Medizinrecht

ADHS keine schwerwiegende Erkrankung im Sinne § 31 Abs. 6 SGB V

Aktenzeichen  S 15 KR 2293/19

Datum:
20.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29832
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 31 Abs. 6, § 35c Abs. 2 S. 1
SGG § 54 Abs. 2, § 183, § 193

 

Leitsatz

Zur schwerwiegenden Erkrankung im Sinne § 31 Abs. 6 SGB V (Rn. 34)
1. Die Erkrankung ADHS ist keine schwerwiegende Erkrankung im Rechtssinne. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung in § 31 Abs. 6 SGB V ist wie in § 35c Abs. 2 S. 1 SGB V zu verstehen. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für eine begründete Einschätzung zur unmöglichen Anwendung einer allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung ist eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter Abwägung der bisherigen Therapieversuche sowie den konkret zu erwartenden Nebenwirkungen der Standard- und der Cannabinoidtherapie erforderlich. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ist möglich, da die Sache keinerlei Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden angehört.
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angegriffenen Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden und beschweren den Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Genehmigung einer Therapie mit Cannabinoiden gegen seine ADHS.
§ 31 Abs. 6 SGB V bestimmt:
Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
1. Die Erkrankung ADHS des Klägers ist keine schwerwiegende Erkrankung im Rechtssinne ist.
Der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung wird in § 31 SGB V nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln nur in „eng begrenzten Ausnahmefällen“ gegeben sein (BT-Drs 18/8965 S. 14 und 23). Da die Versorgung mit Cannabis als Ersatz für eine nicht zur Verfügung stehende oder im Einzelfall nicht zumutbare allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung konzipiert ist, hält es die Kammer für sachgerecht, den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung so wie in § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V zu verstehen. Auch bei dieser Bestimmung geht es um die Verwendung von Arzneimitteln als Alternative zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten, ohne dass bereits ausreichendes wissenschaftliches Erkenntnismaterial in Bezug auf den Nachweis einer Wirksamkeit zur Verfügung steht (vgl Flint in: Hauck/Noftz, § 35c SGB V, Rn 40). Es muss sich daher um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt (BSG 26.09.2006, B 1 KR/06 R, SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, zitiert nach Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017 – L 11 KR 3414/17 ER-B -, Rn. 28, juris).
Diese Voraussetzungen sind beim Krankheitsbild des Klägers zur Überzeugung des Gerichts nicht gegeben. Gegen eine besondere Schwere der Erkrankung spricht bereits die fehlende fachärztliche Versorgung des Klägers. Frau C. ist Allgemeinmedizinerin, die Ritalin (und andere Medikamente gegen ADHS) nicht verordnen darf und mangels Facharztausbildung das Krankheitsbild des Klägers nicht adäquat betreuen kann. Dr. D. hat zwar eine Facharztausbildung, hat den Kläger aber alleine am 20.03.2018 eine Stunde lang gesehen, d.h. alle von ihm erhobenen Befunde und darauf begründeten medizinischen Aussagen basieren auf dieser einen Begegnung. Mangels (aktueller) anderweitiger fachärztlicher Behandlung des Klägers kann sich Dr. D. insoweit auch nicht auf Fremdbefunde stützen. Die psychiatrischen Befunde (und Diagnosen) von Frau C. sind letztlich nur die Wiedergabe anamnestischer Angaben, da Frau C. trotz Nachfrage des Gerichts nicht angegeben hat, eigene psychiatrische Befunde erhoben zu haben. Auch Dr. D. gab in seinem Befundbericht vom 11.05.2020 unter Befunde (Ziffer 3) lediglich die anamnestischen Angaben des Klägers (Verweis auf Ziffer 2) an. Eine Verlaufskontrolle dieser Angaben ist bei einem einmaligen Besuch des Klägers bei Dr. D. entsprechend nicht erfolgt.
Gegen eine besondere Schwere des Krankheitsbilds des Klägers spricht auch die Tatsache, dass der Kläger bei einer behaupteten, medizinisch nicht bestätigten Ritalin-Unverträglichkeit (Frau C. verweist insoweit nur auf Dr. D., der nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme wiederum selbst kein Ritalin verordnet hat) keine Anstrengungen unternommen hat, Alternativ-Präparate (die Beklagte verweist in ihrem Schriftsatz vom 21.04.2020 zu Recht auf drei mögliche Alternativwirkstoffe) zu erhalten. Daher ist die Verneinung einer schwerwiegenden Erkrankung seitens des MDK Bayern im Gutachten vom 27.06.2019 (zur Verwertbarkeit von MDK-Gutachten im gerichtlichen Verfahren vergleiche Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 23. Juli 2015 – L 1 KR 104/15 -, Rn. 31, juris, unter Verweis auf BSG, Beschluss vom 23. Dezember 2004 – B 1 84/04 R – juris Rn. 5) schlüssig und nachvollziehbar; die Einholung eines Sachverständigengutachtens ohne tragfähige psychiatrische Befunde ist insoweit nicht veranlasst.
2. Darüber hinaus ist die erste Fallalternative (Fehlen einer allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung) nicht einschlägig.
Die Beklagte hat zutreffend dargelegt, dass vier weitere Wirkstoffe neben Ritalin zur Verfügung stehen würden. Gleichwohl ist seit Jahren keine medikamentöse Standardtherapie mehr durchgeführt worden (vgl. Arzneimittelkonto, Bl. 72 der Gerichtsakte). Im Zeitraum zwischen 2012 und 2019 sind nahezu keine ambulanten Behandlungen auf neurologischem oder psychiatrischem Fachgebiet erfolgt (vgl. Bl. 73 der Gerichtsakte). Vielmehr ist es so, dass der Kläger eine solche psychiatrische Fachbehandlung ablehnt und einseitig eine Behandlung mit Cannabinoiden anstrebt. Dies ergibt sich aus der Aussage von Frau C., das der Kläger eine Behandlung mit Antidepressiva ablehnen würde, sie ihm gleichwohl aber seit geraumer Zeit auf Privatrezept Cannabinoide verordnen würde.
3. Es liegt keine begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten vor, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann.
Erforderlich ist insoweit eine Beurteilung des behandelnden Arztes unter Auseinandersetzung mit den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter Abwägung der bisherigen Therapieversuche, konkret zu erwartenden Nebenwirkungen der Standardtherapie und Nebenwirkungen der Cannabinoidtherapie (BT-Drucks. 18/10902 S. 19; BT-Drucks. 18/8965 S. 24; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.10.2018 – L 11 KR 3114/18 ER-B -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Januar 2019 – L 11 KR 442/18 B ER -, Rn. 28, juris). Diesem Maßstab hält der von Frau C. vorgelegte Arztfragebogen (Bl.1-2 der Verwaltungsakte) nicht stand. Eine Abwägung der Cannabis-Behandlung mit bisherigen Therapieversuchen erfolgte überhaupt nicht. Zwar wurde dargelegt, dass die Therapie mit Ritalin (bis Dezember 1997) eine gute Symptomkontrolle zur Folge gehabt habe, aber als Nebenwirkungen Schlaf- und Appetitlosigkeit resultiert hätten. Letzteres kann Frau C. aber nur anamnestisch vom Kläger erfahren haben, da dieser 1997 noch nicht bei ihr in Behandlung war. Auf etwaige zu erwartende Nebenwirkungen einer Cannabis-Therapie geht Frau C. gar nicht ein. Auch zeigt sich, dass Frau C. – als Nicht-Fachärztin – gar nicht bewusst ist, dass noch andere Standardtherapie-Möglichkeiten (andere Wirkstoffe, Psychotherapie etc.) zur Verfügung stehen würden. Demgemäß wird nur ausgeführt, dass „sie“ (die allgemeine Standard-Behandlungsoption) vom Kläger aufgrund der Nebenwirkungen nicht vertragen werde. Hierbei bezieht sich die Ärztin aber nur auf die 1997 (!) beendete Therapie mit Ritalin. Auf individuelle Verhältnisse des Patienten, u.a. auch auf mögliche Sucht-Gefahren, wird gar nicht eingegangen. Schließlich wird dargelegt, dass die Behandlung mit Cannabinoiden nicht nur gegen ADHS, sondern auch gegen Migräne und Angst und Depression (gemischt) helfen soll. Auf die beiden letzten Krankheitsbilder wird aber weder bzgl. der bisherigen Therapie noch bzgl. etwaiger Nebenwirkungen einer Cannabis-Behandlung eingegangen.
Auch die nachgereichte „fachärztliche Stellungnahme“ von Dr. D. vom 26.09.2018 führt nicht zu einer anderen Bewertung, da auch Dr. D. nicht substantiiert auf bisherige Behandlungsversuche (bzgl. aller drei Störungen, gegen die Cannabis helfen soll) eingeht. Dies ist auch folgerichtig, da Dr. D. den Kläger nur von einer einzigen Behandlung her kennt.
Nach allem ergibt sich das Bild eines patientengetriebenen Wunsches nach einer Cannabis-Behandlung ohne ausreichende (fach-) ärztliche Begleitung und Absicherung.
Eine „begründete Einschätzung“ kann nur im Verwaltungsverfahren vorgelegt werden und nicht durch nachgängige Ermittlungen eines Gerichts nachgeholt oder gar substituiert werden kann. Insoweit gilt, dass das Gericht nicht und insbesondere nicht durch eine aufwändige Beweisaufnahme zu klären hat, ob die Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutrifft (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Januar 2019 – L 11 KR 442/18 B ER -, Rn. 34, juris)
Die Klage war daher abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.


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