Medizinrecht

Corona-Pandemie, Betriebsschließung von Diskotheken

Aktenzeichen  25 NE 21.2227

Datum:
30.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26088
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6
BayIfSMV § 13 Abs. 4 13.

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin betreibt in Bayern Diskotheken und Clubs und beantragt, § 13 Abs. 4 der 13. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (13. BayIfSMV vom 5. Juni 2021, BayMBl. 2021 Nr. 384) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 20. August 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 584), die mit Ablauf des 10. September 2021 außer Kraft tritt (§ 29 13. BayIfSMV), durch Erlass einer einstweiligen Anordnung vorläufig außer Vollzug zu setzen, soweit Clubs und Diskotheken ohne Rücksicht auf Zugangsbeschränkungen für Geimpfte, Genesene oder Getestete (sog. Drei-G-Regel) geschlossen sind.
Die Regelung hat folgenden Wortlaut:
“§ 13 Freizeiteinrichtungen (…)
(4) Bordellbetriebe, Clubs, Diskotheken, sonstige Vergnügungsstätten und vergleichbare Freizeiteinrichtungen sind geschlossen.”
Zur Begründung des Antrags trägt die Antragstellerin im Wesentlichen vor, durch die angegriffene Norm in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 GG), ihrer Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) und ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit in Form der freien wirtschaftlichen Betätigung (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt zu sein. Zur Eindämmung der Infektionsrisiken sei es ausreichend, wenn ein angemessenes Hygienekonzept vorgelegt und der Zugang nur Personen gestattet werde, die geimpft, genesen oder getestet im Sinne des § 4 Nrn. 1 und 2 13. BayIfSMV seien. Die angegriffene Regelung sei nicht länger von der grundlegenden Ermächtigungsnorm in § 28a IfSG gedeckt. Die Sieben-Tage-Inzidenz in Bayern sei in den letzten Tagen zwar wieder erheblich gestiegen, liege aber in vielen Landkreisen noch unter 35. Nach der Rechtsprechung des OVG Niedersachsen (B.v. 3.8.2021 – 13 MN 352/21) sei es nicht gerechtfertigt, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Inzidenz ganze Branchen pauschal zu schließen. Auf infektionsschutzrechtliche Gründe könnte die Regelung nicht gestützt werden, da ein überwiegender Teil der Bevölkerung geimpft oder genesen sei. Bei einer Zugangsbeschränkung nach der sog. Drei-G-Regel drohe letztlich nur die Weiterverbreitung unter Menschen, die kein erhebliches Risiko einer Erkrankung mit schwerem Verlauf hätten. Vor dem Hintergrund der noch niedrigen Impfquote bei jüngeren Menschen und der grundsätzlichen Infizierbarkeit eines getesteten Gastes sei es denkbar, die Öffnung von Diskotheken und Clubs auf geimpfte und genesene Menschen zu beschränken. Die angegriffene Regelung sei unverhältnismäßig. Die seit über 17 Monaten bestehende Schließung stelle auch in zeitlicher Hinsicht einen äußerst gravierenden Grundrechtseingriff dar. Bei unbestimmter Fortdauer der Schließung drohten der Antragstellerin trotz staatlicher finanzieller Hilfen langfristige existentielle Nachteile. Zudem verstoße die Regelung in Anbetracht der weitgehenden Lockerungen durch die Fünfte Änderungsverordnung vom 20. August 2021 gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Insbesondere im Bereich großer Sportveranstaltungen habe der Verordnungsgeber inzwischen Zusammenkünfte von Menschen erlaubt, obwohl diese durchaus in beengter Weise zusammenkommen. Zudem sei es unvermeidlich, dass die Stadion- oder Hallenbesucher bei lautstarken Beifallsbekundungen (Fangesänge, Torjubel) besonders stark etwaige Viren verbreiten könnten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung des § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV, soweit Clubs und Diskotheken ohne Rücksicht auf Zugangsbeschränkungen für Geimpfte, Genesene oder Getestete (sog. Drei-G-Regel) geschlossen sind, hat keinen Erfolg.
A. Der Antrag ist bereits unzulässig, weil er auf eine Normergänzung zielt, die nicht Gegenstand eines (vorläufigen) Normenkontrollverfahrens sein kann (BayVGH, B.v. 8.6.2020 – 20 NE 20.1316 – BeckRS 2020, 12008 – Rn. 14 m.w.N.).
Mit ihrem Antrag geht es der Antragstellerin tatsächlich darum, dass die angegriffene Norm um eine Regelung ergänzt wird (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.2015 – 4 CN 2.14 – BVerwGE 152, 55 – juris Rn. 6). § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO beschränkt den Ausspruch auf die Erklärung der (Teil)-Unwirksamkeit, mithin auf die (Teil)-Kassation. Eine Ergänzung des Tenors über die Feststellung der Unwirksamkeit hinaus ist nicht möglich (vgl. BVerwG, B.v. 14.7.2011 – 4 BN 8.11 – juris Rn. 5). Es ist nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung grundsätzlich dem Normgeber vorbehalten, welche Konsequenzen er aus der gerichtlich festgestellten Fehlerhaftigkeit zieht. Entsprechendes gilt für den Eilantrag gemäß § 47 Abs. 6 VwGO. Ein derartiger Eilantrag, der über die Außervollzugsetzung hinausgeht, ist unstatthaft (vgl. NdsOVG, B.v. 14.5.2020 – 13 MN 156/20 – juris Rn. 5 f.; B.v. 28.4.2020 – 13 MN 116/20 – juris Rn. 7; B.v. 27.4.2020 – 13 MN 107/20 – juris Rn. 4 f.; ThürOVG, B.v. 12.5.2020 – 3 EN 287/20 – juris Rn. 6 f.).
B. Selbst wenn man jedoch den Antrag dahingehend auslegen wollte, dass § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV insgesamt vorläufig außer Vollzug gesetzt werden solle (§ 88 VwGO), ist der Antrag in der Sache unbegründet.
Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache gegen § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV hat unter Anwendung des geltenden Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO bei summarischer Prüfung keine durchgreifende Aussicht auf Erfolg.
Zur Begründung kann zunächst auf die bisherige Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs verwiesen werden. Der Senat hat sich zuletzt in seinem Beschluss vom 5. Juli 2021 (25 NE 21.1719 – juris), auf welchen Bezug genommen wird, mit der Untersagung des Betriebs von Diskotheken und Clubs auseinandergesetzt. Ergänzend wird folgendes ausgeführt:
I. Die fortdauernde Betriebsschließung von Diskotheken in § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV ist voraussichtlich rechtmäßig, weil sie mit der Ermächtigungsgrundlage in §§ 32 Satz 1, 28a Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 13, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Einklang steht (1.) und sich bei summarischer Prüfung nicht als unverhältnismäßig (2.) oder gleichheitswidrig (3.) erweist.
1. Im Zeitpunkt des Erlasses der 13. BayIfSMV am 5. Juni 2021 wie auch der Entscheidung des Senats liegen die gesetzlichen Voraussetzungen des § 28a Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 13, Abs. 3 IfSG immer noch vor.
a) Der Deutsche Bundestag hat die in § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG vorgesehene Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite mit Blick auf das Corona-Virus SARS-CoV-2 erstmals am 25. März 2020 getroffen (BT-PlPr 19/154, 19169C). Er hat diese Feststellung seither auch nicht – wie in § 5 Abs. 1 IfSG vorgesehen – aufgehoben und diese Aufhebung im Bundesgesetzblatt bekannt gemacht, sondern am 18. November 2020, am 4. März 2021, am 11. Juni 2021 und zuletzt am 25. August 2021 den Fortbestand einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG für weitere drei Monate festgestellt (vgl. BT-Drs. 19/24387; Annahme des Entschließungsantrags BT-Drs. 19/27196; Annahme des Entschließungsantrags BT-Drs. 19/30398; Annahme des Entschließungsantrags BT-Drs. 19/32091, BT-PlPr 19/238 S. 21076C).
b) Die vom Verordnungsgeber getroffene Gefährdungsprognose, dass die Schließung von Diskotheken weiterhin eine notwendige Schutzmaßnahme darstellt, ist auch gegenwärtig nicht zu beanstanden.
Nach der aktuellen Risikobewertung des RKI (v. 17.8.2021, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html), dessen Expertise der Gesetzgeber im Bereich des Infektionsschutzes mit § 4 IfSG besonderes Gewicht beimessen darf (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 – 1 BvQ 28/20 – NJW 2020, 1427 – juris Rn. 13; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 – Vf. 6-VII-20 – juris Rn. 16), wird die Gefährdung für die Gesundheit der nicht oder nur einmal geimpften Bevölkerung in Deutschland, insbesondere aufgrund der Verbreitung einiger besorgniserregender SARS-CoV-2 Varianten, insgesamt weiterhin als hoch, für vollständig Geimpfte als moderat eingeschätzt (vgl. wöchentlicher Lagebericht des RKI v. 26.8.2021 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte /Wochenbericht/Wochenbericht_2021-08-26.pdf? blob=publicationFile).
Die 7-Tage-Inzidenz nimmt seit Anfang Juli 2021 deutlich zu und steigt damit wesentlich früher und schneller als im vergangenen Jahr, als vergleichbare Inzidenzen erst im Oktober erreicht wurden. Auch der Anteil der positiv getesteten Proben unter den in den Laboren durchgeführten PCR-Tests steigt weiter an und lag in der 33. Kalenderwoche (KW) 2021 bei knapp 8% (32. KW: 6%). Die vierte Welle nimmt insbesondere durch Infektionen innerhalb der jungen erwachsenen Bevölkerung weiter an Fahrt auf und breitet sich zunehmend auch in höhere Altersgruppen aus. Auch die Zahl der hospitalisierten Fälle ist weiter angestiegen. Die meisten hospitalisierten Fälle wurden in der Altersgruppe der 35- bis 59-Jährigen übermittelt, gefolgt von der Altersgruppe der 15- bis 34-Jährigen und der Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen. Der Anteil der Patienten mit COVID-19-Diagnose an hospitalisierten und intensivpflichtigen Fällen mit schweren Atemwegsinfektionen blieb in der 33. KW im Vergleich zur Vorwoche stabil. Die Gesundheitsämter können nicht mehr alle Infektionsketten nachvollziehen (vgl. wöchentlicher Lagebericht des RKI vom 26.8.2021, a.a.O.).
Die landesweite 7-Tage-Inzidenz liegt in Bayern aktuell bei 70,7 und in der Stadt, in der die Antragstellerin ihre Diskotheken und Clubs betreibt bei 105,6 (Stand: 30.8.2021; https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4). Der 7-Tage-R-Wert in Bayern liegt bei 1,2 (Stand 27.8.2021; https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/index.htm). Hohe 7-Tage-Inzidenzen (>100 pro 100.000 Einwohner) wurden bundesweit in der Altersgruppe der 10- bis 24-Jährigen beobachtet. In den Altersgruppen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind auch die Positivenanteile mit Abstand am höchsten (vgl. wöchentlicher Lagebericht des RKI a.a.O.). Die Inzidenz in der Altersgruppe der Jugendlichen von 15 bis 19 Jahren und jungen Erwachsenen von 20 bis 34 Jahren, die einen wesentlichen Anteil der Zielgruppe von Diskotheken bilden, liegt auch in Bayern erheblich über dem Durchschnitt (https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/infektionsschutz/infektionskrankheiten_a_z/coronavirus/karte_coronavirus/index.htm#inzidenz_alter).
Bei der überwiegenden Zahl der Fälle verläuft die Erkrankung mild. Die Wahrscheinlichkeit für schwere und auch tödliche Krankheitsverläufe steigt mit zunehmendem Alter und bei bestehenden Vorerkrankungen. Internationale Studien weisen darauf hin, dass die inzwischen in Deutschland dominierende Delta-Variante (VOC B.1.617.2) zu schwereren Krankheitsverläufen verglichen mit früher dominierenden Varianten mit mehr Hospitalisierungen und häufiger zum Tod führen kann. Das individuelle Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs kann aber anhand der epidemiologischen/statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren oder zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen können auch nach leichten Verläufen auftreten (RKI, Risikobewertung v. 17.8.2021, a.a.O.). In Bayern haben bis zum 29. August 2021 rund 62,0% der Bevölkerung eine Erstimpfung und 58,5% den vollständigen Impfschutz erhalten, wobei letztere Quote in der Altersgruppe der 18 bis 59 Jährigen bei 63,1% liegt (Impfmonitoring des RKI, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Impfquoten-Tab.html). Damit liegt die Impfquote noch deutlich von einer sog. Herdenimmunität entfernt (rund 85% vollständig Geimpfte in der Altersgruppe der 12 bis 59 Jährigen sowie von 90% für Personen ab dem Alter von 60 Jahren, vgl. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/27_21.pdf? blob=publicationFile).
Das RKI empfiehlt weiterhin dringend, unabhängig vom Impf-, Genesenen- oder Teststatus das grundsätzliche Infektionsrisiko und das eigene unbeabsichtigte Verbreitungspotential von SARS-CoV-2 zu reduzieren. Deshalb sollten alle Menschen weiterhin die AHA+L-Regeln einhalten, unnötige enge Kontakte reduzieren und Situationen, bei denen sogenannte Super-Spreading-Events auftreten können, möglichst meiden (wöchentlicher Lagebericht des RKI v. 26.8.2021, a.a.O.).
Vor diesem Hintergrund, namentlich der drohenden weiteren Ausbreitung von leichter übertragbaren und wohl schwerere Krankheitsverläufe verursachenden Varianten, einer steigenden 7-Tages-Inzidenz, dem Beginn der vierten Welle und des insbesondere in der Gruppe der Jugendlichen, aber auch unter den jungen Erwachsenen mit Vorerkrankungen noch nicht hinreichenden Impffortschritts, spricht aus ex-ante-Sicht vieles dafür, dass das Betriebsverbot von Diskotheken eine weiterhin notwendige Schutzmaßnahme zur Kontrolle des Infektionsgeschehens im Sinne des § 28a Abs. 3 Satz 7 IfSG darstellt. Die Wiederaufnahme des Betriebs von Diskotheken geht epidemiologisch mit einer gesteigerten Gefahrensituation einher. Die Betriebsuntersagung soll dazu beitragen, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus unter den jungen Erwachsenen sowie deren Familien zumindest zu reduzieren und hierdurch die Virusausbreitung in der Bevölkerung insgesamt (bis zu einer hinreichenden Immunisierung der Bevölkerung durch Impfung) einzudämmen. Damit wiederum soll die mit einer unkontrollierten Infektionsausbreitung einhergehende Gefahr einer Erkrankung vieler Menschen mit teilweise schwerwiegenden und tödlichen Krankheitsverläufen vermieden werden. Angesichts der Risikobewertung des RKI lässt weder der Umstand, dass die Infektionszahlen regional unterschiedlich hoch sind noch der Hinweis darauf, dass gegenwärtig Intensivbetten in einem erheblichen Umfang frei sind, auf eine Verminderung oder gar einen Wegfall der Gefährdungssituation schließen (vgl. OVG NW, B.v. 20.8.2020 – 13 B 1197/20.NE – juris Rn 47; B.v. 27.8.2020 – 13 B 1220/20.NE – juris).
Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist die Regelung des § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV damit von der grundlegenden Ermächtigungsnorm in § 28a IfSG gedeckt. Der von der Antragstellerin zitierte Beschluss des OVG Niedersachsen vom 3. August 2021 (13 MN 352/21 – juris), mit dem die Anordnung in § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in der Fassung vom 27. Juli 2021 zur Schließung von Diskotheken, Clubs und ähnlichen Einrichtungen bei einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 10 vorläufig außer Vollzug gesetzt wurde, weil nach § 28a Abs. 3 Satz 7 IfSG unterhalb einer 7-Tages-Inzidenz von 35 insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht kämen, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützten, worunter lediglich Einschränkungen unterhalb flächendeckender Betriebsverbote für einzelne Branchen fielen, kann auf das hiesige Verfahren schon deshalb nicht übertragen werden, weil der Verordnungsgeber die 13. BayIfSMV in Kenntnis der Tatsache, dass die 7-Tage-Inzidenz in Bayern seit dem 19. August 2021 über 35 liegt (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Fall-zahlen_Inzidenz_aktualisiert.html), in ihrer derzeitigen Fassung erlassen hat (vgl. Begründung der Verordnung zur Änderung der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 20. August 2021 – BayMBl. 2021 Nr. 585 S. 1) Darauf, dass in wenigen anderen bayerischen Landkreisen die 7-Tages-Inzidenz unter 35 liegt, kommt es hingegen nicht an.
2. Die angegriffenen Maßnahmen sind bei summarischer Prüfung gegenwärtig auch verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und angemessen.
a) Die getroffenen Anordnungen dienen dem legitimen, der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates für das Leben und die körperliche Unversehrtheit entsprechenden Ziel, der weiteren Ausbreitung von Infektionen mit dem Corona-Virus entgegenzuwirken (vgl. BayVerfGH, E.v. 14.9.2020 – Vf. 70-IVa-20 – juris Rn. 24). Die Schließung von Diskotheken ist auch geeignet, menschliche Kontakte zu reduzieren und damit zu einer Verlangsamung des Infektionsgeschehens beizutragen. Der Besuch von Diskotheken dient in besonderer Weise dem Austausch und der Kommunikation zwischen den Besuchern, aber auch dem Tanzen und Feiern der Gäste. Hierbei kommt es in der Regel zu Menschenansammlungen. Immer dann, wenn Menschen – vor allem in geschlossenen Räumen – aufeinandertreffen und sich austauschen, ist das Risiko einer Ansteckung besonders groß (vgl. BT-Drs. 19/23944, S. 31 zu Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen).
b) Als milderes Mittel kommt aber auch die Öffnung der Diskotheken nur für asymptomatische Personen mit einem Impf- oder Genesenennachweis bzw. für negativ Getestete nicht zwingend in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2021 – 25 NE 21.1719 – juris Rn. 30). Die Antragstellerin geht unzutreffend davon aus, dass bei einer Zugangsbeschränkung nach der sog. 3G-Regel letztlich nur die Weiterverbreitung des Coronavirus unter Menschen drohe, die kein erhebliches Risiko einer Erkrankung mit schwerem Verlauf hätten. Denn ein negativ getesteter Gast kann sich – wie die Antragstellerin selbst einräumt – durchaus infizieren und schwer an SARS-CoV-2 erkranken. Gleiches gilt auch für eine Beschränkung auf die erst genannten Personengruppen. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der Wissenschaft hat die Impfung zwar eine hohe Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2-Infektionen, Krankheitslast und Sterbefälle, führt aber nicht zu einer sog. “sterilen Immunität”. Dies bedeutet, dass sich auch geimpfte Personen mit dem SARS-CoV-2-Virus infizieren, die Infektion weitergeben und auch an Covid-19 erkranken können (VGH BW, B.v. 12.8.2021 – 1 S 2315/21 – juris Rn. 42). Nach Auffassung des Robert Koch-Instituts (RKI, FAQ: Können Personen, die vollständig geimpft sind, das Virus weiterhin übertragen? Stand 27.8.2021 unter https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Transmission.html) muss davon ausgegangen werden, dass Menschen nach Kontakt mit SARS-CoV-2 trotz Impfung (asymptomatisch) PCRpositiv werden und dabei auch infektiöse Viren ausscheiden. Dieses Risiko muss durch das Einhalten der Infektionsschutzmaßnahmen zusätzlich reduziert werden. Daher empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO), auch nach Impfung die allgemein empfohlenen Schutzmaßnahmen (Alltagsmasken, Hygieneregeln, Abstandhalten, Lüften) weiterhin einzuhalten. Diesen Analysen und Empfehlungen des Robert Koch-Instituts liegen verschiedene wissenschaftliche Studien zugrunde, z.B. über Impfdurchbrüche in Israel (“Covid-19 Breakthrough Infektions in Vaccinated Health Care Workers”, New England Journal of Medicine v. 28.07.2021, https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2109072), sowie die (etwas geringere) Wirksamkeit der zugelassenen Impfstoffe gegen die Delta-Variante (“Effectiveness of Covid-19 Vaccines against the B.1.617.2 (Delta) Variant”, New England Journal of Medicine v. 21.07.2021, https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2108891?query=recirc_mostViewed_railB_article). Auch in Deutschland ist es bereits zu zahlreichen bestätigten Infektionen vollständig Geimpfter gekommen. Ausweislich des Wochen-Lageberichts vom 26. August 2021 des RKI zu COVID-19 (a.a.O.) gab es seit dem 1. Februar 2021 bis zum 25. August 2021 kumuliert über alle Altersgruppen 18.333 Impfdurchbrüche. In Anbetracht des besonderen Charakters von Diskotheken und Clubs, die eher auf Kontaktaufnahme und nicht auf die Einhaltung von Abstandsregeln ausgerichtet sind, erweist sich daher die Entscheidung des Gesetzgebers, im Rahmen des § 13 Abs. 4 13. BayIfSMV insoweit nicht zwischen geimpften bzw. genesenen und nicht geimpften bzw. genesenen Personen zu differenzieren, als eine im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative noch zulässige infektionsschutzrechtliche Maßnahme.
c) Auch Hygienekonzepte stellen kein gleich wirksames, die Normbetroffenen weniger belastendes (milderes) Mittel dar. In der derzeitigen pandemischen Situation mit einem starken Anstieg der besorgniserregenden Delta-Variante begegnet die Entscheidung des Verordnungsgebers, über die erforderlichen Hygienekonzepte hinaus den Betrieb von Diskotheken und Clubs gänzlich zu unterbinden, derzeit (noch) keinen durchgreifenden Bedenken.
d) Auch gegen die Angemessenheit der Betriebsschließung von Diskotheken bestehen derzeit (noch) keine durchgreifenden Bedenken. Dabei verkennt der Senat nicht, dass dies faktisch zu einer Totalschließung des Betriebs der Antragstellerin führt, die möglicherweise schwerwiegende wirtschaftlichen Einbußen zur Folge hat. Der Antragstellerin ist zuzugestehen, dass Diskothekenbetriebe aufgrund der Corona-Pandemie seit über 17 Monate einschneidenden Maßnahmen unterworfen waren und weiterhin Einschränkungen hinnehmen müssen. Die damit verbundenen Eingriffe in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) wiegen schwer, stehen aber nach summarischer Prüfung nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zwecken. Selbst bei niedrigen Fallzahlen kommt den individuellen infektionshygienischen Schutzmaßnahmen derzeit weiterhin eine nicht unerhebliche Bedeutung zu (vgl. wöchentlicher Lagebericht des RKI v. 26.8.2021, a.a.O.).
3. Auch eine sachlich nicht gerechtfertigte oder gar willkürliche Ungleichhandlung von Diskotheken gegenüber Zusammenkünften von Menschen in anderen Gesellschafts- und Wirtschaftsbereichen ist nicht ersichtlich (vgl. BayVGH, B.v. 20.7.2020 – 20 NE 20.1606 – juris).
Art. 3 Abs. 1 GG verwehrt dem Normgeber nicht jede Differenzierung; solche bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich unterschiedliche Grenzen für den Normgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (BVerfG, B.v. 18.7.2019 – 1 BvL 1/18 u.a. – NJW 2019, 3054 – juris Rn. 94; B.v. 7.2.2012 – 1 BvL 14/07 – BVerfGE 130, 240 – juris Rn. 40 ff.).
Ausgehend davon durfte sich der Normgeber vorliegend von der Erwägung leiten lassen, dass vom Betrieb einer Diskothek typischerweise einhergehenden Infektionsgefahren betreffend SARS-CoV-2 höher sind als in anderen Lebensbereichen. Die Antragstellerin hat nicht aufgezeigt, dass und inwieweit die von ihr angeführten Lebensbereiche (insbesondere im Bereich großer Sportveranstaltungen) mit dem Betrieb von Diskotheken vergleichbar sind.
Hinsichtlich Diskotheken bestehen im Vergleich zu Sportveranstaltungen erhebliche Besonderheiten. Denn das Tanzen mit daraus resultierenden Körperkontakten, die erhöhte Ausscheidung von Tröpfchen und Aerosolen, die aufgrund der Musik laute Kommunikation und die relativ lange Aufenthaltsdauer in Diskotheken können zu erhöhten Infektionsgefahren führen. Die Menge an ausgestoßenem Aerosol nimmt beim Sprechen, insbesondere beim lauten Sprechen, das in Diskotheken zur Verständigung erforderlich ist, erheblich zu. Das infektiologische Ansteckungsrisiko liegt damit im Vergleich zu großen Sportveranstaltungen in Hallen (im Außenbereich fehlt es bereits offensichtlich an einem vergleichbaren Sachverhalt), in denen in der Regel die Verfolgung eines Sportgeschehens an fest vorgegebenen Sitzplätzen mit einem Mindestabstand von 1,5 m stattfindet, durch den erhöhten Aerosolausstoß bedeutend höher. Erschwerend hinzu kommt, dass Feiernde zu den üblichen Betriebszeiten einer Diskothek durch die dem gemeinsamen Feiern typischerweise innewohnenden gruppendynamischen Prozesse und in vielen Fällen aber auch durch einen fortgeschrittenen Rauschzustand enthemmt sowie ggf. in ihrer Urteilsfähigkeit beeinträchtigt und dadurch eher geneigt sind, Abstands- und Hygieneregeln zu missachten oder zu deren Einhaltung individuell auch gar nicht mehr in der Lage sind. Unter diesen Umständen durfte der Verordnungsgeber davon ausgehen, dass weniger belastende Schutzmaßnahmen wie Abstandsgebote unter diesen, einen Diskothekenbetrieb typischerweise prägenden Umständen kaum durchsetzbar und damit nicht gleichermaßen geeignet wären (vgl. zu diesen Erwägungen im Hinblick auf Bars BayVGH, B.v. 14.7.2020 – 20 NE 20.1572 – juris Rn. 31, 33; B.v, 14.7.2020 – 20 NE 20.1574 – juris Rn. 31, 33; zu Clubs und Diskotheken BayVGH, B.v. 20.7.2020 – 20 NE 20.1606 – juris; OVG NW, B.v. 8.7.2020 – 13 B 870/20.NE – juris Rn. 53 f. u. Rn. 59). Die Effektivität von Abstandsvorschriften hängen maßgeblich vom Verhalten der Beteiligten ab. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass sich ein gewisser Anteil von Personen bereits in alltäglichen Situationen, sei es absichtlich oder unabsichtlich, nicht an solche Schutzmaßnahmen hält (BayVGH, B.v. 16.7.2020 – 20 NE 20.1500 – juris Rn. 22). Angesichts dessen durfte der Verordnungsgeber davon ausgehen, dass dies bei einer nicht unerheblichen Anzahl von Diskothekenbesuchern unter den dargestellten spezifischen Bedingungen eines Diskothekenbetriebs auch der Fall wäre.
II. Auch die Folgenabwägung ergibt, dass die Außervollzugsetzung der angegriffenen Regelung nicht dringend geboten ist.
1. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht und hätte ein Normenkontrollantrag Erfolg, wäre die Schließung des Betriebs von Diskotheken zu Unrecht erfolgt. Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Regelung käme es zu einem schwerwiegenden und teilweise irreversiblen Eingriff insbesondere in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit mit erheblich nachteiligen wirtschaftlichen Folgen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Schließung nunmehr schon seit etwa 17 Monaten andauert und der Antragstellerin nach eigenen Angaben erhebliche Einnahmeausfälle entstanden sind.
2. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung und bliebe ein Normenkontrollantrag erfolglos, hätte die einstweilige Außervollzugsetzung des § 13 Abs. 4 der 13. BayIfSMV in Bezug auf Diskotheken zur Folge, dass diese ausnahmslos ab sofort und – vor einem Tätigwerden des Verordnungsgebers – ohne infektionsrechtliche Beschränkungen öffnen könnten. Dadurch wäre mit vermehrten Infektionen mit SARS-CoV-2 zu rechnen.
3. Bei der Beurteilung und Abwägung dieser Umstände müssen die mit den Betriebsschließungen beeinträchtigten Interessen insbesondere wirtschaftlicher Art weiterhin zurücktreten. Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet ist (vgl. BVerfG, B.v. 28.4.2020 – 1 BvR 899/20 – juris Rn. 13), sind sie derzeit noch nachrangig, auch wenn Betriebsschließungen von derart langer Dauer einer besonderen Rechtfertigung im Hinblick auf ihre Verhältnismäßigkeit bedürfen.
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die wirtschaftlichen Folgen der Betriebsschließung der Innenräume durch die Inanspruchnahme staatlicher Hilfen abgemildert werden können.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Da die angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 10. September 2021 außer Kraft tritt (§ 29 13. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 nicht angebracht ist.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben