des Antragstellers festzustellen; auf Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 EU wurde verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vorgelegten Behördenakte sowie auf die Akte im Verfahren W1K 17. 50376 verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Das Gericht hat im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO eine Interessenabwägung vorzunehmen und dabei die Interessen des Antragstellers und der Antragsgegnerin sowie etwaig betroffene Interessen Dritter und der Allgemeinheit im Rahmen einer summarischen Prüfung gegeneinander abzuwägen. Hierbei sind die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache mit zu berücksichtigen, soweit sich diese bereits übersehen lassen (Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 80 Rn. 152 ff.).
Der Antrag ist begründet, da das Gericht die Erfolgsaussichten des Antragstellers im Hauptsachestreitverfahren bei der gebotenen summarischen Prüfung als überwiegend betrachtet, jedoch jedenfalls im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung vorliegend das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt, weshalb die aufschiebende Wirkung anzuordnen war.
Die streitbefangene Abschiebungsanordnung ist auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann.
Vorliegend hat die Antragsgegnerin die Abschiebung nach Bulgarien angeordnet, während überwiegend wahrscheinlich die Antragsgegnerin aufgrund der Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Die Zuständigkeitskriterien kommen dabei gemäß Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO in der in dem Kapitel III genannten Rangfolge zur Anwendung. Zudem ist nach Abs. 2 der Vorschrift bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates von der Situation auszugehen, die in dem Zeitpunkt gegeben ist, in dem ein Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
Zwar ergibt sich hier grundsätzlich eine Zuständigkeit Bulgariens aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO, da der Antragsteller nach seinem eigenen Vortrag von der Türkei aus kommend illegal nach Bulgarien eingereist ist. Dort hat er zudem auch seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz gestellt, § 3 Abs. 2 Dublin-II-VO. Im Fall des Antragstellers kommt jedoch voraussichtlich die gegenüber Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO vorrangige Zuständigkeitsbestimmung des Art. 8 Dublin-III-VO zum Tragen.
Diese Vorschrift enthält besondere Zuständigkeitsbestimmungen für Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen. Nach der Begriffsdefinition in Art. 2 j) Dublin-III-VO sind als unbegleitete minderjährige Personen unter 18 Jahren zu verstehen, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaates verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden. Diese Voraussetzungen liegen nach summarischer Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vor, da der Antragsteller aus seinem Heimatland eine Tazkira vorgelegt hat, die in Übereinstimmung mit seinen Angaben bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 22. Juni 2017 das Geburtsdatum „… … 2002“ ausweist. Bei der Tazkira handelt es sich um die in Afghanistan übliche Identitätskarte, wie sie dem Gericht auch aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt ist. Auch der Antragsgegner geht ausweislich der Behördenakte davon aus, dass es sich bei dem vorgelegten Dokument um da Original-Ausweisdokument handelt, an dem überdies Manipulationen nicht festgestellt werden konnten (vgl. Blatt 108,121 der Behördenakte). Demzufolge war der Antragsteller sowohl bei seiner Antragstellung in Bulgarien als auch in Deutschland noch minderjährig. Selbst wenn man aber das zunächst im Verfahren durchgängig verwendete und später vom Antragsteller korrigierte Geburtsdatum „… 1999“ zu Grunde legt, war der Antragsteller bei seiner ersten Asylantragstellung am 17. November 2016 in Bulgarien, auf die es nach Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung maßgeblich ankommt, noch minderjährig. Lediglich aus dem Antwortschreiben der bulgarischen Behörden vom 4. Juli 2016 ergibt sich ein noch früheres Geburtsdatum, nämlich der … 1997. Auf welcher Basis dieses Geburtsdatum in Bulgarien zustande gekommen ist, erscheint nicht nachvollziehbar und kann voraussichtlich dem Verfahren nicht zu Grunde gelegt werden; es entfaltet jedenfalls keine Bindungswirkung im vorliegenden Verfahren. Wie die Antragsgegnerin zu ihrer abweichenden Einschätzung der Volljährigkeit im streitgegenständlichen Bescheid gelangt ist, lässt sich demgegenüber in keiner Weise nachvollziehen, da der Bescheid hierfür keinerlei Begründung enthält. Soweit sich die Antragsgegnerin auf die Feststellung der Volljährigkeit durch das Jugendamt der Stadt Frankfurt a.M. im Bescheid vom 24. Mai 2017 stützen sollte, so erscheinen auch die dortigen Feststellungen nicht nachvollziehbar. Die dort zur Begründung erwähnten widersprüchlichen Angaben des Antragstellers lassen sich aus den vorgelegten Unterlagen über die Befragung des Antragstellers in keiner Weise nachvollziehen. Wenn sich aber – jedenfalls durch die bei der Befragung vor dem Bundesamt am 22. Juni 2017 angekündigte Tazkira mit dem Geburtsdatum … 2002 – bei der Antragsgegnerin Zweifel am Alter des Antragstellers ergeben haben müssten, so hätte es an ihr gelegen, diese Zweifel, etwa durch Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung, aufzuklären, § 24 Abs. 1 VwVfG, Art. 25 Abs. 5 Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie). Auch erscheint es nicht nachvollziehbar, den Antragsteller im Rahmen der persönlichen Anhörung zunächst aufzufordern, die Tazkira bis zum 22. Juli 2017 vorzulegen, dann jedoch bereits am 5. Juli 2017 in der Sache zu entscheiden, ohne das Alter des Antragstellers weiter aufzuklären.
Der Antragsteller ist nach Art. 2 j) Dublin-III-VO auch ohne die Begleitung eines für ihn verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist, da der Antragsteller insoweit glaubhaft geschildert hat, dass er seinen Vater, mit dem er gemeinsam auf der Flucht gewesen ist, vor der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland mit einem Schlauchboot bis zum heutigen Tage aus den Augen verloren hat, nachdem er es dort nicht geschafft hatte, dass Schlauchboot, in dem sich sein Vater befand, noch zu erreichen.
Handelt es sich bei dem Antragsteller entsprechend vorstehender Ausführungen um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ergibt sich eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin zur Durchführung des Asylverfahrens wohl bereits nach Art. 8 Abs. 2 Dublin-III-VO, da sich Verwandte des Antragstellers nach Art. 2 h) Dublin-III-VO, nämlich Onkel und Tante des Antragstellers, rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten (vgl. insoweit Blatt 63,64 der Behördenakte), bei denen der Antragsteller leben möchte. Zwar ist aus den vorgelegten Akten nichts dafür ersichtlich, dass im Rahmen einer Einzelfallprüfung festgestellt worden wäre, dass die genannten Verwandten für den Antragsteller sorgen könnten, ebenso wenig ist jedoch etwas dafür ersichtlich, was gegen eine solche Annahme spräche. Jedenfalls kann nach Auffassung des Gerichts durch das Unterlassen einer derartigen Prüfung durch die mit einem Asylantrag befassten Mitgliedstaaten (Bulgarien, Deutschland) die entsprechende Vorschrift, welche dem Minderjährigenschutz dient, nicht ausgehebelt werden.
Soweit man jedoch Art. 8 Abs. 2 Dublin-III-VO nicht als anwendbar ansehen wollte, so ergäbe sich eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin wohl zumindest aus Art. 8 Abs. 4 Dublin-III-VO, wonach bei Abwesenheit eines Familienangehörigen, eines seiner Geschwister oder eines Verwandten der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat ist, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat die Vorgängervorschrift zu Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO in einem Fall (vgl. EUGH, U.v. 6.6.2013 – C 648/11 – juris), in dem Minderjährige in mehreren Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt hatten, dahingehend ausgelegt, dass der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat (vgl. EuGH, U.v. 6.6.2013 – C-648/11 – juris). Dieser Entscheidung liegt zentral zugrunde, dass aufgrund von Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Minderjährigen, die in keinem EU-Mitgliedstaat Angehörige haben, besonderer Schutz zukommt. Dieser gebietet es, sie bei einer Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union grundsätzlich nicht in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu überstellen, weil regelmäßig der EU-Staat zuständiger Staat im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-VO ist, in dem er einen Asylantrag gestellt hat und sich tatsächlich aufhält, ohne dass es auf die vorherige Asylantragstellung in dem anderen EU-Staat ankommt. Diese Rechtsprechung ist auf Art. 8 Abs. 4 Dublin-III-VO als Nachfolgevorschrift zu Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO übertragbar, da der Minderjährigenschutz durch die Neufassung der Dublin-Verordnung keinesfalls eingeschränkt wurde.
Hiervon ausgehend obläge die Prüfung des klägerischen Asylantrags der Antragsgegnerin als dem Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller seinen Asylantrag gestellt hat und in dem er sich seither aufhält, ohne dass es hier auf die vorherige Antragstellung in Bulgarien ankommt. Denn es ist davon auszugehen, dass es dem Kindeswohl entspricht, dem Antragsteller einen raschen und effektiven Zugang zu dem Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und ihn nicht unbegleitet auf einen anderen Mitgliedstaats zu verweisen. Dies würde auch für den Fall gelten, dass der Asylantrag des Antragstellers in Bulgarien abgelehnt worden ist (vgl. EUGH, a.a.O.; Hailbronner, Ausländerrecht Bd. 3, § 29 AsylG Rn. 87), worauf die im Schreiben der bulgarischen Behörden vom 4. Juni 2017 zitierte Vorschrift des Art. 18 Abs. 1 d) Dublin-III-VO hinweist, wobei jedoch trotz Anfrage der deutschen Behörden hinsichtlich des Verfahrensausgangs keine ausdrückliche Antwort ergangen ist geschweige denn Nachweise vorgelegt wurden.
Der Zuständigkeit der Antragsgegnerin zur Prüfung des klägerischen Asylantrags stünde auch die Annahme des Wiederaufnahmeersuchens durch Bulgarien mit Schreiben vom 4. Juli 2017 nicht entgegen. Die Annahme eines (Wieder-) Aufnahmeersuchens verpflichtet den ersuchten Mitgliedstaat zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 bzw. Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO zur (Wieder-) Aufnahme des Asylsuchenden, führt jedoch nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen nicht zu einem Zuständigkeitswechsel. Die erwähnte Zustimmung Bulgariens beinhaltet schließlich auch keine zuständigkeitsbegründende Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO. (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4/15 – juris; EuGH, a.a.O.).
Der Antragsteller hat unter Zugrundelegung vorstehender Ausführungen auch einen subjektiven Anspruch darauf, dass sein Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland geprüft wird. Der Unionsgesetzgeber hat zur zügigen Bearbeitung von Asylanträgen in der Dublin-III-VO organisatorische Vorschriften für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats festgelegt. Diese sind individualschützend, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen. Ist dies der Fall, hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat und kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung des Bundesamts erfolgreich angreifen (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4/15 – juris). Die Bestimmungen zur Zuständigkeit für Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen sind jedenfalls individualschützend in diesem Sinne, da diese im Lichte des Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszulegen sind, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. EuGH, a.a.O.; BVerwG, a.a.O.)
Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt im vorliegenden Verfahren jedenfalls das Interesse des Antragstellers auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung nach Bulgarien das öffentliche Vollzugsinteresse aufgrund der auf Seiten des Antragstellers zu berücksichtigenden hochrangigen Interessen des Kindeswohls und des Kinderschutzes, wie sie etwa in Art. 24 der EU-Grundrechte-Charta, Art. 22 des Übereinkommen der UN über die Rechte des Kindes oder Art. 6 Dublin-III-VO niedergelegt sind. Schließlich sieht Art. 25 Abs. 5 Satz 2 Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) explizit vor, dass bei nach einer ärztlichen Untersuchung fortbestehenden Zweifeln hinsichtlich des Alters eines Antragstellers die Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass dieser noch minderjährig ist. Derartige Zweifel mussten sich anhand der angekündigten und nunmehr vorgelegten Tazkira der Antragsgegnerin aufdrängen, zumal die Antragsgegnerin keine ärztliche Untersuchung veranlasst hat.
Nach alledem war die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben