Medizinrecht

Corona-Pandemie, Veranstaltungs- und Versammlungsverbot, Einschätzungsspielraum, Verordnungsermessen

Aktenzeichen  20 N 21.1926

Datum:
7.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 5016
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47
IfSG §§ 32 S. 1, 28 Abs. 1
GG Art. 80 Abs. 1 S. 2
§ 1 Abs. 1 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmeverordnung vom 27. März 2020
GG Art. 8
GG Art. 4 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.
1. Mit ihrem Normenkontrollantrag nach § 47 VwGO begehren die Antragsteller die Feststellung, dass § 1 Abs. 1 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung – BayIfSMV; 2126-1-4-G, 2126-1-5-G, BayMBl. 2020 Nr. 158; im Folgenden: 1. BayIfSMV) vom 27. März 2020 unwirksam war. Die Norm ist mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft getreten (§ 7 Abs. 1 1. BayIfSMV i.d.F. der Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162)).
2. Der Antragsgegner hat am 27. März 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege folgende Norm erlassen:
㤠1 Veranstaltungs- und Versammlungsverbot
(1) Veranstaltungen und Versammlungen werden landesweit untersagt. Dies gilt auch für Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften. Ausnahmegenehmigungen können auf Antrag von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.“
3. Die Antragsteller haben mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 10. April 2020 einen Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO gestellt und zuletzt mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 30. Juni 2021 beantragt,
Es wird festgestellt, dass § 1 Abs. 1 der Bayerischen Infektionsmaßnahmeschutzverordnung (BayMBl. 2020 Nr. 158) insoweit unwirksam war, als er Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG unter Genehmigungsvorbehalt stellt.
Sie tragen zur Begründung ihres Antrages im Wesentlichen vor, die Antragsteller hätten für den nach Außerkrafttreten der Norm nunmehr gestellten Feststellungsantrag ein hinreichendes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit. Zum einen wegen der erheblichen Grundrechtsrelevanz eines Versammlungsverbots, zum anderen wegen der konkreten Wiederholungsgefahr. § 1 Abs. 1 1. BayIfSMV verstoße gegen Art. 8 GG zumindest insoweit, als er Versammlungen grundsätzlich verbiete. Die Versammlungsfreiheit dürfe nicht unter einen Erlaubnisvorbehalt gestellt werden, auch nicht in Corona-Zeiten. Bei Versammlungen in geschlossenen Räumen ergebe sich das Ergebnis unmittelbar aus Art. 8 Abs. 2 GG.
4. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Normenkontrollantrag sei wegen Fehlens eines Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Eine Wiederholungsgefahr habe nicht bestanden. In der Folgezeit sei der Antragsgegner von einem Versammlungsverbot abgerückt, um dem vorbehaltlos gewährten Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG verstärkt Rechnung zu tragen. Aber auch ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt sei nicht von vornherein verfassungswidrig. Hier komme es immer auf die Umstände des Einzelfalles an. Von Veranstaltungen und Versammlungen gingen aus epidemischer Sicht besondere Gefahren aus: Zum einen kämen hier viele Menschen zusammen, was an sich schon ein großes Problem sei, als dies die Menge potentieller Infektionen stark erhöhe. Zum anderen sei das Einhalten schützender Abstände nur sehr schwer möglich. Schließlich könnten die Kontakte im Falle des Bekanntwerdens eines Infektionsfalles kaum nachvollzogen werden. Gerade Veranstaltungs- und Versammlungsverbote seien daher eine essenzielle Maßnahme zur Erreichung der wichtigen Ziele der Infektionsvermeidung und der Verlangsamung des Infektionsgeschehens gewesen. Auch das im Lichte des Art. 8 GG zu würdigende Versammlungsverbot begegne keinen rechtlichen Bedenken. Hierbei sei in den Blick zu nehmen, dass diese Maßnahme von vornherein nicht intentional auf Versammlungen abgehoben habe, um den Raum für Meinungsäußerungen zu beschränken, sondern im Kontext aller infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zu sehen sei, dem Ziel des Schutzes der Bevölkerung vor den Gefahren des neuartigen Coronavirus gedient und die Versammlungsfreiheit lediglich reflexhaft betroffen habe. Eine meinungsbildende Tendenz liege auch deshalb nicht vor, weil es sich bei der Versammlung nur um eine mögliche Form der Meinungsäußerung handele. Gerade auch durch ein versammlungstypisches lautes Sprechen und Rufen würden vermehrt Aerosole, die virushaltig sein könnten, ausgestoßen. Zudem könnten gruppendynamische Prozesse, die auch vom Versammlungsleiter nicht kontrollierbar seien, dazu führen, dass die Einhaltung des Abstandsgebotes oder gerade auch eine Maskenpflicht nicht gewährleistet werden könne, wie auch im weiteren Verlauf der Pandemie manche Versammlungen leider schmerzhaft gezeigt hätten.
Nach Abtrennung des vorliegenden Verfahrensteiles mit Beschluss vom 19. Juli 2021 hat der Senat die Beteiligten mit Schreiben vom 20. Juli 2021 auf die Möglichkeit verwiesen, auch ohne mündliche Verhandlung im Beschlusswege zu entscheiden. Die Beteiligten haben hierzu nicht Stellung genommen.
5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Der Antrag, über den der Senat nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO nach Anhörung der Beteiligten, die hiergegen keine Einwendungen erhoben haben, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheidet, ist zulässig, aber unbegründet, weil § 1 Abs. 1 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 (1. BayIfSMV) wirksam war.
A. Der Normenkontrollantrag ist zulässig.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entzieht zwar das Außerkrafttreten der zur Prüfung gestellten Norm dem Normenkontrollantrag grundsätzlich seinen Gegenstand. § 47 Abs. 1 VwGO geht von dem Regelfall einer noch gültigen Norm als Gegenstand des Normenkontrollantrags aus. Ein Normenkontrollantrag kann allerdings auch trotz Außerkrafttretens der angegriffenen Rechtsnorm zulässig bleiben, wenn in der Vergangenheit liegende Sachverhalte noch nach ihr zu entscheiden sind oder, wenn während des Normenkontrollverfahrens eine auf kurzfristige Geltung angelegte Norm etwa wegen Zeitablaufs außer Kraft getreten ist. Das Außerkrafttreten der Norm allein lässt den zulässig gestellten Normenkontrollantrag nicht ohne weiteres zu einem unzulässigen Antrag werden, wenn die Voraussetzung der Zulässigkeit nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO fortbesteht, nämlich, dass der Antragsteller durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung einen Nachteil erlitten hat (BVerwG, U.v. 29.6.2001 – 6 CN 1.01 – juris Rn. 10; B.v. 2.9.1983 – 4 N 1.83 – juris Rn. 9). Der Antragsteller muss nach Außerkrafttreten der angegriffenen Norm allerdings ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Feststellung ihrer Ungültigkeit haben (vgl. BVerwG, B.v. 14.6.2018 – 3 BN 1.17 – juris Rn. 19; B.v. 2.9.1983 – 4 N 1.83 – juris Rn. 11). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die begehrte Feststellung präjudizielle Wirkung für die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines auf die Norm gestützten behördlichen Verhaltens und damit für in Aussicht genommene Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüche haben kann oder ein schwerwiegender Grundrechtseingriff das Rechtsschutzinteresse fortbestehen lässt (BVerwG, B.v. 26.5.2005 – 4 BN 22.05 – juris Rn. 5; B.v. 2.8.2018 – 3 BN 1.18 – juris Rn. 5). Ein solcher schwerwiegender Eingriff in die Freiheitsrechte der Antragsteller durch das streitgegenständliche Versammlungsverbot ist vorliegend zu bejahen (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.4.2020 – 1 BvR 802/20 – juris Rn. 13). Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, sind die in den Corona-Verordnungen enthaltenen Verbote und Gebote gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie typischerweise auf kurze Geltung angelegt sind, mit der Folge, dass sie regelmäßig außer Kraft treten, bevor ihre Rechtmäßigkeit in Verfahren der Hauptsache abschließend gerichtlich geklärt werden kann. Es kommt hinzu, dass die Ge- und Verbote die grundrechtliche Freiheit häufig schwerwiegend beeinträchtigen. Da sie – wie hier das Versammlungsverbot – zudem in der Regel keines Verwaltungsvollzugs bedürfen, liegt eine nachträgliche Klärung ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten im Verfahren der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nahe (vgl. BVerfG, B.v. 3.6.2020 – 1 BvR 990/20 – juris Rn. 8; B.v. 15.7.2020 – 1 BvR 1630/20 – juris Rn. 9; vgl. auch SächsOVG, U.v. 21.4.2021 – 3 C 8/20 – BeckRS 2021, 8023).
B. Der Normenkontrollantrag ist unbegründet, weil das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot des § 1 Abs. 1 1. BayIfSMV, das als untrennbare Regelung insgesamt Gegenstand dieses Normenkontrollverfahrens ist, formell rechtmäßig war (1.) und auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden ist (2.).
1. § 1 Abs. 1 1. BayIfSMV wurde als unbewehrte Verordnung durch Veröffentlichung im Bayerischen Ministerialblatt am 27. März 2020 veröffentlicht (BayMBl. 2020 Nr. 158). Der Umstand, dass diese Regelung im Nachhinein durch Änderungsverordnung vom 31. März 2021 bußgeldbewehrt wurde (BayMBl. 2020 Nr. 162), führte nicht zur formellen Rechtswidrigkeit der materiellen Verbotsnorm, sondern – was hier aber nicht entscheidungserheblich ist – allenfalls dazu, dass die entsprechende Bußgeldregelung (§ 5 Nr. 1 1. BayIfSMV) nach Art. 51 Abs. 2 des Landesstraf- und Verordnungsgesetzes i.d.F. vom 18. Mai 2018 (LStVG a.F.) im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht werden musste (vgl. dazu BayVGH, B.v. 4.10.2021 – 20 N 20.767 – juris Rn. 32 ff.), da nur diese und nicht der zu diesem Zeitpunkt bereits unbewehrt in Kraft getretener Grundtatbestand in der die Bewehrung begründender Änderungsverordnung enthalten war.
2. § 1 Abs. 1 S. 1 und 3 1. BayIfSMV ist materiell rechtmäßig. Er beruht auf einer verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage (a), deren Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind (b) und stellt sich im maßgeblichen Zeitraum seiner Geltungsdauer als notwendige und verhältnismäßige Schutzmaßnahme dar (c).
a) Der von den Antragstellern angegriffene § 1 Abs. 1 1. BayIfSMV findet in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 IfSG in der maßgeblichen Fassung des „Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27. März 2020 (BGBl. 2020 I S. 587 ff.; BT-Drucks 19/18111), eine hinreichende gesetzliche Grundlage, deren Rahmen § 1 Abs. 1 Satz 1 und 3 1. BayIfSMV in der durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof getroffenen Auslegung auch wahrten.
Durch § 32 Satz 1 IfSG werden die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Ge- und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Insbesondere können Personen verpflichtet werden, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde unter den Voraussetzungen von Satz 1 Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Durch das Tatbestandsmerkmal „Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen“ ist sichergestellt, dass alle Zusammenkünfte von Menschen, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen, erfasst werden (BT-Drucksache 14/2530 S. 75).
Angesichts des klaren Wortlauts des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG verstieß die Verordnungsermächtigung des § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 IfSG im hier maßgeblichen Zeitraum der Geltungsdauer der angegriffenen Verordnung im Hinblick auf die Normierung von Veranstaltungs- und Versammlungsverboten nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Inhalt, Zweck und Ausmaß sind durch die Verordnungsermächtigung hinreichend bestimmt. Sie regelt Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten (Inhalt) und hat den Zweck die Verbreitung von Infektionskrankheiten zu verhindern. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die Infektionsschutzbehörde Veranstaltungen und sonstige Versammlungen begrenzen oder sogar verbieten (Ausmaß).
Die weiten Befugnisse der Infektionsschutzbehörden im Rahmen der §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 IfSG erhalten ihr Korrektiv durch die Beschränkung auf „notwendige Schutzmaßnahmen“. Das behördliche (Auswahl-)Ermessen wird dadurch beschränkt, dass nur „notwendige Schutzmaßnahmen“ in Betracht kommen, also Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205 – juris Rn. 24). Zwar enthalten §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG dem Wortlaut nach die Möglichkeit sämtliche Versammlungen durch Rechtsverordnung zu verbieten. Angesichts der überragenden Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit im Rahmen der demokratischen Grundordnung (BVerfG, B. v. 14. 5. 1985 – 1 BvR 233, 341/81 – BVerfGE 69, 315 (344)) kommt ein Totalverbot von Versammlungen unter freiem Himmel und in geschlossenen Räumen auch im Infektionsschutzrecht nur im Ausnahmefall in Betracht. Gerade bei der vorbehaltlos gewährten Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen (Art. 8 Abs. 2 GG) kann eine entsprechende Versammlung ebenso wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte nur zum Schutz von Grundrechten Dritter oder anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang eingeschränkt werden (vgl. Gusy in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7 Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 82 m.w.N.). Zudem liegt es in der Natur einer Versammlung als Akt kollektiver Meinungsäußerung, dass die Teilnehmer körperlich daran teilnehmen und eine virtuelle Betätigung dieses Grundrechts üblicherweise nicht möglich ist. Das pandemische Vorkommen einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit, also einer übertragbaren Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann (§ 2 Abs. 3a IfSG), kann dem Grunde nach allerdings ein allgemeines Versammlungsverbot rechtfertigen, wenn von Versammlungen durch die drohende Vielzahl von Ansteckungen eine infektionsschutzrechtliche Gefährdung für Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen (Art. 2 Abs. 2 GG) ausgeht. Dabei dürften dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnislage und damit der Einschätzungsmöglichkeit der Bedrohungslage entscheidende Bedeutung zukommen. Gleichzeitig gilt aber, je allgemeiner der Verordnungsgeber in ein Grundrecht der Bürger eingreift, desto größere Bedeutung kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in sachlicher und zeitlicher Hinsichtzu. Diesen besonderen Schranken der Befugnisnorm ist im Rahmen der Rechtsanwendung, also dem Verordnungserlass, besondere Beachtung zu schenken (BayVGH, B. v. 4.10.2021 – 20 N 20.767 – juris Rn 48).
§ 1 Abs. 1 1.BayIfSMV enthielt seinem Wortlaut ein repressives Verbot mit Befreiungsmöglichkeit, welches lediglich in sehr engen Grenzen verfassungsrechtlich zulässig ist. Der Verordnungsgeber ging bei seiner Regelung offenbar davon aus, dass bei der Einschätzung der damaligen Infektionsgefahr durch Sars-CoV-2 Ansammlungen i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 lfSG, also auch Versammlungen, grundsätzlich aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht vertretbar waren. Lediglich soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar war, konnten durch die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden Ausnahmegenehmigungen erteilt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 3 1. BayIfSMV). Bei der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung war dabei zunächst die Grundentscheidung des Verordnungsgebers für ein grundsätzliches Verbot von Versammlungen zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite musste die Kreisverwaltungsbehörde bei der Entscheidung über Ausnahmeanträge die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit würdigen und im Einzelfall entscheiden, ob die Versammlung infektionsschutzrechtlich vertretbar war. Dabei kam es auf solche Umstände, wie Teilnehmerzahl, Ort und Zeit der Veranstaltung sowie auf die Frage an, ob durch Auflagen das Infektionsrisiko auf ein vertretbares Maß herabgesenkt werden konnte. So hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 9. April 2021 (Az.: 20 CE 20.755 – BeckRS 2020, 6313) die Auffassung vertreten, dass dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht ausreichend Rechnung getragen wird, wenn zur Begründung der Versagung der Ausnahmegenehmigung nicht auf ein (infektionsschutzrechtlich bedenkliches) Verhalten der Versammlungsteilnehmer, sondern ausschließlich auf das Verhalten Dritter und auf infektionsschutzrechtliche Gefahren abgestellt wird, die sich aus verbotenen Verhaltensweisen ergeben können. War im Einzelfall aufgrund der Angaben des Versammlungsleiters zur Teilnehmerzahl, zur Art und Weise der Versammlung (statische Versammlung – kein Umzug, Einhaltung der Hygienemaßgaben) sowie der örtlichen Verhältnisse am Versammlungsort davon auszugehen, dass Infektionsgefahren beispielsweise durch Abstandsregelungen, Umzäunung und Kenntlichmachung des Versammlungsgeländes und/oder die Begleitung durch Polizei begegnet werden konnte, hatte die zuständige Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen die Erteilung des Genehmigungsbescheides unter Auflagen zu prüfen. Bei der erforderlichen Prüfung, ob für Versammlungen i.S.v. Art. 8 Abs. 1 GG Ausnahmegenehmigungen erteilt werden konnten, musste die Behörde auch eigene Überlegungen zur Minimierung von Infektionsrisiken anstellen (hierzu und zum Folgenden BVerfG, B.v. 17.4.2020 – 1 BvQ 37/20 – juris Rn. 25). Vor dem Erlass einer Beschränkung der Versammlungsfreiheit musste sich die zuständige Behörde zunächst um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem Versammlungsveranstalter bemühen. War die Durchführung der Versammlung bei Beachtung erforderlicher Auflagen vertretbar, hatte die zuständige Behörde kein Versagungsermessen mehr, vielmehr bestand in diesem Fall ein Anspruch auf eine entsprechende Ausnahmegenehmigung (zum wortgleichen § 1 Abs. 1 Satz 3 2. BayIfSMV: BayVGH, B. v. 30.4.2020 – 10 CS 20.999 – juris). So verstanden, begegnet § 1 Abs. 1 Satz 1 und 3 1. BayIfSMV keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht daraus, dass das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot nach § 1 Abs. 1 Satz 2 1. BayIfSMV auch für religiöse Zusammenkünfte gegolten hat und dadurch in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) eingegriffen hat. Zwar stellt das Verbot der Feier insbesondere der Heiligen Messe einen überaus schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dar. Das gilt noch verstärkt, soweit sich das Verbot auch auf Eucharistiefeiern während der Osterfeiertage als dem Höhepunkt des religiösen Lebens der Christen (BVerfG, B.v. 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 – juris Rn. 11). Gleiches gilt bei hohen Feiertage anderer Religionsgemeinschaften. Die Religionsfreiheit ist zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos garantiert. Nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung können auch den Freiheiten des Art. 4 GG durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes Grenzen gezogen werden (vgl. BVerfG, B. v. 2.10.2003 – 1 BvR 536/03 – juris m.w.N.). Zu solchen verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. BVerfG, B. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10 – BVerfGE 138, 296 m. w. N.).
b) Die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 IfSG waren im Zeitpunkt des Erlasses und im Geltungszeitraum der angegriffenen Norm erfüllt.
aa) § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG verpflichtet die Behörde zum Handeln, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen (sog. gebundene Entscheidung). Sie setzt tatbestandlich lediglich voraus, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war. Diese Voraussetzungen lagen dem Grunde nach angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemielage vor. Weitere tatbestandliche Anforderungen an ein Tätigwerden stellt § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG nicht (ständige Rspr. des Senats, vgl. nur B.v. 1.9.2020 – 20 CS 20.1962 – juris Rn. 24).
Nachdem § 28 eine Befugnisnorm zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten ist, setzt die Norm die Feststellung einer solchen Krankheit voraus, was zugleich die Notwendigkeit einer Gefährdungseinschätzung dieser Krankheit für die Bevölkerung beinhaltet. So kennt das Gesetz selbst die „übertragbare Krankheit“, also eine durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursachte Krankheit (§ 2 Nr. 3 IfSG) und die „bedrohliche übertragbare Krankheit“, also eine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann (§ 2 Nr. 3a IfSG). Letztere stellt auf mögliche schwere klinische Verlaufsformen der Krankheit und auf die Weiterverbreitungsweise der Krankheit ab. Dies schließt Krankheiten, die durch neu aufgetretene Erreger oder Erreger mit besonderen Resistenzen verursacht werden, ein. Die genannten Eigenschaften einer übertragbaren Krankheit können jeweils für sich allein oder durch ihr Zusammenwirken eine besondere Gefährlichkeit der übertragbaren Krankheit für die Bevölkerung ausmachen (BR-Drs. 784/16 S. 49).
Bei der Beurteilung der Gefährlichkeit einschließlich der Übertragungsgefahr einer solchen Krankheit kann bei bekannten Krankheiten auf die Erfahrungen und das Wissen auf den Gebieten der Medizin und der Epidemiologie der Vergangenheit zurückgegriffen werden. Anders verhält es sich in dem hier maßgeblichen Zeitraum während der Geltungsdauer der Norm dagegen bei Covid-19. Hierbei handelt es sich um eine neuartige Bedrohung, die auch nicht mit den Grippepandemien 1957 bis 1959, 1968 und 1977 vergleichbar ist, da zu diesen Zeiten sowohl klinische und epidemiologische Erkenntnisse über Grippe-Erkrankungen als auch entsprechende Impfstoffe vorhanden waren. Im Situationsbericht des RKI vom 30. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-03-30-de.pdf? blob=publicationFile) heißt es:
„Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Bei einem Teil der Fälle sind die Krankheitsverläufe schwer, auch tödliche Krankheitsverläufe kommen vor. Die Zahl der Fälle in Deutschland steigt weiter an. Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen als sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit für schwere Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu. Diese Gefährdung variiert von Region zu Region. Die Belastung des Gesundheitswesens hängt maßgeblich von der regionalen Verbreitung der Infektion, den vorhandenen Kapazitäten und den eingeleiteten Gegenmaßnahmen (Isolierung, Quarantäne, soziale Distanzierung) ab und kann örtlich sehr hoch sein.“
Weiter verdeutlicht die folgende Schlussfolgerung des RKI vom 20. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Modellierung_Deutschland.pdf? blob=publicationFile) die Bedrohlichkeit der Lage: „Von jetzt an und in den nächsten Wochen sind maximale Anstrengungen erforderlich, um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren.“
Dabei kam im maßgeblichen Zeitraum der Geltungsdauer der Norm der Einschätzung des RKI besondere Bedeutung zu, denn nach § 4 Abs. 1 Satz 1 IfSG ist das Robert Koch-Institut die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen. Es erstellt im Benehmen mit den jeweils zuständigen Bundesbehörden für Fachkreise als Maßnahme des vorbeugenden Gesundheitsschutzes Richtlinien, Empfehlungen, Merkblätter und sonstige Informationen zur Vorbeugung, Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 IfSG).
bb) Hinzu kommt, dass den Infektionsschutzbehörden bei der Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen einer „bedrohlichen übertragbaren Krankheit“ (§ 2 Nr. 3a IfSG) ein gerichtlich nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum zusteht. Anhaltspunkte dafür, dass der Verordnungsgeber die Grenzen seines Beurteilungsspielraums vorliegend überschritten hätte, sind nicht ersichtlich.
Voraussetzung für die Annahme eines Einschätzungs- oder Beurteilungsspielraums ist nach den vom Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen zunächst, dass ein entsprechender Spielraum der Ermächtigung ihrer Art und ihrem Umfang nach den jeweiligen Rechtsvorschriften zumindest konkludent entnommen werden kann und dass es für ihn einen hinreichend gewichtigen Sachgrund gibt (BVerfG, B.v. 31.5.2011 – 1 BvR 857/07 – Rn. 99; BVerwG, U.v. 29.6.2016 – 7 C 32.15 – juris Rn. 29). Im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist es Aufgabe des Gesetzgebers, unter Beachtung der Grundrechte die Rechtsposition zuzuweisen und auszugestalten, deren gerichtlichen Schutz Art. 19 Abs. 4 GG voraussetzt und gewährleistet (BVerwG, B.v. 21.12.1995 – 3 C 24.94 – juris Rn. 30).
Ob das Gesetz eine solche Beurteilungsermächtigung enthält, ist durch Auslegung des jeweiligen Gesetzes zu ermitteln (BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 3 C 8.06 – juris Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, U.v. 23.1.2008 – 6 A 1.07 – juris Rn. 43; BVerwG, U.v. 23.11.2011 – 6 C 11.10 – juris Rn. 37).
Dem Wortlaut der Bestimmungen des §§ 32, 28 IfSG lassen sich auf den ersten Blick keine Tatbestandsmerkmale entnehmen, welche auf einen entsprechenden Einschätzungsspielraum schließen lassen. Allerdings sollen nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
Bei neu auftretenden Erregern kann die Einschätzung schwierig sein, ob es sich um eine „bedrohliche übertragbare Krankheit“ handelt, also um eine übertragbare Krankheit, die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen kann (§ 2 Nr. 3a IfSG). Gerade die Frage, ob der neuartige Erreger eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, erfordert eine prognostische Einschätzung des Gefährdungspotenzials. Um die Gefahren, die von Infektionskrankheiten ausgehen, und damit die Erforderlichkeit von Schutzmaßnahmen erkennen und abschätzen zu können, ist die Exekutive in erheblichem Umfang auf wissenschaftliche Expertise angewiesen. Im Falle neuartiger Krankheitserreger und Erkrankungen kann jedoch denknotwendig die Frage der Gefährdung der Bevölkerung nicht aufgrund einer sicheren und umfassend abgeklärten Tatsachenbasis bewertet und beantwortet werden. Sie kann lediglich aufgrund von Prognosen erfolgen, die zwar ihrerseits tatsachenbasiert und nachvollziehbar sein müssen, jedoch bestehende Unsicherheiten enthalten dürfen. Aus diesem Grund kommt dem Gesetzgeber oder der von ihm zum Verordnungserlass ermächtigten Exekutive im Falle von Ungewissheiten im fachwissenschaftlichen Diskurs und damit einhergehender unsicherer Entscheidungsgrundlage auch in tatsächlicher Hinsicht Einschätzungsspielräume zu (vgl. BVerfG, B.v. 13.5.2020 – 1 BvR 1021/20 -, juris Rn. 10; Thüringer Verfassungsgerichtshof, U.v. 1.3.2021 – 18/20 – juris). Das gilt jedenfalls für die Frage des Vorliegens einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit i.S.d. § 2 Nr. 3a IfSG.
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegner bei der Einordnung von Covid-19 als bedrohliche übertragbare Krankheit (§ 2 Nr. 3a IfSG) seinen Einschätzungsspielraum überschritten hat, sind aufgrund der bereits geschilderten Einschätzung der epidemiologischen Situation durch das RKI nicht feststellbar.
c) Das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot des § 1 Abs. 1 IfSG war auch eine notwendige Schutzmaßnahme, da sie zur Bekämpfung von Covid-19 geboten war und sich im Ergebnis als verhältnismäßig darstellt.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann unter den Voraussetzungen von Satz 1 die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten. Hierdurch sollen alle Zusammenkünfte von Menschen erfasst werden, die eine Verbreitung von Krankheitserregern begünstigen (BT-Drs. 14/2530, 75). Das Gesetz sieht in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG das Verbot von Veranstaltungen und sonstigen Ansammlungen ausdrücklich als Infektionsschutzmaßnahme vor. Auch der Gesetzgeber des Infektionsschutzgesetzes ging davon aus, dass bei Menschenansammlungen, worunter alle Zusammenkünfte von Menschen zu verstehen seien, Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden könnten. Deshalb sei hier die Einschränkung von Freiheitsrechten in speziellen Fällen gerechtfertigt (BT-Drucksache 14/2530 S. 75). Die besondere Bedeutung des Verbots von Ansammlungen lässt sich bereits der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 8/2468 S. 27/28) zu § 34 BSeuchG, der Vorgängervorschrift zu § 28 IfSG, entnehmen:
„Die bisher in § 43 aufgezählten Schutzmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit können künftig auf Grund der generellen Regelung des Absatzes 1 Satz 1 angeordnet werden. In Absatz 1 Satz 2 werden sie trotzdem beispielhaft ausdrücklich genannt, weil die genannten Maßnahmen einerseits besonders bedeutsam sind und es andererseits durch ihre Nennung ermöglicht wird, dass die in § 65 enthaltene Strafandrohung aufrechterhalten werden kann.“
An dieser Systematik hat sich mit Einführung des Infektionsschutzgesetzes als Ersatz für das Bundesseuchengesetz nichts geändert. Wesentliche Neuerungen des § 28 IfSG waren die Umwandlung von einer Ermessensvorschrift in eine gebundene Entscheidung sowie die Ausweitung des Anwendungsbereichs auf alle Menschenansammlungen (BT-Drs. 14/2530).
(a) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – das „Wie“ des Eingreifens – ist der Behörde durch § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG ein Ermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass nur „notwendige Schutzmaßnahmen“ in Betracht kommen, also Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205 – juris Rn. 24). Allerdings wird man zwischen dem Ermessen der Verwaltungsbehörde im Rahmen des § 28 Abs. 1 IfSG und dem Ermessen des Verordnungsgebers nach § 32 Satz 1 IfSG unterscheiden müssen. Verwaltungsermessen und Verordnungsermessen unterscheiden sich strukturell (BVerfG, B.v. 1.4.2014 – 2 BvF 1/12, 2 BvF 3/12 – NVwZ 2014, 1219 Rn. 92).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts kommt es bei der richterlichen Kontrolle von (untergesetzlichen) Normen, soweit keine anderweitigen Rechtsvorschriften bestehen, auf das Ergebnis des Rechtssetzungsverfahrens, also auf die erlassene Vorschrift in ihrer regelnden Wirkung, nicht aber auf die die Rechtsnorm tragenden Motive dessen an, der an ihrem Erlass mitwirkt. Soweit der Normgeber zur Regelung einer Frage befugt ist, ist seine Entscheidungsfreiheit eine Ausprägung des auch mit Rechtssetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens. Es wird erst dann rechtswidrig ausgeübt, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zweckes der Ermächtigung schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist. Demgemäß beschränkt sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle darauf, ob diese äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtssetzungsbefugnis überschritten sind. Eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung der Motive und des Abwägungsvorgangs des Normgebers setzt daher bei untergesetzlichen Normen eine besonders ausgestaltete Bindung des Normgebers an gesetzlich formulierte Abwägungsdirektiven voraus, wie sie etwa im Bauplanungsrecht vorgegeben sind. Sind solche nicht vorhanden, wird die Norm nicht wegen Mängeln im Abwägungsvorgang rechtswidrig. Entscheidend ist allein, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspricht (vgl. BVerfG, B. v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 1042/75 – BVerfGE 45, 142; BVerwG, U.v. 26.4.2006 – 6 C 19.05 – BVerwGE 125, 384, juris Rn. 16; zum Ganzen s.a. B.v. 3.5.1995 – 1 B 222.93 – GewArch 1995, 425, juris Rn. 5 und B.v. 30.4.2003 – 6 C 6.02 – BVerwGE 118, 128, juris Rn. 66; VGH BW, U.v. 6.3.2018 – 6 S 1168/17 – juris). Darüberhinausgehende Zweckmäßigkeitserwägungen sind den Gerichten verwehrt (Voßkuhle, JuS 2008, 117). Dementsprechend kann nicht die subjektive Willkür des Normgebers, sondern nur die objektive, d.h. die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Norm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll, zur Feststellung der Rechtswidrigkeit führen (BVerfG, B.v. 20.3.1979 – 1 BvR 111/74 – BVerfGE 51, 1 ; BVerwG, U.v. 13.12.1984 – 7 C 3.83 – NVwZ 1985, 566).
Bei der Kontrolldichte der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung von Verordnungen wird man allerdings differenzieren müssen. Der Beurteilung von Prognoseentscheidungen des Gesetzgebers legt das Bundesverfassungsgericht je nach Zusammenhang differenzierte Maßstäbe zu Grunde, die von einer Evidenzüber eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Im Einzelnen maßgebend sind Faktoren wie die Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, die Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und die Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter (vgl. BVerfGE 50, 290 ; 83, 130 ). Entsprechendes gilt für die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Prognoseentscheidungen des Verordnungsgebers, wenn die Prognoseentscheidung durch den ermächtigenden parlamentarischen Gesetzgeber auf den Verordnungsgeber übertragen wurde (BVerfG, B.v. 27.6.2002 – 2 BvF 4/98 – BVerfGE 106, 1 Rn. 69 f.). Zwar mag im Rahmen der Rechtsetzung nach § 32 IfSG in tatsächlicher Hinsicht bei der Einordnung der Covid-19-Pandemie ein Einschätzungsspielraum (vgl.2.b.) gerade auch zu Beginn des Infektionsgeschehens bestanden haben. Es entspricht auch der Struktur der §§ 28 Abs. 1, 32 Satz 1 IfSG, dass sich dieser auf der Tatbestandseite bestehende Einschätzungsspielraum auf der Rechtsfolgenseite in dem Ausmaß und der Intensität der Bekämpfungsmaßnahmen niederschlägt. Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen – „Wie“ des Eingreifens – ist der Behörde Ermessen eingeräumt. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss, nämlich Maßnahmen, die zur Verhinderung der (Weiter-)Verbreitung der Krankheit geboten sind. Darüber hinaus sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt, d.h. die verordneten Maßnahmen müssen auch im Verhältnis zu den mit ihnen verbunden Rechtseingriffen angemessen erscheinen.
Allerdings hängt die Bestimmung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte des Rechtsetzungsermessens bei dem Erlass von Rechtsverordnungen durch die Verwaltung im Wesentlichen vom Verordnungstyp ab und orientiert sich an den Maßstäben der Evidenz und Vertretbarkeit (Ossenbühl in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2007, § 103 Rechtsverordnung Rn. 85).
Als Normkonkretisierung und/oder Gesetzesergänzung ist Verordnungsgebung Rechtsetzung, nicht bloße Rechtsanwendung. Dem Verordnungsgeber steht nach dem Maße der ihm delegierten Rechtsetzungsbefugnis ein Raum eigener Gestaltungsfreiheit zu, den er nicht etwa im Wege deduktiver Ableitung aus gesetzlichen Vorgaben, sondern vielmehr durch politische Sach- und Willensentscheidungen im Rahmen eines gesetzlichen Programms ausfüllt. Das Verordnungsermessen als eigengeartetes Phänomen ist von der legislativen Gestaltungsfreiheit des parlamentarischen Gesetzgebers einerseits und von dem administrativen Ermessen (Verwaltungsermessen) andererseits zu unterscheiden. Mit der legislativen Gestaltungsfreiheit mag das Verordnungsermessen strukturell vergleichbar sein; jedoch unterscheidet sich die legislative Gestaltungsfreiheit vom Verordnungsermessen durch das Fehlen inhaltlicher Vorgaben und Direktiven und durch das Maß an demokratischer Legitimation. Wenn sich die Verordnungsgebung gerade darauf bezieht, dass der Verordnungsgeber an Stelle des parlamentarischen Gesetzgebers die formalgesetzlich noch nicht vollständig ausgeformte Entscheidung des Parlamentes zu Ende denken und damit „konkretisieren“ soll, ist sie der richterlichen Kontrolle nur beschränkt zugänglich. Der Richter kann nur nachprüfen, ob der Verordnungsgeber sich mit seiner Gesetzeskonkretisierung innerhalb des vorgegebenen Bedeutungsrahmens und des Ziels der gesetzlichen Regelung bewegt (Ossenbühl, a.a.O. Rn. 41 f.).
Werden Rechtsverordnungen dagegen auch als Instrumente zur Regelung von Einzelfällen eingesetzt, handelt es sich qualitativ nicht mehr um einen Akt der Normsetzung. Wenn eine Rechtsverordnung Funktion und Regelungsgehalt eines Verwaltungsaktes übernimmt, so liegt es nahe, sie derselben Kontrollintensität auszusetzen wie Verwaltungsakte, unbeschadet der Frage, in welchem Verfahren die Rechtsverordnung zur richterlichen Überprüfung gelangen kann (Ossenbühl, a.a.O. Rn. 47f; ebenso Weitzel, Justitiabilität des Rechtsetzungsermessens, Diss. 1998, S. 218).
(b) Unter Beachtung dieser Prämissen ist die Verordnungsgebung nach den §§ 32 Satz 1, 28 a.F. IfSG unter der zuletzt genannten Kategorie einzuordnen, mit der Folge, dass sie einer weitgehenden richterlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegt. Es bestehen bereits Zweifel, ob der historische Gesetzgeber des BSeuchG und daran im Anschluss des IfSG tatsächlich die Generalklausel des § 28 IfSG auch im Hinblick auf sog. Lockdowns oder Shutdowns entwickelt hat, in dem Sinne, dass den Landesregierungen oder den subdelegierten Stellen der Erlass solch flächendeckender und umfassender, das gesamte öffentliche Leben eines Landes tiefgreifend umgestaltender Einschränkungen erlaubt werden sollte. Die Möglichkeit, zur Infektionsbekämpfung Rechtsverordnungen zu erlassen, wurde durch § 38a BSeuchG i.d.F. vom 18. Dezember 1979 (BGBl. I S. 2262) in das BSeuchG eingefügt. In der Gesetzesbegründung zu § 38a BSeuchG (BT-Drs. 8/2468 S. 29) wurde auf die Begründung der im wesentlichen inhaltsgleichen Regelung des § 12a BSeuchG verwiesen. Danach wollte der historische Gesetzgeber die Regelungslücke einer fehlenden Normsetzungsbefugnis schließen, da „bestimmte Maßnahmen des Infektionsschutzes sinnvoll nur in Form einer allgemeinverbindlichen Regelung, also in einer Rechtsnorm, erlassen werden“ könnten; hierzu gehörten „z.B. die Verhängung eines Badeverbots für bestimmte Flußstrecken, das Verbot des Betretens eines Waldes oder die Anordnung von Verhaltensmaßregeln beim Betreten des Waldes zur Verhütung der Tollwut beim Menschen“ (BT-Drs. 8/2468 S. 21). Weiter heißt es in der Begründung:
„Um eine einwandfreie Rechtsgrundlage für den Erlass allgemeinverbindlicher Gebote oder Verbote zur Verhütung übertragbarer Krankheiten zu schaffen, soll der neue § 12 a in das BSeuchG eingefügt werden. Er ergänzt die §§ 10, 10 a, 10 b und 12 und bezieht sich wie diese nur auf die Abwehr konkreter Gefahren. Der Erlass von Rechtsverordnungen ist an die gleichen inhaltlichen Voraussetzungen geknüpft, die auch für Maßnahmen nach den genannten Vorschriften gelten. Die vorgeschlagene Fassung lehnt sich im Übrigen an die in verschiedenen Ländern bestehenden Ermächtigungsvorschriften zum Erlass von ordnungsbehördlichen Verordnungen (Polizeiverordnungen) an.“
Anhaltspunkte, welche dem Verordnungsgeber bei der Auswahl der Mittel einen Spielraum eröffnen könnten, lassen sich der Gesetzesbegründung nicht entnehmen. Auch die nationale Pandemieplanung kannte bis zu dem pandemischen Auftretens des Coronavirus die Begriffe des „Lockdown“ oder „Shutdown“ bzw. die dazugehörigen Maßnahmenbündel nicht (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Ergaenzung_Pandemieplan_Covid.pdf? blob=publicationFile; https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/187/28Zz7BQWW2582iZMQ.
pdf?sequence=1& isAllowed=y; https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Preparedness_ Response/Rahmenkonzept_Epidemische_bedeutsame_Lagen.html).
Es entsprach auch nach wie vor den Vorgaben des Bundesgesetzgebers durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) und der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag am 25. März 2020 (Plenarprotokoll 19/154 S. 19169), dass Maßnahmen, die auf die §§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden, notwendig sein müssen und damit auch einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen. Ob dem Verordnungsgeber bei der Auswahl der Maßnahmen wegen der unbekannten Wirkung der Maßnahmen ein gewisser Spielraum einzuräumen ist, kann dabei nicht generell beantwortet werden, sondern ist eine Frage der konkreten Maßnahme und der Umstände.
(c) Bei Anwendung dieser Maßstäbe stellt sich das vom Antragsgegner erlassene Veranstaltungs- und Versammlungsverbot als verhältnismäßig dar.
(aa) Das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot war grundsätzlich geeignet, den gesetzlichen Zweck der Maßnahme zu erfüllen und die Übertragung des Coronavirus jedenfalls zu hemmen (§ 1 Abs. 1 Var. 3 IfSG). Durch das Veranstaltungs- und Versammlungsverbot kommt es zur Kontaktreduzierung im öffentlichen und privaten Raum.
(bb) Der Verordnungsgeber hat bei der Auswahl seiner Maßnahmen von mehreren gleich geeigneten Mitteln das die Grundrechte der Normadressaten weniger belastende zu wählen. Im vorliegenden Fall kamen als mildere Maßnahmen Versammlungsbeschränkungen in Betracht, wie z.B. Abstandsgebote, Hygieneregeln sowie personelle, zeitliche und örtliche Beschränkungen (so etwa Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Auflage 2021, V.3. unter Hinweis auf VG Hamburg, B. v. 16.4.2020 – 17 E 1648/20 – BeckRS 2020, 9930, Rn. 13 ff). Dabei ist jedoch zu beachten, dass es gerade in dieser Phase der Pandemie laut Schlussfolgerung des RKI vom 20. März 2020 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Modellierung_Deutschland.pdf? blob=publicationFile) von jetzt an und in den nächsten Wochen maximale Anstrengungen erforderlich waren, um die COVID-19-Epidemie in Deutschland zu verlangsamen, abzuflachen und letztlich die Zahl der Hospitalisierungen, intensivpflichtigen Patienten und Todesfälle zu minimieren. Stehen dem Verordnungsgeber bei der Bekämpfung einer pandemischen Infektionslage abgestufte, unmittelbar wirkende Bekämpfungsmaßnahmen zur Verfügung, so ist er nicht verpflichtet bei der Bekämpfung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit und den Unsicherheiten über den Erfolgseintritt der möglichen Bekämpfungsmaßnahmen, im Zweifel die den Einzelnen weniger belastende Maßnahme auszuwählen. Insoweit ist ihm jedenfalls in dieser zeitlichen Phase der Pandemiebekämpfung ein gewisser Spielraum einzuräumen. Dies gilt im hier zu entscheidenden Fall vor allem auch deshalb, weil der Gesetzgeber in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG die Beschränkung und das Verbot von Ansammlungen ausdrücklich als Bekämpfungsmaßnahme aufgeführt hat und ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG nicht notwendig war. Deshalb war aus der Sicht im Zeitraum des Erlasses und der Geltungsdauer der streitgegenständlichen Norm die Reduktion der Anzahl der Versammlungen durch ein repressives Verbot mit Ausnahmemöglichkeit voraussichtlich besser geeignet als Versammlungsbeschränkungen oder ein bloßer Erlaubnisvorbehalt, um die Anzahl und das Ausmaß von Versammlungen und damit Ansammlungen i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG zu reduzieren und so die Verbreitung des Coronavirus besser zu hemmen.
(cc) Das Versammlungsverbot nach § 1 Abs. 1 Satz 1 und 3 1. BayIfSMV war während der Geltungszeit auch angemessen. Die Angemessenheit oder auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn fordert, dass der Nutzen der Maßnahme nicht zu den dadurch herbeigeführten Beeinträchtigungen außer Verhältnis stehen darf. Das Gebot erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme und den durch die Maßnahmen herbeigeführten Beeinträchtigungen und setzt dem Ergebnis eine Grenze (vgl. Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20 GG VII. Rn. 117). Versammlungsverbote dürfen grundsätzlich als tiefgreifendste Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG auch in Ansehung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische und freiheitliche Gemeinwesen allerdings nur verfügt werden, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und der hierdurch bewirkte Grundrechtseingriff insgesamt nicht außer Verhältnis steht zu den jeweils zu bekämpfenden Gefahren und dem Beitrag, den ein Verbot zur Gefahrenabwehr beizutragen vermag (stRspr, vgl. z.B. BVerfG, B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 16; vgl. auch BayVGH, B.v. 29.4.2010 – 10 CS 10.1040 – juris Rn. 12 m.w.N.). Ein Versammlungsverbot scheidet nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit demnach aus, solange mildere Mittel und Methoden der Rechtsgüterkonfliktbewältigung wie versammlungsrechtliche Beschränkungen und der verstärkte Einsatz polizeilicher Kontrollen nicht ausgeschöpft oder mit tragfähiger Begründung ausgeschieden sind (BVerfG, B.v. 4.9.2009 – 1 BvR 2147/09 – juris Rn. 17 m.w.N.). Das repressive Versammlungsverbot mit Befreiungsmöglichkeit nach § 1 Abs. 1 Satz 1 und 3 1. BayIfSMV, das grundsätzlich einen Vorrang des Infektionsschutzrechts begründet, stellt einen sehr schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG dar. Durch die Befreiungsmöglichkeit nach § 1 Abs. 1 Satz 3 1. BayIfSMV in der durch den Verwaltungsgerichtshof gefundenen Rechtsauslegung (s.o.) konnte allerdings ein Kernbestand des Versammlungsrechtes auch gegenüber dem Infektionsschutz gewahrt werden. Ähnliches gilt im Hinblick auf die ausnahmsweise Zulassung von Gottesdienstes und anderen religiösen Zusammenkünften im Rahmen der Gewährleistung der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG. Hier hatten die Infektionsschutzbehörden im Rahmen des § 1 Abs. 1 Satz 3 1. BayIfSMV im Einzelfall das konkrete Infektionsrisiko abzuschätzen. Dabei war die konkrete Ausgestaltung der religiösen Zusammenkunft (gemeinsamer Gesang, Zahl der Teilnehmer etc.) zu bewerten. Für die Risikoeinschätzung bedeutsam dürften unter anderem auch die Größe, Lage und bauliche Beschaffenheit der jeweiligen Einrichtung sowie Größe und Struktur der Religionsgemeinschaft gewesen sein (BVerfG, B. v. 29.4.2020 – 1 BvQ 44/20 – juris Rn 13).
Bei alldem muss allerdings vergegenwärtigt werden, dass auf der Grundlage des damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstandes keineswegs geklärt war, auf welche Weise und mit welcher Wahrscheinlichkeit sich der Coronavirus ausbreitet und zukünftig ausbreiten wird (vgl. Mitteilungen des Arbeitskreises Blut des Bundesministeriums für Gesundheit S. 2, https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/AK_Blut/Stellungnahmen/download/COVID.pdf? blob=publicationFile). Relativ bald wurde jedoch von einer hohen Infektiosität des Virus ausgegangen (COVID-19: Jetzt handeln, vorausschauend planen Strategie-Ergänzung zu empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen und Ziel vom 19. März 2020 S. 1, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/12_20.pdf? blob=publicationFile). Es entspricht auch der Struktur der §§ 28 Abs. 1, 32 Satz 1 IfSG, dass sich der auf der Tatbestandseite bestehende Einschätzungsspielraum hinsichtlich des Gefährdungspotenzials einer Epidemie/Pandemie auf der Rechtsfolgenseite in dem Ausmaß und der Intensität der Bekämpfungsmaßnahmen niederschlägt. Schließlich muss in die Betrachtung das hohe Infektionspotenzial von Versammlungen als Menschenansammlungen einfließen. Mit einer höheren Zahl von Teilnehmern steigt das Risiko von Neuinfektionen und erhöht sich die Gefahr der unkontrollierten Ausbreitung des Virus, auch weil Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar sind (vgl. auch VGH BW, B.v. 16.5.2020 – 1 S. 1541720 – juris Rn. 9). Größere Ausbrüche von Corona sind immer dann zu verzeichnen, wenn eine größere Menschenmenge zusammentrifft, weil es unter ungünstigen Bedingungen zu einer Übertragung des Virus auf viele Personen kommen kann. Bei Versammlungen gilt zudem, dass häufig keine Kontaktdaten vorliegen, so dass auch eine Nachverfolgung nicht möglich ist (BayVGH, B. v. 29.5.2020 – 10 CE 20.1291 – juris).
Hinzu kommt, dass im Geltungszeitraum der streitgegenständlichen Regelung eine erhebliche Knappheit an Mund-Nase-Bedeckungen, mithilfe derer sich das Gefährdungspotential von Versammlungen hätte verringern lassen, herrschte. Diese sollten vorrangig für das medizinische und pflegerische Personal bereitgestellt werden (vgl. hierzu Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung S. 24/25, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Ergaenzung_Pandemieplan_Covid.pdf? blob=publicationFile;). Mund-Nasen-Schutz und FFP2-/FFP3-Masken waren auch später ein essenzieller Bestandteil einer sicheren Arbeitssituation in Krankenhäusern und bei der Pflege von Erkrankten und hilfsbedürftigen Menschen und mussten prioritär in diesen Bereichen eingesetzt werden ()https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20.pdf? blob=publicationFile).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 52 Abs. 1 GKG.
4. Die Revision wird zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).


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