Medizinrecht

Abschiebungsverbot aufgrund psychischer Erkrankung

Aktenzeichen  8 B 19.32560

Datum:
23.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27551
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7, § 60a Abs. 2c
AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3

 

Leitsatz

Angesichts der völlig unzureichenden psychiatrischen Behandlungskapazitäten in Äthiopien kann nicht erwartet werden, dass der Kläger, der an einer posttraumatische Belastungsstörung mit wiederholten bis zu schweren depressiven Episoden erkrankt ist, in seiner individuellen Situation zeitnah die notwendige Behandlung erhalten würde.  (Rn. 19 – 22) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 2 K 18.32253 2019-03-27 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 27. März 2019 wird abgeändert. Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung der Nr. 4 und Aufhebung der Nr. 5 und 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. August 2018 verpflichtet, beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens festzustellen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet.
Nach der im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) hat der Kläger einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens festzustellen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Urteil des Verwaltungsgerichts war insoweit abzuändern (§ 129 VwGO).
1. Die psychische Erkrankung des Klägers erfüllt die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
1.1 Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie der Kläger ausschließlich geltend macht, liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Erforderlich aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – BVerwGE 127, 33 = juris Rn. 15; OVG NW, B.v. 5.5.2017 – 13 A 198/17.A – juris Rn. 8). Von einer abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustandes kann nicht schon dann gesprochen werden, wenn eine Heilung eines Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungsfall nicht zu erwarten ist; eine solche Gefahr ist auch nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur, wenn außergewöhnlich schwere körperliche oder psychische Schäden alsbald nach der Einreise des Betroffenen in den Zielstaat drohen (vgl. BayVGH, B.v. 7.5.2018 – 15 ZB 18.30851 – juris Rn. 13; OVG NW, U.v. 27.1.2015 – 13 A 1201/12.A – juris Rn. 30 ff.).
Die Gefahr der wesentlichen Verschlimmerung einer Erkrankung kann insbesondere auf unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat beruhen. Allerdings ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG). Neben den Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sind auch sämtliche andere zielstaatsbezogene Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung mit einzubeziehen. Eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung kann demnach insbesondere auch dann eintreten, wenn in dem Abschiebezielstaat Behandlungsmöglichkeiten zwar vorhanden, für den betreffenden Ausländer aber aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht erreichbar sind (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2019 – 1 B 85.18 u.a. – juris Rn. 5; U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – DVBl. 2003, 463 = juris Rn. 9; OVG NW, U.v. 11.9.2018 – 5 A 3000/15.A – juris Rn. 31 f.)
1.2 Eine solche Situation liegt hier vor. Beim Kläger wurde erstmals im Jahr 2014 eine PTBS mit schwerer depressiver Episode diagnostiziert (vgl. ärztliches Attest des Bezirksklinikums Regensburg vom 28.8.2014, S. 182 der Bundesamtsakte [BA]). Er befand sich wegen dieses Befunds vom 24. Juli bis 3. August sowie vom 20. August bis 11. September 2014 im Bezirksklinikum in stationärer Behandlung (vgl. Darstellung des Krankheitsverlaufs im Attest des Dr. A. vom 8.4.2015, S. 309 BA). Seit November 2018 wird der Kläger regelmäßig ambulant bei einem Neurologen und Psychiater nervenärztlich behandelt und nimmt das Medikament Fluoxetin 20-0-0 mg ein (vgl. ärztliche Bescheinigung des Dr. B. vom 23.7.2019). Zudem erhält er seit Anfang 2019 eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung (vgl. Stellungnahme der Psychologischen Psychotherapeutin Z. vom 23.7.2019).
1.2.1 Das vorgelegte nervenärztliche Attest des Dr. B. vom 17. September 2018, ergänzt durch die Bescheinigung vom 23. Juli 2019, genügt den höchstrichterlichen Mindestanforderungen, die an eine fachärztliche Bescheinigung zum Vorliegen einer PTBS zu stellen sind (vgl. hierzu grundlegend BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 = juris Rn. 15; B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7). Diese hat der Gesetzgeber inzwischen in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG übernommen. Hiernach soll die ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich medizinische Beurteilung des Krankheitsbilds (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Die Vorschrift ist auch bei Substanziierung eines krankheitsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Asylverfahren anzuwenden (vgl. BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 9 ZB 19.30999 – juris Rn. 6; B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 33056 = juris Rn. 7; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 – 2 L 85/17 – NVwZ-RR 2018, 244 = juris Rn. 5 ff.; OVG RhPf, B.v. 2.10.2018 – 6 A 11552/17 – juris Rn. 14).
Aus den genannten Attesten ergibt sich, dass der behandelnde Neurologe und Psychiater seine Diagnose aufgrund eigener nervenärztlicher Untersuchungen gestellt hat. Die Atteste enthalten Angaben darüber, wie sich die PTBS im konkreten Fall darstellt („mittelschwere bis schwere depressive Symptome, Ängste und Erinnerungsintrusionen“; „durch das psychopathologische Bild bestätigt“). Dass sich der Kläger seit seiner Entlassung aus dem Bezirksklinikum Regensburg im September 2014 offenbar nicht regelmäßig nervenärztlich behandeln ließ, steht dem nicht entgegen. Der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. B. stellt hierzu nachvollziehbar fest, dass für den Kläger im Rahmen des gehemmt-depressiven Syndroms regelmäßige nervenärztliche Kontakte nicht möglich waren. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass der Kläger seine Angstzustände vor Beginn der psychotherapeutischen und medikamentösen Therapie durch Konsum von Beruhigungsmitteln (Lorazepam) und Alkohol zu lindern versuchte. Die o.g. nervenärztlichen Atteste geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit („posttraumatische Belastungsstörung mit wiederholten bis zu schweren depressiven Episoden“; „schwere depressive Stimmungseinbrüche“) und deren Behandlungsbedürftigkeit (ambulante traumazentrierte Psychotherapie, medikamentöse Therapie mit Fluoxetin 20-0-0 mg). Ohne Fortsetzung der Therapie rechnet der behandelnde Facharzt mit einer „raschen Verschlechterung der psychischen Symptomatik“, bei einer Rückkehr in das Heimatland mit einer „Retraumatisierung und massiven Zunahme der Beschwerden“.
Diese nervenärztliche Beurteilung ist für den Senat plausibel. Die ärztlichen Bescheinigungen sind zwar kurz, aber nachvollziehbar und in sich widerspruchsfrei. Auch die Beklagte, die pauschal bestreitet, dass die fachärztliche Bescheinigung den „allgemeinen Anforderungen an ein solches Attest“ entspricht, hat nicht konkret aufgezeigt, welche näher bestimmten Anforderungen sie als nicht erfüllt ansieht.
Im Übrigen wird die Diagnose in den nervenärztlichen Attesten vom 17. September 2018 und 23. Juli 2019 auch von den Stellungnahmen der Psychologischen Psychotherapeutin Z. vom 23. Juli und 30. Januar 2019 und der Psychosozialen Aids-Beratungsstelle Oberpfalz vom 20. September 2018 (unterzeichnet u.a. vom Psychologischen Psychotherapeut D.) gestützt. Die behandelnde Psychotherapeutin Z. berichtet, in Sitzungen mit dem Kläger „dissoziative Zustände“ und „Übererregungszustände als Folge der traumatischen Erlebnisse“ beobachtet zu haben. Im Fall einer zwangsweisen Rückkehr nach Äthiopien rechnet sie mit einem „massiven psychischen Zusammenbruch, in dem auch ein Suizid sehr gut möglich wäre“.
1.2.2 Die ärztlich bescheinigte PTBS stellt auch keine allgemeine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG dar, sodass die Sperrwirkung dieser Vorschrift nicht greift. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, ist in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2019 – 1 B 85.18 u.a. – juris Rn. 5; U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – BVerwGE 127, 33 = juris Rn. 15). Dies gilt auch für das beim Kläger vorliegende psychiatrische Krankheitsbild. Bei Personen, die an einer PTBS leiden, handelt es sich im Hinblick auf die Individualität der Krankheitsentstehung und -ausbildung nicht um eine Bevölkerungsgruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG (vgl. BayVGH, U.v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 – juris Rn. 20).
1.2.3 Ob das beim Kläger vorliegende psychiatrische Krankheitsbild in Äthiopien theoretisch behandelbar ist, kann offenbleiben, weil angesichts der dortigen völlig unzureichenden psychiatrischen Behandlungskapazitäten nicht erwartet werden kann, dass der Kläger in seiner individuellen Situation zeitnah die notwendige Behandlung erhalten würde. Die psychiatrische Versorgung in Äthiopien gilt als einer der am meisten vernachlässigten Bereiche der Gesundheitsversorgung. Trotz der seit 2005 verstärkten Bemühungen, die psychiatrische Versorgung zu verbessern, können noch nicht einmal die Grundbedürfnisse abgedeckt werden. Diejenigen, die Zugang haben, gehören zu den wenigen Glücklichen. Die Anzahl des Personals ist absolut ungenügend, der Zugang zu Medikamenten oft schwierig (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Äthiopien: Psychiatrische Versorgung – Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 5.9.2013 S. 2, 4 und 11).
Im Rahmen der Gefahrenprognose ist für den Senat nicht erkennbar, wie es dem Kläger, der neben seiner psychischen Erkrankung auch HIVpositiv ist, gelingen sollte, nach einem ca. 14-jährigen Aufenthalt im Ausland und ohne familiäre Unterstützung die benötigte psychiatrische Behandlung in Äthiopien zeitnah zu erhalten.
Damit sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall des Klägers gegeben. Es ist zu erwarten, dass sich bei einer Rückkehr nach Äthiopien seine psychische Erkrankung ohne die für ihn dort nicht realistisch zeitnah zu erlangende nervenärztliche und psychotherapeutische Behandlung in einer Weise verschlimmert, die alsbald zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt.
2. Ob sich ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich der Erkrankung des Klägers auch aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ergeben kann, bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung. Der Senat entnimmt dem Berufungsantrag, dass die Feststellung eines krankheitsbezogenen Abschiebungsverbots alternativ und nicht kumulativ auf § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG gestützt wird (vgl. Berufungsbegründung vom 6.8.2019: „§ 60 Abs. 5 / 7 Satz 1 AufenthG“). Im Übrigen könnte sich die Rechtsstellung des Klägers angesichts der obigen Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, nicht verbessern, weshalb das Rechtschutzbedürfnis insoweit fehlte (vgl. hierzu auch BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – BVerwGE 162, 44 = juris Rn. 42 f.).
3. Da die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen und die Abschiebung nicht ungeachtet dessen ausnahmsweise zulässig ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG), waren die Abschiebungsandrohung (Nr. 5 des Bescheids vom 9.8.2018) und die damit gegenstandslos gewordene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 6 des Bescheids) ebenfalls aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Kläger hat auch erstinstanzlich allein die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines krankheitsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 VwGO beantragt (vgl. § 103 Abs. 3 VwGO). Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.


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