Medizinrecht

Corona-Pandemie, einstweiliger Rechtsschutz, Zugangsbeschränkung im Einzelhandel („2G“), Reichweite der Norm

Aktenzeichen  20 NE 21.3119

Datum:
19.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 272
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 20 Abs. 3, 80 Abs. 1 S. 1
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, § 28a Abs. 1 Nr. 14, Abs. 6 S. 3, Abs. 7 S. 1 Nr. 4, § 32 S. 1 und 2
BayIfSMV § 10 Abs. 1 S. 1 und S. 2 § 15.

 

Leitsatz

1. Der Verordnungsgeber muss alle wesentlichen Fragen der Abgrenzung zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Bereichen selbst beantworten und darf sie nicht auf die Ebene des Normenvollzugs und dessen gerichtlicher Kontrolle verlagern. (redaktioneller Leitsatz)
2. Weder aus dem Text noch aus der insoweit unergiebigen Begründung der Verordnung geht mit hinreichender Gewissheit hervor, welche Ladengeschäfte unter die Zugangsbeschränkung nach Maßgabe der „2G“-Regel fallen. (redaktioneller Leitsatz)
3. Ob ein nicht ausdrücklich vom Beispielkatalog des § 10 I 2 15. BayIfSMV erfasstes Ladengeschäft unter die Zugangsbeschränkung fällt oder nicht, ist dem Wortlaut der angegriffenen Norm nicht mit der nach § 28 VI 3 IfSG erforderlichen Klarheit zu entnehmen, da weder der abstrakte Oberbegriff der Ladengeschäfte zur Deckung des „täglichen Bedarfs“ mit der Auflistung von konkreten Regelbeispielen in Einklang zu bringen noch der Liste von Regelbeispielen ein einheitliches verbindendes Kriterium zu entnehmen ist. (redaktioneller Leitsatz)
4. Es daher an einer nachvollziehbaren, in sich kohärenten und als solcher erkennbaren Regelungsabsicht des Verordnungsgebers im Hinblick auf Ladengeschäfte mit heterogenem Angebot. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. § 10 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 der Fünfzehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (15. BayIfSMV vom 23. November 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 816) i.d.F. der Änderungsverordnung vom 17. Januar 2022 (BayMBl. 2022 Nr. 41) wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO wendet sich die Antragstellerin, die nach eigenen Angaben in Bayern ein Beleuchtungsgeschäft betreibt, in dem neben der Planung und Beratung für individuelle Beleuchtungskonzepte auch ein Direktverkauf von Lampen und Zubehör angeboten wird, bei sachgerechter Auslegung ihres Antrags gegen § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 der 15. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 23. November 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 816), zuletzt geändert durch Änderungsverordnung vom 17. Januar 2022 (BayMBl. 2022 Nr. 41).
Die angegriffene Norm hat folgenden Wortlaut:
„§ 10 Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Märkte
(1) Die Öffnung von Ladengeschäften mit Kundenverkehr für Handelsangebote ist nur unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 und des § 4 Abs. 3 und 5 gestattet, soweit diese nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen. Zum täglichen Bedarf gehört insbesondere der Lebensmittelhandel einschließlich der Direktvermarktung, Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Schuhgeschäfte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörakustiker, Tankstellen, der Verkauf von Presseartikeln und Tabakwaren, Filialen des Brief- und Versandhandels, Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte, Baumärkte, Gartenmärkte, der Verkauf von Weihnachtsbäumen und der Großhandel. Für Beschäftigte der Ladengeschäfte gilt § 28b Abs. 1 IfSG.“
Nach den in Abs. 1 Satz 1 der angegriffenen Bestimmung in Bezug genommenen Vorschriften darf der Zugang zu geschlossenen Räumen nur durch Besucher erfolgen, soweit diese i.S.d. § 2 Nr. 2 und 4 SchAusnahmV geimpft oder genesen oder unter 14 Jahre alt sind (§ 5 Abs. 1 15 BayIfSMV) oder die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zulassung nach § 4 Abs. 3 15. BayIfSMV erfüllen.
Die Antragstellerin trägt zur Begründung ihres Eilantrags vom 17. Dezember 2021 vor, aufgrund der angegriffenen „2G-Regelung“ erwarte sie Umsatzeinbußen von mehr als 30%. Die Eignung und Erforderlichkeit der angegriffenen Maßnahme sei weder vom Verordnungsgeber hinreichend begründet worden noch gegeben. Allein durch flankierende Hygienemaßnahmen könne das Infektionsrisiko im Einzelhandel auf ein zu vernachlässigendes Maß beschränkt werden, weshalb die Betriebsinhaber und ungeimpfte Kunden unangemessen benachteiligt würden. Die Zugangsbeschränkung verstoße zudem – insbesondere wegen der nicht begründeten Privilegierung einzelner Sparten – gegen den Gleichheitsgrundsatz. Schließlich begründe die angegriffene Norm eine faktische Impfpflicht, für die es bislang keine gesetzliche Grundlage gebe.
Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen; die angegriffene Bestimmung verfüge über eine ausreichende gesetzliche Grundlage und verstoße nicht gegen höherrangiges Recht. Der Verordnungsgeber habe einen weiten Ausnahmetatbestand von der „2G“-Zugangsbeschränkung im Einzelhandel geschaffen, der den Vorgaben des § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG entspreche. Welche Ladengeschäfte der „Deckung des täglichen Bedarfs“ dienten, sei durch Auslegung anhand des nicht abschließenden Katalogs an Regelbeispielen in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV sowie anhand des Regelungszwecks zu ermitteln. Die in wesentlichen Teilen am Ausnahmekatalog der vormaligen „Bundesnotbremse“ in § 28b Abs. 1 Nr. 4 IfSG a.F. orientierte Regelung sei eine nachvollziehbare Auswahl an Regelbeispielen und decke einzelne Bereiche ab, die „für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung“ seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig und begründet.
A. Der Antrag ist zulässig, die Antragstellerin insbesondere antragsbefugt i.S.v. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Sie kann geltend machen, durch die angegriffene Norm in ihren Rechten verletzt zu sein, weil zumindest nicht auszuschließen ist, dass das von ihr betriebene Ladengeschäft vom Tatbestand des § 10 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 15. BayIfSMV erfasst wird. Nach ihrem Vortrag handelt es sich um ein „Ladengeschäft mit Kundenverkehr für Handelsangebote“, da es für Kunden und Interessenten frei zugänglich ist und nicht nur der Erbringung von Dienstleistungen – wie der Erstellung von individuellen Beleuchtungskonzepten für Wohn- und Geschäftsräume -, sondern auch dem (Einzel-)Handel mit Lampen, Leuchtmitteln und Zubehör dient. Zudem erscheint nach ihrem Vortrag jedenfalls denkbar, dass es nicht unter den Ausnahmetatbestand des § 10 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 i.V.m. Satz 2 15. BayIfSMV für Ladengeschäfte zur „Deckung des täglichen Bedarfs“ fällt (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 17.12.2021 – 20 NE 21.3012 – juris Rn. 12 ff.; B.v. 29.12.2021 – 20 NE 21.3037 – juris Rn. 10 ff.). Das ergibt sich allerdings weniger aus dem Gegenstand ihres Handelsbetriebs – ein Bedarf nach Lampen und Leuchtmitteln kann sich jederzeit ergeben und ist in seinem Gewicht auch nicht als geringer einzuschätzen als der durch Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte und Gartenmärkte gedeckte Bedarf -, sondern vielmehr daraus, dass der konkrete Betrieb der Antragstellerin in seinem Schwerpunkt ganz überwiegend nicht auf eine kurzfristige („tägliche“) Bedarfsdeckung ausgerichtet ist. Nach der Eigendarstellung der Antragstellerin liegt der – zwar nicht nach dem Verordnungstext, aber zumindest nach den Motiven des Verordnungsgebers (vgl. BayMBl. 2021 Nr. 842 S. 6) maßgebliche – Schwerpunkt ihres Betriebs vielmehr auf der Planung und Erstellung von Beleuchtungskonzepten.
B. Der Antrag ist auch begründet.
1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – ZfBR 2015, 381 – juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE – NVwZ-RR 2019, 993 – juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – juris Rn. 12).
Lassen sich die Erfolgsaussichten dagegen nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – „dringend geboten“ ist (§ 47 Abs. 6 VwGO, vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 – 4 VR 5.14 u.a. – juris Rn. 12).
2. Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO vorliegend dringend geboten. Ein in der Hauptsache noch zu erhebender Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO hat bei der im Eilverfahren möglichen Prüfungsdichte voraussichtlich Erfolg.
a) Die angegriffene Bestimmung des § 10 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BayIfSMV verfügt mit §§ 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 1 Nr. 14 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 32 Satz 1 und 2 IfSG über eine grundsätzlich ausreichende Rechtsgrundlage i.S.d. Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG.
Die genannten Bestimmungen ermächtigen die Landesregierungen bzw. die von ihnen bestimmten Stellen, zur Bekämpfung der Corona-Pandemie die notwendigen Schutzmaßnahmen zu erlassen, wozu nach § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 IfSG insbesondere die Verpflichtung zur Vorlage von Impf-, Genesenen- oder Testnachweisen sowie an die Vorlage solcher Nachweise anknüpfende Beschränkungen des Zugangs in den oder bei den in § 28a Abs. 1 Nr. 4 bis 8 und 10 bis 16 IfSG im einzelnen genannten Betrieben, Gewerben, Einrichtungen, Angeboten, Veranstaltungen, Reisen und Ausübungen gehören können. Dass § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 voraussichtlich auch dazu ermächtigt, den Zugang von der Vorlage ausschließlich von Impf- und Genesenennachweisen abhängig zu machen („2G“), hat der Senat bereits mehrfach entschieden (vgl. B.v. 8.12.2021 – 20 NE 21.2821 – juris Rn. 22 ff.; B.v. 27.12.2021 – 20 NE 21.2977 – juris Rn. 20 ff.); auf die genannten Beschlüsse wird insoweit Bezug genommen. Es sind auch keine durchgreifenden Bedenken ersichtlich, warum die – in § 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG ausdrücklich genannten – Handelsgeschäfte grundsätzlich nicht in dieses Konzept („2G“) einbezogen werden könnten. Damit liegt bei summarischer Prüfung eine ausreichende gesetzliche Ermächtigung dafür vor, den Zugang zu Betrieben des Einzelhandels (§ 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG) an den Nachweis der Impfung oder Genesung zu knüpfen (vgl. auch OVG SH, B.v. 14.12.2021 – 3 MR 31/21 – juris Rn. 14; OVG NW, B.v. 12.1.2022 – 13 B 1929/21.NE – juris Rn. 24 ff.; B.v. 22.12.2021 – 13 B 1858/21 – juris Rn. 20; OVG Berlin-Bbg., B.v. 30.12.2021 – 11 S 109/21 – juris Rn. 35; SächsOVG, B.v. 6.1.2022 – 3 B 454/21 – juris, Rn. 21.).
b) Die einfachgesetzlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage, insbesondere aus § 28a Abs. 7 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 und Abs. 5 IfSG, sind gegenwärtig aller Voraussicht nach erfüllt (vgl. nur BayVGH, B.v. 27.12.2021 – 20 NE 21.2916 – juris Rn. 24 ff.).
c) Von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage hat der Antragsgegner jedoch nicht in einer den Anforderungen aus Art. 20 Abs. 3 GG genügenden Weise Gebrauch gemacht; die angegriffene Norm steht mit höherrangigem Recht – insbesondere mit § 28a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 7 Satz 3 IfSG – nicht im Einklang.
aa) Einfachgesetzlich ergibt sich aus § 28a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 7 Satz 3 IfSG, dass der Verordnungsgeber insbesondere dann, wenn er – wie hier – einzelne wirtschaftliche Bereiche von infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen nach §§ 28a, 32 IfSG ausdrücklich ausnimmt, selbst hinreichend bestimmt regeln und Klarheit darüber herstellen muss, welche Bereiche der Beschränkung unterfallen und welche (ausnahmsweise) nicht.
Nach § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG können „einzelne soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bereiche, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind“, von den Schutzmaßnahmen ausgenommen werden, „soweit ihre Einbeziehung zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) nicht zwingend erforderlich ist“. Nach den Motiven des Gesetzgebers wird damit „dem Erfordernis einer notwendigen Differenzierung in einem Gesamtkonzept von Schutzmaßnahmen Rechnung getragen“ (BT-Drs. 19/24334, S. 74). Die Norm erweist sich damit gleichermaßen als Ausprägung des Gleichbehandlungswie auch des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, indem sie einerseits bekräftigt, dass Maßnahmen nach § 28a IfSG nur soweit in die Rechte der Normadressaten eingreifen dürfen, als dies zur Zweckerreichung erforderlich und unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechte angemessen ist. Andererseits enthält sie aber auch die normative Grundentscheidung des Gesetzgebers für die Zulässigkeit einer Differenzierung von infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen nach einem nicht-infektionsschutzrechtlichen Kriterium, nämlich der sozialen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Relevanz der betroffenen Lebenssachverhalte. Damit ist es möglich, einzelne soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bereiche aus dem Geltungsbereich von infektionsschutzrechtlichen Ge- oder Verboten herauszunehmen, selbst wenn die Grenze der Unverhältnismäßigkeit jeweils noch nicht erreicht ist und der Gleichbehandlungsgrundsatz eine Differenzierung noch nicht erzwingt (vgl. auch ThüOVG, B.v. 10.1.2022 – 3 EN 801/21 – juris Rn. 73; Kießling in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 28a Rn. 161).
Bei der Gewichtung und Beurteilung der „besonderen Bedeutung“ einzelner Bereiche für die Allgemeinheit dürfte dem Verordnungsgeber ein gerichtlich nur begrenzt überprüfbarer Spielraum zukommen (vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2021 – 20 NE 21.2946 – juris Rn. 53; B.v. 8.12.2020 – 20 NE 20.2461 – juris Rn. 25). Mit diesem Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers korrespondiert jedoch nicht nur ein entsprechender Auftrag, die besondere Relevanz der von Schutzmaßnahmen ausgenommenen Bereiche darzulegen und zu begründen (§ 28a Abs. 5 IfSG, vgl. BayVGH, B.v. 21.12.2021 – 20 NE 21.2946 – juris Rn. 54), sondern in besonderer Weise auch das Erfordernis einer abschließenden, widerspruchsfreien und eindeutigen Regelung. Insbesondere muss der Verordnungsgeber alle wesentlichen Fragen der Abgrenzung zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Bereichen selbst beantworten und darf sie nicht auf die Ebene des Normenvollzugs und dessen gerichtlicher Kontrolle verlagern. Denn der Gestaltungsauftrag, die soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Relevanz einzelner Bereiche zu gewichten und nach dem Ergebnis der Gewichtung ggf. eine Auswahl zu treffen, obliegt originär der jeweils handelnden Infektionsschutzbehörde und nicht der – hierzu nicht berufenen, sondern grundsätzlich auf eine Rechtsprüfung beschränkten – Judikative.
bb) Diesen besonderen Voraussetzungen wird die angegriffene Norm nicht gerecht. Der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 15. BayIfSMV lässt sich zwar die Absicht des Verordnungsgebers entnehmen, die Ladengeschäfte des Einzelhandels nicht in ihrer Gesamtheit dem Erfordernis eines „2G“-Nachweises i.S.d. § 5 Abs. 1 15. BayIfSMV zu unterwerfen, sondern eine differenzierende branchenspezifische Regelung nach Maßgabe des § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG zu treffen. Weder aus dem Text noch aus der insoweit unergiebigen Begründung (vgl. BayMBl. 2021 Nr. 842 S. 6) der Verordnung geht jedoch mit hinreichender Gewissheit hervor, welche Ladengeschäfte unter die Zugangsbeschränkung nach Maßgabe der „2G“-Regel fallen.
(1) Das vom Antragsgegner gewählte Regelungsmodell verknüpft eine abstrakte Beschreibung des Geltungsbereichs in § 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV – alle Ladengeschäfte, die „nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen“ – mit einer konkretisierenden, aber ausdrücklich nicht abschließend gemeinten („insbesondere“) Aufzählung von Regelbeispielen für Ladengeschäfte zur Deckung des täglichen Bedarfs (§ 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV). Wie der Senat inzwischen mehrfach entschieden hat, ist der Begriff der „Ladengeschäfte mit Kundenverkehr für Handelsangebote (…), soweit diese nicht der Deckung des täglichen Bedarfs dienen“ daher unter maßgeblicher Berücksichtigung der in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV aufgelisteten Regelbeispiele auszulegen (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2021 – 20 NE 21.3012 – juris Rn. 12 ff.; B.v. 29.12.2021 – 20 NE 21.3037 – juris Rn. 12; vgl. auch BVerwG, U.v. 29.1.2014 – 6 C 16.09 – juris Rn. 44; BVerwG, U.v. 29.8.2019 – 7 C 33.17 – juris Rn. 16). Dabei decken die aufgezählten Regelbeispiele jedoch ein heterogenes Spektrum ab, das – auch nach der Darstellung des Antragsgegners – nur zum Teil bedarfsbezogenen Kriterien folgt: Während einige der genannten Ladengeschäfte (wie Lebensmittel- und Getränkemärkte, Apotheken und Tankstellen) eindeutig der (lebens-)notwendigen Grund- und Akutversorgung zuzuordnen sind, lässt sich ein solcher Grundbedarf bei anderen Läden (wie bei Buchhandlungen, Blumengeschäften und Gartenmärkten) nicht feststellen. Insoweit stellt der Antragsgegner teilweise auf die besondere Grundrechtsrelevanz des Angebots (Buchhandlungen) ab, teilweise aber auch nur auf dessen rasche Verderblichkeit (Blumengeschäfte und Gartenmärkte). Wenn aber die aufgelisteten Regelbeispiele schon nicht ausnahmslos einem – auf Nachfrageseite angesiedelten – besonderen „Bedarf“ i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV folgen, sondern teilweise vielmehr wirtschaftliche Zwänge auf Angebotsseite abmildern sollen, lässt sich der Inhalt der angegriffenen Norm nicht mehr widerspruchsfrei in begrenzender Weise ermitteln: Decken die regelbeispielhaft genannten Blumengeschäfte und Gartenmärkte gar keinen „Bedarf“ auf Kundenseite ab, sondern wirtschaftliche Belange der Anbieter, kann der als Oberbegriff gewählte „tägliche Bedarf“ jedenfalls kein Bedarf im Wortsinn sein. Da die Auflistung von Regelbeispielen aber ausdrücklich nicht abschließend sein soll, bleibt die Reichweite der geregelten Zugangsbeschränkung letztlich offen. Ob ein nicht ausdrücklich vom Beispielkatalog des § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV erfasstes Ladengeschäft unter die Zugangsbeschränkung fällt oder nicht, ist dem Wortlaut der angegriffenen Norm nicht mit der nach § 28 Abs. 6 Satz 3 IfSG erforderlichen Klarheit zu entnehmen, da weder der abstrakte Oberbegriff der Ladengeschäfte zur Deckung des „täglichen Bedarfs“ mit der Auflistung von konkreten Regelbeispielen in Einklang zu bringen noch der Liste von Regelbeispielen ein einheitliches verbindendes Kriterium zu entnehmen ist. Damit ist der Verordnungsgeber seinem Regelungsauftrag nicht in der nach § 28 Abs. 6 Satz 3 IfSG erforderlichen Weise nachgekommen.
(2) Hinzu tritt, dass die Reichweite der Norm auch insoweit unklar bleibt, als die Behandlung von Ladengeschäften mit heterogenem Angebot (insbesondere sog. Mischsortimenter und – wie im Fall der Antragstellerin – gemischte Dienstleistungs- und Einzelhandelsbetriebe) dem Verordnungstext nicht zu entnehmen ist. Während der Verordnungsgeber in seiner Begründung vom 3. Dezember 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 842 S. 6) ausführt, Ladengeschäfte mit Mischsortiment könnten „nur dann ohne 2G-Erfordernis öffnen, wenn die nicht zum täglichen Bedarf gehörenden Produkte innerhalb des Warensortiments des jeweiligen Geschäftes eine ganz untergeordnete Bedeutung“ hätten, wird diese aus der Begründung ersichtliche Regelungsabsicht jedoch dadurch konterkariert, dass die Aufzählung von Regelbeispielen in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV mehrere Kategorien von Einzelhandelsgeschäften erfasst, die typischerweise sehr heterogene (Misch-)Sortimente anbieten – etwa Drogerien (neben Drogerieartikeln i.e.S. oft auch Schreib- und Spielwaren, Medien, Bekleidung), Buchhandlungen (neben Büchern auch andere Medien sowie Dekorations- und Geschenkartikel), Bau- und Gartenmärkte (neben Bau- und Gartengeräten auch Einrichtungsgegenstände, Beleuchtungsartikel, Möbel und Grillzubehör, Sportgeräte) sowie dem Lebensmittelhandel, der oft in nicht unerheblichem Umfang andere Waren anbietet. Diese Ladengeschäfte sind nach dem Wortlaut der Norm pauschal und insgesamt von den Beschränkungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 15. BayIfSMV freigestellt. Insgesamt fehlt es daher an einer nachvollziehbaren, in sich kohärenten und als solcher erkennbaren Regelungsabsicht des Verordnungsgebers im Hinblick auf Ladengeschäfte mit heterogenem Angebot.
(3) Eine Aussage über die Zulässigkeit der Privilegierung der in § 10 Abs. 1 Satz 2 15. BayIfSMV genannten, von der „2G“-Zugangsbeschränkung ausgenommenen Ladengeschäfte in der Form einer abschließenden Aufzählung wie in der vom Antragsgegner als Vorbild angeführten Bestimmung des § 28b Abs. 1 Nr. 4 IfSG a.F. (so auch die Rechtslage in Baden-Württemberg [§ 17 Abs. 1 Satz 2 bis 4 CoronaVO], Berlin [§ 16 Abs. 2 4. SARS-CoV-2-IfSMV], Brandenburg [§ 13 Abs. 2 2. SARS-CoV-2 EindV], Hamburg [§ 13 Abs. 2 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO], Nordrhein-Westfalen [§ 4 Abs. 2 Nr. 1 CoronaSchVO, vgl. dazu OVG NW, B.v. 12.1,2022 – 13 B 1929/21.NE – juris], Rheinland-Pfalz [§ 7 Abs. 1 Satz 4 29. CoBeLVO], Sachsen [§ 8 Abs. 2 SächsCoronaNotVO], Sachsen-Anhalt [§ 2a Abs. 1 Nr. 9 15. SARS-CoV-2-EindV], Schleswig-Holstein [§ 8 Abs. 1 Satz 2 Corona-BekämpfVO], Thüringen [§ 18 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO) und über die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG ist mit dem Vorstehenden nicht verbunden. Eine nicht abschließende Regelung ist aus Gleichbehandlungsgründen jedenfalls nicht zwingend erforderlich.
c) Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch i.S.v. § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten. Aufgrund der gegebenen Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache überwiegen die von der Antragstellerin geltend gemachten Belange die gegenläufigen Vollzugsinteressen des Antragsgegners.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die vom Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 9. Februar 2022 außer Kraft tritt (§ 18 15. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 hier nicht angebracht ist.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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