Kosten- und Gebührenrecht

Prozesskostenhilfe bei offenen Erfolgsaussichten der Hauptsache

Aktenzeichen  10 C 21.65

Datum:
14.1.2021
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1649
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 146 Abs. 1, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, § 3 Abs. 1 S. 1, § 6 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

1. Im Rahmen der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache dürfen im Prozesskostenhilfeverfahren die Anforderungen nicht überspannt werden. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann von den Gerichten regelmäßig ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden, denn die Gerichte bewegen sich mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die den Richtern allgemein zugänglich sind. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 20.1745 2020-12-03 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Dem Kläger wird unter Aufhebung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 3. Dezember 2020 Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren (Au 1 K 20.1745) bewilligt und Rechtsanwalt W., D., beigeordnet.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. September 2020, mit dem der Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt, die Einreise und der Aufenthalt befristet untersagt, die Abschiebung nach Ungarn aus der Haft, bei vorheriger Haftentlassung für den Fall einer nicht fristgerechten Ausreise angedroht wurde, weiter.
Die zulässige Beschwerde (§ 146 Abs. 1 VwGO) ist begründet. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegen vor.
1. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist.
2. Gemessen an diesen Grundsätzen bietet die Klage hinreichende Erfolgsaussichten.
Zwar teilt der Senat die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass vom Kläger, der insgesamt elfmal strafrechtlich belangt wurde und zuletzt während offener Bewährung mit Urteil des Amtsgericht München vom 14. Dezember 2018 wegen Diebstahls in fünf tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem Diebstahl in vier tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, eine hinreichende Wiederholungsgefahr ausgeht. Zu Unrecht rügt der Kläger insofern, das Verwaltungsgericht habe dazu kein Sachverständigengutachten eingeholt. Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann von den Gerichten regelmäßig ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden, denn die Gerichte bewegen sich mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die den Richtern allgemein zugänglich sind (BVerwG, B.v. 4.5.1990 – 1 B 82/89, B.v. 14.3.1997 – 1 B 63/97, B.v. 22.10.2008 – 1 B 5/08 jeweils m.w.N. – jeweils juris; BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 13).
Auch ist das Verwaltungsgericht zu Recht und vom Beschwerdevorbringen unbeanstandet davon ausgegangen, dass die Verlustfeststellung am Maßstab von § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU zu messen ist, weil der Kläger nicht daueraufenthaltsberechtigt im Sinne von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist. Der Kläger hat sich seit seiner Wiedereinreise im Jahr 2013 nicht für die Dauer von fünf Jahren kontinuierlich, d.h. insbesondere nicht von Freiheitsstrafen unterbrochen, rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten (vgl. dazu BayVGH, B.v. 21.1.2020 – 10 ZB 19.2250 – juris).
Offene Erfolgsaussichten bestehen jedoch im Hinblick auf die von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Die Beklagte hat die Interessen insbesondere der jüngeren Tochter des Klägers nicht ausreichend ermittelt und in ihre Ermessenerwägung eingestellt. Die Erwägung der Beklagten, der „Familie“ des Klägers dürfte eine Rückkehr nach Ungarn „nicht schwerfallen“, berücksichtigt nicht ausreichend, dass die Lebensgefährtin des Klägers aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit, die gemeinsamen Töchter abgeleitet von ihrer Mutter jeweils selbstständig freizügigkeitsberechtigt sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU) und eine gemeinsame Rückkehr nach Ungarn daher nicht ohne weiteres unterstellt werden kann. Die alternative Begründung der Beklagten, dem Kläger und (auch) seiner vierjährigen Tochter, mit der der Kläger bis zur Inhaftierung zusammengelebt hat, sei eine fünfjährige Trennung zumutbar, kann sich derzeit auf keine tragfähige Sachverhaltsgrundlage stützen. Die Beklagte hat – soweit ersichtlich und abgesehen von der Erfragung von Besuchskontakten bei der JVA – keinerlei Sachverhaltsermittlung zu den Auswirkungen einer dauerhaften Trennung für das Kind vorgenommen. Eine Kontaktaufnahme mit der Mutter des Kindes hat offenbar nicht stattgefunden. Insofern wird im weiteren Verfahren aufzuklären sein, ob von einer gemeinsamen Rückkehr des Klägers und seiner vierjährigen Tochter nach Ungarn ausgegangen werden kann und – falls nicht – welche Auswirkungen eine dauerhafte Trennung für das Kind haben wird. Ohne solche Ermittlungen kann auch die Verhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung nicht beurteilt werden.
Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind ausweislich der erstinstanzlich vorgelegten Unterlagen erfüllt. Der Senat geht aufgrund der fortdauernden Inhaftierung des Klägers davon aus, dass insofern keine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Eine Gebühr nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nicht an, da die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hat. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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