Kosten- und Gebührenrecht

Zulässigkeit und Begründetheit einer Anhörungsrüge nach Senatswechsel aufgrund unterschiedlicher Beurteilung der Berufungsfähigkeit Fortsetzung eines Klageverfahrens

Aktenzeichen  L 16 AS 27/16 RG

Datum:
1.3.2016
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG §§ 102 I 2, 144 I 1 Nr. 1
ZPO ZPO § 591

 

Leitsatz

1. Ist streitig, ob ein Klageverfahren nach Rücknahme fortzusetzen ist, ist für die Frage der Berufungsfähigkeit auf den Streitgegenstand dieses Verfahrens abzustellen. (amtlicher Leitsatz)
2. War Gegenstand des durch Rücknahme erledigten Klageverfahren eine Forderung in Höhe von 17,82 Euro, ist gegen das Urteil, mit dem die Erledigung des Rechtsstreits festgestellt wurde, nicht die Berufung, sondern die Nichtzulassungsbeschwerde statthaft. (amtlicher Leitsatz)

Tenor

I.
Auf die Anhörungsrüge des Beschwerde- und Rügeführers wird das Verfahren mit dem ursprünglichen Aktenzeichen L 8 AS 817/15 NZB fortgesetzt.
II.
Die Gegenvorstellung gegen den Beschluss des Bayer. Landessozialgerichts vom 21. Dezember 2015 über die Verwerfung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 3. November 2015 (L 8 AS 817/15 NZB) wird zurückgewiesen.
III.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens vor dem Bayer. Landessozialgericht war das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 03.11.2015 (S 15 AS 665/15), in dem der Kläger und Rügeführer (Rf) die Feststellung beantragte, dass der Rechtsstreit S 15 AS 391/15 nicht durch Klagerücknahme erledigt ist.
Gegenstand des Klageverfahrens S 15 AS 391/15 war die endgültige Festsetzung der Leistungen des Rf nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit Bescheid vom 14.01.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.03.2015. Mit diesem Bescheid fordert der Beklagte und Rügegegner (Rg) vom Rf einen Betrag von 17,82 € zurück. Dagegen erhob der Rg Klage zum Sozialgericht Augsburg, die er im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.06.2015 nach Erörterung der Sach- und Rechtslage zurücknahm (vgl. Niederschrift vom 18.06.2015 im Verfahren S 15 AS 391/15).
Mit Schriftsatz vom 23.06.2015 erklärte der Rf, dass die Erklärung, die Klage zurückzunehmen, wegen Irrtums gemäß § 119 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) angefochten und die Niederschrift widerrufen werde. Die Klage sei kurzfristig und unvorbereitet in die Verhandlung mit einbezogen worden. Ladungsfristen seien nicht eingehalten worden. Der Bevollmächtigte habe keine Bedenkzeit gehabt und sei überrumpelt worden. Die Niederschrift sei mangels richterlicher Aufklärungspflicht anfechtbar und unwirksam. Inzwischen sei wegen der streitigen Forderung auch ein Überprüfungsantrag gestellt worden.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Augsburg am 03.11.2015 beantragte der Rf, festzustellen, dass der Rechtsstreit S 15 AS 391/15 nicht durch Klagerücknahme erledigt ist. Mit Urteil vom 03.11.2015 wies das Sozialgericht die Klage ab und stellte fest, dass der Rechtsstreit S 15 AS 391/15 durch Rücknahme erledigt sei. Die Rücknahme sei vom Rf wirksam erklärt und protokolliert worden. Der Sachverhalt sei zuvor ausführlich besprochen worden. Die Rücknahme könne nicht durch Anfechtung beseitigt werden. Wiederaufnahmegründe würden nicht vorliegen. Ausgehend von dem im Klageverfahren S 15 AS 391/15 streitigen Betrag von 17,88 € werde ein den Beschwerdewert von 750 € übersteigender Betrag nicht erreicht. Die Berufung sei daher nicht statthaft.
Mit Schriftsatz vom 18.11.2015 an das Bayer. Landessozialgericht hat der Rf beantragt, das Urteil vom 04.11.2015 als unzulässig zu verwerfen, da gegen die Vorsitzende Befangenheitsanträge vorliegen würden. Diese seien zwar mit Beschluss vom 21.09.2015 abgelehnt worden. Es sei aber anschließend das Rechtsmittel der formlosen Gegendarstellung erhoben worden, über das noch keine Entscheidung ergangen sei. Weitere Begründung werde nachgereicht, sobald die Einlassung der Gegenseite vorliege.
Der Rg hat mit Schriftsatz vom 09.12.2015 zur Beschwerde Stellung genommen.
Mit Schriftsatz vom 16.12.2015 rügte der Rf, dass ihm noch nicht die Stellungnahme des Rg vorliege.
Mit Beschluss vom 21.12.2015 hat das Bayer. Landessozialgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 03.11.2015 als unzulässig verworfen. Tatsächlich sei ungeachtet der Höhe des im Verfahren S 15 AS 391/15 streitigen Betrags gegen das Urteil im Verfahren S 15 AS 665/15 die Berufung statthaft. Gegenstand dieses Klageverfahrens sei ausschließlich die Frage, ob das Klageverfahren S 15 AS 391/15 fortzusetzen sei.
Am 05.01.2016 (Eingang beim Bayer. Landessozialgericht) hat der Rf eine Gehörsrüge sowie eine Gegenvorstellung erhoben. Er sei vor der Abfassung des Beschlusses nicht angehört worden. Er habe mitgeteilt, dass er die Sache mündlich vortragen wolle. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs sei auch entscheidungserheblich, denn das angerufene Gericht hätte ohne rechtliches Gehör den Beschluss nicht verfassen dürfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
1. Die Anhörungsrüge ist gemäß § 178a SGG zulässig und begründet.
Die zweiwöchige Rügefrist nach § 178a Abs. 2 Satz 1 SGG ist gewahrt. Der Rf hat dargelegt, dass er eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darin sehe, dass er vor Erlass des Beschlusses vom 21.12.2015 nicht angehört worden sei. Er macht damit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend.
Die Anhörungsrüge ist auch begründet. Denn nach Auffassung des erkennenden Senats war die Nichtzulassungsbeschwerde zulässig. Es kann daher auch nicht ausgeschlossen werden, dass eine Anhörung der Beteiligten vor Erteilung des Beschlusses zu dieser Frage zu einem anderen Ergebnis in der Sache geführt hätte.
Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung bei einer Klage, die – wie hier ursprünglich – einen auf Geld- oder Sachleistungen gerichteten Verwaltungsakt betrifft, der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 € nicht übersteigt.
Im Klageverfahren S 15 AS 391/15, dessen Fortsetzung der Rf betreibt, hatte sich der Rf gegen eine Forderung in Höhe von 17,82 € gewandt. Auf diesen Betrag hat auch das Sozialgericht bei der Beurteilung der Frage, ob gegen das die Fortsetzung dieses Rechtsstreits ablehnende Urteil die Berufung statthaft ist, abgestellt (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 144 Rn. 14).
Diese Würdigung wird als zutreffend erachtet. Nach Auffassung des erkennenden Senats bestimmt sich auch bei Verfahren, die auf die Fortsetzung eines infolge einer Klagerücknahme nach § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG beendeten Verfahrens gerichtet sind, der Wert des Beschwerdegegenstandes im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG nach dem Streitgegenstand des Klageverfahrens, dessen Fortsetzung streitig ist (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.10.2015, L 6 AS 432/14; Sächsisches LSG, Beschluss vom 01.12.2010, L 7 AS 524/09; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.08.2012, L 11 AL 170/09; a.A. LSG Sachsen Anhalt, Beschluss vom 30.08.2012, L 2 AS 132/12; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.08.2012, L 3 AS 133/12; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.04.2013, L 5 KR 605/12 jeweils zur Klagerücknahmefiktion). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 144 Abs. 1 Satz 1Nr. 1 2. Alt. SGG und aus dem Gesetzeszweck, der auf eine Entlastung der Berufungsgerichte abzielt. Danach bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes, bei einer Klage die einen auf eine Geld-, Dienst- oder Sachleistungen gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 € nicht übersteigt. Entscheidend ist, dass die Berufung einen Rechtsstreit von geringem Wert betrifft. Auf die Klageart kommt es ist für die Anwendung des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 SGG nicht an (BSG, Beschluss vom 06.10.20111, B 9 SB 45/11 B zur Untätigkeitsklage; Leitherer, a. a. O., Rn. 8). Für den gleichgelagerten Fall einer Wiederaufnahme- oder Restitutionsklage wird dies aus § 591 ZPO abgeleitet (vgl. Hannappel in Roos/Wahrendorf, SGG, § 179 Rn. 76 und BSG, Urteil vom 13.04.1967 – 5 RKn 171/64; zur Abweisung einer Klage aus prozessualen Gründen: BSG, Urteil vom 17.03.1972, 7 Rar 6/70).
Nichts anderes kann für den Fall der hier streitigen Rückforderung in Höhe von 17,82 € gelten. Wenn ein Beteiligter die Unwirksamkeit einer Klagerücknahme geltend macht, so hat das Gericht, bei dem der Rechtsstreit anhängig war, das Verfahren fortzuführen. Es hat entweder dahin zu entscheiden, dass es die Erledigung des Rechtsstreits feststellt, oder – wenn es die Erledigung des Rechtsstreits verneint – in der Sache zu entscheiden (Leitherer, a. a. O., § 102 Rn. 12, und zur geltend gemachten Unwirksamkeit eines Prozessvergleichs BSG, Urteil vom 28.11.2002, B 7 AL 26/02 R). Wie beim Streit über die Wirksamkeit des Vergleichs oder des Anerkenntnisses (§ 101 SGG) lebt mit der Entscheidung über die Fortsetzung des Verfahrens die Rechtshängigkeit des ursprünglichen Verfahrens rückwirkend wieder auf (vgl. BSG, Urteil vom 26.07.1989, B 11 RAr 31/88 und vom 28.11.2002, a. a. O.).
Die Rechtsschutzmöglichkeiten sollen im Verfahren um die Fortsetzung eines durch Klagerücknahme beendeten Rechtsstreites im Vergleich zum Hauptsacheverfahren nicht erweitert werden. Andernfalls wäre vom Ausgang der Entscheidung des Gerichts abhängig, ob die Berufung zulässig ist oder nicht. Denn wenn das Sozialgericht auf Antrag des Rf das Verfahren S 15 AS 391/15 fortgesetzt und in diesem Verfahren in der Sache entschieden hätte, wäre die Entscheidung (ebenfalls) nicht berufungsfähig. Prozessuale Rechte des Rf werden dadurch nicht beschnitten.
Das Urteil, mit dem das SG die Erledigung des Rechtsstreits festgestellt hat, ist damit nach den allgemeinen Regeln rechtsmittelfähig (Leitherer, a. a. O.), das bedeutet, dass hinsichtlich des Gegenstandes auf die im Klageverfahrens S 15 AS 391/15 streitige Forderung abzustellen ist.
2. Die Gegenvorstellung ist unbegründet. Dabei kann dahinstehen, ob Gegenvorstellungen im sozialgerichtlichen Verfahren nach Einführung der Anhörungsrüge überhaupt noch statthaft sind (vgl. zur Meinungsübersicht BSG, Beschluss vom 10.07.2013, B 5 R 6/06 B, Juris Rn. 2).
Eine unanfechtbare Entscheidung kann auf einen außerordentlichen Rechtsbehelf hin allenfalls dann geändert werden, wenn diese Entscheidung offensichtlich dem Gesetz widerspricht oder grobes prozessuales Unrecht enthält (BSG, Beschluss vom 24.07.2006, B 1 KR 6/06 BH). Anhaltspunkte dafür liegen nicht vor. Der Rf hat keinen über die Verletzung des rechtlichen Gehörs hinausgehenden Verfahrensfehler gerügt.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Hinsichtlich der Anhörungsrüge ist die Entscheidung über die Kosten im fortgesetzten Beschwerdeverfahren zu treffen.
Dieser Beschluss ist gemäß § 178a Abs. 4 Satz 3, § 177 SGG unanfechtbar.


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