Medizinrecht

Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung auch während des Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen

Aktenzeichen  S 20 SO 147/18

Datum:
29.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 20780
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XII § 41 Abs. 3, § 45 S. 1, § 45 S. 3 Nr. 3 Alt. 1
SGB VI § 43 Abs. 2
SGB II § 44a
GG Art. 1, Art. 3

 

Leitsatz

Die Vorschrift des § 45 S. 3 Nr. 3 Alt. 1 SGB XII ist in verfassungskonformer Weise dahingehend auszulegen, dass sie das Vorliegen einer dauerhaften, vollen Erwerbsminderung zumindest widerleglich vermutet. (Rn. 36 – 37, Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2018 verurteilt, der Klägerin ab dem 01.09.2017 bis vorerst 30.11.2019 laufende Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII dem Grunde nach in gesetzlicher Höhe zu gewähren und zu bezahlen.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.
III. Gerichtskosten werden für das Verfahren nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
I.
Die statthafte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage ist form- und fristgerecht zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Nürnberg erhoben worden. Sie ist zulässig.
II.
Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 20.07.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Zu Unrecht hat die Beklagte der Klägerin die Gewährung laufender Leistungen nach dem Vierten Kapitel bereits dem Grunde nach abgelehnt. Vielmehr hat die Klägerin dem Grunde nach während des Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs der WfbM Anspruch auf laufende Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII, weil sie als dauerhaft voll erwerbsgemindert gilt.
Die Klägerin hat gemäß § 8 Nr. 2, § 17 Abs. 1 § 19 Abs. 2, §§ 41 ff SGB XII SGB XII dem Grunde nach einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen gegen die Beklagte.
Die Beklagte ist für die Leistungserbringung zuständiger Träger nach §§ 97 Abs. 1, 98 Abs. 2 SGB XII i.V. m. Art. 81ff des Bayerischen Gesetzes für die Ausführung der Sozialgesetze (AGSG).
Die Klägerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet der Beklagten, ist älter als 18 Jahre und kann ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen decken.
Die Klägerin ist auch zur Überzeugung der Kammer dauerhaft voll erwerbsgemindert im Sinne des § 41 Abs. 3 SGB XII i.V. m. § 43 Abs. 2 SGB VI. Dies ergibt sich entgegen der Auffassung der Beklagten und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bereits aus der zumindest widerleglichen Vermutung des § 45 S. 3 Nr. 3 1. Alt. SGB XII.
Die Kammer folgt insoweit nach eigener Prüfung den Entscheidungen des SG Augsburg (Urteil vom 16.02.2018, Az.: S 8 SO 143/17), des Hessischen LSG (Beschluss vom 28.06.2018, Az.: L 4 SO 83/18 ER) sowie des SG A-Stadt (Urteil vom 28.08.2018, Az.: S 8 SO 50/18). Auf die in diesen Entscheidungen vertretenen Argumente, denen sich die Kammer vollinhaltlich anschließt, wird zur Vermeidung von Wiederholungen ausdrücklich Bezug genommen.
Lediglich ergänzend oder präzisierend ist folgendes aus Sicht der Kammer anzumerken:
§ 45 S. 1 SGB XII schränkt die Amtsermittlungspflicht des § 20 SGB X dahingehend ein, dass der Grundsicherungsträger, dass dieser bei wahrscheinlichem Vorliegen von voller Erwerbsminderung im Sinne des § 41 Abs. 3 SGB XII i.V. m. § 43 Abs. 2 SGB VI dies nicht selbst zu prüfen hat, sondern hierfür den zuständigen Rentenversicherungsträger mit der Bitte um Prüfung zu ersuchen hat. An dieses Ergebnis ist der Grundsicherungsträger gebunden.
Vorliegend sprechen aus Sicht der Kammer für das wahrscheinliche Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung neben dem GdB und den Merkzeichen auch die Einschätzung des ärztlichen Dienstes der BA. Vorliegend hätte daher die Beklagte an sich Anlass und Pflicht, eine Prüfung durch den Rentenversicherungsträger mittels eines entsprechenden Ersuchens in die Wege zu leiten.
Verbietet nun aber § 45 S. 3 Nr. 3 1. Alt. SGB XII dem Grundsicherungsträger bei einer solchen Wahrscheinlichkeit der Erwerbsminderung bei potenziellen Leistungsberechtigten, die sich im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM befinden, die Vorlage an den Rentenversicherungsträger, so führt dies dazu, dass er weder selbst, noch der Rentenversicherungsträger das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII prüfen darf. Mit anderen Worten bliebe dem Leistungsberechtigten nur übrig, sich wegen eines möglichen Anspruchs auf Sozialgeld an den SGB-II-Leistungsträger zu wenden, der sodann im Rahmen des § 44a SGB II zunächst selbst über die Erwerbsfähigkeit zu entscheiden hätte und nur im Widerspruchsfalle den Vorgang dem Rentenversicherungsträger vorzulegen hätte.
Scheitert, wie vorliegend, eine Leistungsgewährung nach dem SGB II jedoch bereits an anderen Gründen, wie beispielsweise am zu hohem Einkommen der SGB-II-Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB II, so besteht jedoch schon aus diesem Grunde für den SGB-II-Leistungsträger überhaupt kein Anlass mehr für eine Prüfung nach § 44a SGB II.
Dies würde aber letztlich bedeuten, dass für die Dauer des Durchlaufens des Eingangs- und Berufsbildungsbereiches eine Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII durch die Verwaltung ganz entfallen kann und lediglich erstmalig durch die Sozialgerichte erfolgen würde.
Diese Aufgabe der Verwaltung letztlich auf die Rechtsprechung zu verlagern, begegnet – wie auch das SG Augsburg zutreffend festgestellt hat – erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf die Gewaltenteilung und die Verteilung der Ermittlungslasten und der damit verbundenen Ausgaben zwischen dem Bund für die Bundesauftragsverwaltung und den Ländern als Trägern der Tatsacheninstanzen der Sozialgerichtsbarkeit.
Darüber hinaus könnte dies auch dazu führen, dass ein nach dem Vierten Kapitel SGB XII tatsächlich Leistungsberechtigter jahrelang von an sich ihm zustehenden Leistungen ausgeschlossen sein könnte.
Denn die Teilnahme am Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM schließt bei aller Verfahrensoffenheit aber auch nicht aus, dass eine dauerhafte, volle Erwerbsminderung gegeben sein könnte.
Das Argument der Prüfung nach § 44a SGB II greift bereits deswegen zu kurz, als dortige Leistungen schon aus anderen Gründen scheitern können, die einer Leistung nach dem Vierten Kapitel SGB XII aber nicht im Wege stünden. Gegenüber § 9 Abs. 2 SGB II und § 27 Abs. 2 Satz 3 und § 39 SGB XII privilegiert die Vorschrift des § 43 Abs. 5 SGB XII Grundsicherungsberechtigte nicht unerheblich, so dass zwar vielleicht eine Leistung nach dem SGB II oder nach dem Dritten Kapitel SGB XII, nicht jedoch nach dem Vierten Kapitel SGB XII ausgeschlossen sein könnte nach materiellem Recht.
Würde man § 45 S. 3 Nr. 3 1. Alt. daher in der von der Beklagten vertretenen Weise auslegen, so dürfte dies aus Sicht der Kammer nicht nur einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG darstellen, sondern im Hinblick auf den existenzsichernden Charakter der Leistungen auch gegen Art. 1 GG, gegen die Gewaltenteilung und gegen die Verteilung der Finanzierungslasten zwischen Bund und Ländern.
Hiergegen spricht einzig die systematische Stellung der Vorschrift in den Verfahrensvorschriften, mit denen der Kreis der Berechtigten nicht hätte erweitert werden sollen. Dieses Argument vermag aber die verfassungsrechtlichen Bedenken der Kammer nicht aufzuwiegen, zumal andererseits es systematisch aber auch ungewöhnlich wäre, dass Verfahrensvorschriften den Personenkreis der an sich nach § 41 Abs. 3 SGB XII Berechtigten materiell einschränken würde, zumal bei existenzsichernden Leistungen. Wäre insbesondere nur die von der Beklagten und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales vertretene Auslegung des § 45 S. 3 Nr. 3 1. Alt. SGB XII möglich, so wäre die Vorschrift aus Sicht der Kammer aus den verschiedenen dargestellten Gründen wohl verfassungswidrig, so dass eine Richtervorlage nach Art. 100 GG an das Bundesverfassungsgericht erfolgen müsste.
Vor der Kassation einer Vorschrift ist aber stets zu prüfen, ob eine Vorschrift verfassungskonform ausgelegt werden kann.
Dies ist nach Auffassung der Kammer der Fall, so dass es auch keiner Vorlage an das Bundesverfassungsgericht bedarf.
Daher ist die Vorschrift in verfassungskonformer Weise dahingehend auszulegen, dass sie das Vorliegen einer dauerhaften, vollen Erwerbsminderung zumindest widerleglich vermutet. Dies ist aus teleologischen, systematischen und verfassungsrechtlichen Gründen sowie im Hinblick auf die Gesetzgebungsgeschichte möglich und aus Sicht der Kammer auch geboten.
Auch die Argumentation der Beklagten in der mündlichen Verhandlung, eine widerlegliche Vermutung oder Fiktion der dauerhaften vollen Erwerbsminderung würde dem ergebnisoffenen Charakter des Eingangs- und Berufsbildungsbereiches widersprechen und deren Teilnehmer sogar stigmatisieren oder einseitig festlegen, worauf auch die Gesetzesbegründung hindeute, wonach die Dauerhaftigkeit einer Erwerbsminderung erst nach durchlaufen der beiden Bereiche festgestellt werden könne, verkennt, dass stets eine Durchlässigkeit zwischen dem allgemeinen Arbeitsmarkt und einer WfbM auch im Arbeitsbereich dem Grunde nach besteht, obwohl dort unstreitig grundsätzlich von einer Dauerhaftigkeit der Erwerbsminderung ausgegangen wird, und verkennt weiter, dass auch die Feststellung einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI durch den Rentenversicherungsträger oder den Werkstattausschuss keineswegs apodiktisch und unwiderruflich ist.
Bei der Frage nach der Dauerhaftigkeit einer Erwerbsminderung ist stets prognostisch ex ante danach zu fragen, ob eine Besserung auf unabsehbare Zeit, das heißt, innerhalb von etwa zwei Jahren unwahrscheinlich ist oder nicht. Es handelt sich aber in jedem Falle um eine reine Prognoseeinschätzung, die stets nach der Rechtsprechung des BSG einer nachträglichen Kontrolle unterliegt, letztlich also einer ex post durchgeführten Kontrolle. So kann sich beispielsweise ergeben, dass eine Dauerhaftigkeit der Erwerbsminderung prognostisch abgelehnt wird, weil noch wahrscheinliche Besserungsaussichten angenommen werden, die sich retrospektiv aber als zu optimistisch erwiesen haben, so dass sich im Rahmen der ex post durchgeführten Überprüfung in einem gerichtlichen Rentenklageverfahren durchaus rückwirkend die Dauerhaftigkeit der Erwerbsminderung festgestellt wird mit der Folge eines früheren Leistungsbeginns der dann nicht mehr zu befristenden Erwerbsminderungsrente (vgl. § 101 Abs. 1 SGB VI). Gleiches gilt aber auch für den umgekehrten Fall: Stellt der Rentenversicherungsträger zu Unrecht die Dauerhaftigkeit der Erwerbsminderung fest, so kann dies immerhin jederzeit für die Zukunft nach den §§ 45 oder 48 SGB X korrigiert werden. Das aber bedeutet, dass weder die Feststellung der Dauerhaftigkeit noch der Nichtdauerhaftigkeit der Erwerbsminderung unverrückbar feststeht, sondern sich stets Korrekturen ergeben können, so dass auch bei Feststellung einer dauerhaften Erwerbsminderung nicht von einer dauerhaften Festlegung oder Stigmatisierung von Menschen die Rede sein kann oder ein Widerspruch zum ergebnisoffenen Charakter von Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM besteht.
Die Kammer ist daher davon überzeugt, dass die Klägerin aufgrund der nicht widerlegten Vermutung der dauerhaften, vollen Erwerbsminderung der Klägerin gemäß § 45 S. 3 Nr. 3 1. Alt. SGB XII die Leistungsvoraussetzungen nach §§ 41 ff SGB XII dem Grunde nach erfüllt und somit auch grundsätzlich einen Anspruch auf laufende Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII hat, während sie den Eingangs- und Berufsbildungsbereich der WfbM durchläuft.
Sie hat daher vom 01.09.2017 bis vorerst 30.11.2019 Anspruch auf Grundsicherungsleistungen dem Grunde nach. Der Ablehnungsbescheid ist daher aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, zumindest für den vorstehend genannten Zeitraum Grundsicherungsleistungen dem Grunde nach zu gewähren und in gesetzlicher Höhe zu bezahlen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193 und 183 SGG und § 64 SGB X.


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