Handels- und Gesellschaftsrecht

Anwendbarkeit des § 86 VVG auf die Reiserücktrittsversicherung

Aktenzeichen  31 T 18460/19

Datum:
27.1.2020
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 17040
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 86

 

Leitsatz

Über die Frage, ob Reiserücktrittsversicherungen dem Anwendungsbereich des § 86 VVG unterfallen, entscheidet die konkrete Ausgestaltung des Versicherungsvertrags. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

113 C 6452/19 2019-12-12 Bes AGMUENCHEN AG München

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 12.12.2019, Az. 113 C 6452/19, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Beschwerdeführerin betreibt ein Inkassobüro mit Spezialisierung auf Ansprüche von Reisenden gegen Unternehmen der Tourismusbranche und macht gegen die Beklagte einen reiserechtlichen Rückzahlungsanspruch geltend. Die Beschwerdeführerin stützt sich darauf, dass der Rückzahlungsanspruch des Reisenden im Wege der Legalzession nach § 86 VVG auf dessen Reiserücktrittsversicherung und im Wege der Abtretung auf die Klägerin übergegangen ist.
Zwischen den Parteien ist umstritten, ob § 86 VVG auf eine Reiserücktrittsversicherung anwendbar ist. Das Amtsgericht hat die Anwendbarkeit des § 86 VVG verneint; zwar liege eine Schadensversicherung vor, die Norm sei aber nur dann anwendbar, wenn ein Schadensersatzanspruch in Rede steht. Die Beschwerdegegnerin bezieht sich auf weitere klageabweisende Entscheidungen des Amtsgerichts.
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstands wird im Übrigen auf den Beschluss des Amtsgerichts vom 12.12.2019 und die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien Bezug genommen.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde ist unbegründet.
Die Frage, ob die Reiserücktrittsversicherung in den Anwendungsbereich des § 86 VVG fällt, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beurteilt. Ausgangspunkt der Frage nach der Anwendbarkeit des § 86 VVG ist die Abgrenzung zwischen Schadensversicherungen und Summenversicherungen. § 86 VVG ist nach ganz herrschender Meinung nur auf Schadensversicherungen anwendbar.
In der Kommentarliteratur wird die Anwendung des § 86 VVG auf die Reiserücktrittsversicherung teils befürwortet (Muschner in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, 4. Aufl. 2020, § 86 Rn. 2; Brand in: Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht, § 86 VVG Rn. 5; Armbrüster in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 86 Rn. 5) und teils abgelehnt (Jahnke in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, StVR, 25. Aufl. 2018, § 86 VVG Rn. 13).
In der Rechtsprechung wird die Anwendbarkeit des § 86 VVG auf die Reiserücktrittsversicherung ebenfalls teils bejaht (LG Stuttgart, Urteil vom 08.09.2016 – 7 O 425/15, BeckRS 2016, 117240; LG Hannover, Urteil vom 09.06.2016 – 4 S 36/15, juris; AG Köln, Urteil vom 14.10.2019 – 142 C 353/18, BeckRS 2019, 31335) und teils verneint (LG München I, Urteil vom 27.04.2006 – 31 S 21056/05, BeckRS 2011, 12097; AG Rostock, Urteil vom 29.05.2019 – 47 C 316/18, BeckRS 2019, 17231).
Soweit die Gerichte die Anwendung des § 86 VVG auf die Reiserücktrittsversicherung befürwortet haben, geht aus den Entscheidungen jedoch ausdrücklich hervor, dass es auf den konkreten Inhalt des jeweiligen Versicherungsvertrags ankommt; aus den Entscheidungen lässt sich daher nicht ableiten, dass § 86 VVG generell auf Reiserücktrittsversicherungen anzuwenden wäre.
Die Beschwerdeführerin zitiert auf Seite 3 des Schriftsatzes vom 19.10.2019 wörtlich die oben genannte Entscheidung des LG Stuttgart. Darin heißt es auszugsweise wie folgt:
„Entgegen der Auffassung des Landgerichts München ist eine Reiserücktrittsversicherung wie hier vorliegend eine Schadensversicherung (…). Die Abgrenzung bestimmt sich an der Ausgestaltung der Bestimmungen. Eine Schadensversicherung liegt vor, wenn die Versicherungsleistung an eine konkret eingetretene Vermögenseinbuße anknüpft, der Versicherungsnehmer also eine konkrete Einbuße an Vermögen erlitt (…). Dagegen ist eine Summenversicherung gegeben, wenn sie einen abstrakt berechneten Bedarf zu decken verspricht, unabhängig von dem Nachweis eines konkreten Schadens (…). Soweit dem Versicherungsnehmer also nach dem Versicherungsvertrag eine im Voraus feststehende Entschädigung zusteht, deren Höhe unabhängig von dem konkret erlittenen Schaden ist, liegt eine Summenversicherung vor (…).“ (Hervorhebungen durch den Einzelrichter)
Vor dem Hintergrund der oben genannten Fundstellen ist der Einzelrichter der Rechtsauffassung, dass Reiserücktrittsversicherungen nicht generell vom Anwendungsbereich des § 86 VVG auszunehmen sind, sie aber gleichwohl auch nicht generell unter § 86 VVG zu subsumieren sind. Es kommt vielmehr auf die konkrete Ausgestaltung des Versicherungsvertrags an.
Nach allgemeiner Auffassung sind Ansprüche nur dann übergangsfähig, soweit sie zur Versicherungsleistung kongruent sind, d.h. sie einen Schaden betreffen, der einer Beeinträchtigung des versicherten Risikos gleichsteht (Möller/Segger in: MüKo-VVG, Band 1-2. Aufl. 2016, § 86 Rn. 59). Nur soweit der bürgerlich-rechtliche Ersatzanspruch und der versicherungsrechtliche Deckungsanspruch kongruent, also auf den Ersatz des gleichen Schadens gerichtet sind, kann ein Forderungsübergang stattfinden (Langheid in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 86 Rn. 2).
Der Beschwerdeführer hat den Versicherungsvertrag zwischen dem Reisenden und der Reiserücktrittsversicherung nicht vorgelegt und auch unabhängig davon nicht zur Ausgestaltung der Vertragsbestimmungen vorgetragen. Aufgrund dessen vermag der Einzelrichter nicht zu beurteilen, ob die hier maßgebliche Reiserücktrittsversicherung als Schadensversicherung qualifiziert werden kann und damit § 86 VVG anzuwenden ist oder nicht. Mangels Vorliegens der vertraglichen Bestimmungen lässt sich nicht beurteilen, ob die Reiserücktrittsversicherung gegenüber dem Leistenden zur Leistung verpflichtet war. Hierauf stützt sich das Amtsgericht zu Recht.
Aufgrund dessen ist die Entscheidung des Amtsgerichts im Ergebnis nicht zu beanstanden. Da die Klage insofern zur Frage der Aktivlegitimation nicht hinreichend substantiiert war, wäre sie abzuweisen gewesen. Die Kosten waren dementsprechend der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 3 S. 1 ZPO zuzulassen, da die Rechtssache i.S.d. § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO grundsätzliche Bedeutung hat. Eine obergerichtliche Entscheidung zu der Frage, ob Reiserücktrittsversicherungen unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung unter § 86 VVG fallen, ist nicht ersichtlich. Diese hier entscheidungserhebliche Rechtsfrage ist ausweislich des Vortrags der Beschwerdegegnerin nicht Gegenstand einer bloßen Einzelfallentscheidung.


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