Medizinrecht

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Aktenzeichen  RO 4 E 21.516

Datum:
3.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20954
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zur Behebung ihrer Obdachlosigkeit ein Einzelzimmer in einer Unterkunft zuzuweisen und ihr vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin eine Einzelunterbringung im Rahmen der Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft.
Die am … 1982 geborene Antragstellerin hatte – wie sich aus dem Gutachten auf nervenärztlichem und psychosomatischem Fachgebiet des Dr. … vom 21.09.2020 ergibt – im Februar 2010 einen Erstkontakt mit Heroin, nachdem sie bereits im Alter von 12 Jahren mit THC in Berührung gekommen war, was sie seitdem durchgängig konsumiert. Wie das Gutachten weiter ausführt, unternahm die Antragstellerin im Alter von 14 Jahren einen Selbstmordversuch, nachdem ihr Onkel versucht hatte, sie zu vergewaltigen. In verschiedenen weiteren ärztlichen Attesten, Gutachten und Berichten, auf die das Gutachten des Dr. … Bezug nimmt, wird bestätigt, dass bei der Antragstellerin unter anderem am 22.02.2012 eine schwergradige depressive Störung mit völliger Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit und völligem sozialen Rückzug, am 22.05.2017 eine Polytoxikomanie, Persönlichkeitsstörung und rezidivierende Depression, am 09.01.2018 (Bezirksklinikum Regensburg) eine psychische und Verhaltensstörung durch Opioide, ein Abhängigkeitssyndrom, eine posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), eine mittelgradige depressiven Episode, ein intravenöser Konsum von Heroin, eine generalisierte ideopathische Epilepsie und epileptische Syndrome, eine psychische und Verhaltensstörung durch Sedativa und Hypnotika und ein Abhängigkeitssyndrom, am 14.04.2020 ein Abhängigkeitssyndrom durch Opioide, Cannabinoide, amphetaminhaltige Stoffe und Tabak, eine PTBS, eine rezidivierende depressive Episode, mittelgradig (Entlassungsbericht Bezirksklinikum Regensburg nach einem Aufenthalt vom 30.09.2019 bis 06.04.2020) vorgelegen haben. Weitere Berichte, Gutachten und Atteste enthalten ähnliche Diagnosen. Im Gutachten des Dr. … selbst wird der Antragstellerin psychiatrisch eine affektive Störung mit depressiver und Angstsymptomatik, eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung sowie eine polyvalente Abhängigkeit von psychoaktiven Stoffen bestätigt.
Mit Schreiben vom 05.03.2021 wandte sich der Bevollmächtigte der Antragstellerin an die Antragsgegnerin und beantragte ihre sofortige ganztägige Unterbringung. Er trug vor, dass die Antragstellerin seit 2019 in Regensburg im Wesentlichen im UfO (Unterkunft für Obdachlose) lebe und eine Vollerwerbsunfähigkeitsrente beziehe. Leider sei im UfO versäumt worden, die Antragstellerin über ihr Recht auf ganztägige Unterbringung aufzuklären. Hinzu komme, dass bei der Antragstellerin eine Reihe körperlicher wie auch psychischer Erkrankungen fachärztlich diagnostiziert seien. Ihr Zustand habe sich nun weiter verschlechtert. Sie sei gerne bereit, an einer amtsärztlichen Untersuchung teilzunehmen, jedoch sei sie aufgrund der Gesetzeslage sofort unterzubringen und nicht erst danach.
Mit Schreiben vom 09.03.2021 teilte die Antragsgegnerin mit, dass sich die Antragstellerin seit Mai 2020 in der UfO in der … Straße … befinde. Die Antragsgegnerin gewährleiste allen Bewohnern dieser Einrichtung einen ganztägigen Aufenthalt. Anders als in früheren Einrichtungen sei das Verlassen des Gebäudes nun nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Für die Zuweisung einer Notwohnung an Einzelpersonen sei eine Gesundheitsüberprüfung durch das örtliche Gesundheitsamt unabdingbar. Soweit der Bevollmächtigte der Antragstellerin den Bedarf einer Notwohnung vermute, bitte man zeitnah um Vorlage sämtlicher relevanter medizinischer Nachweise. Derzeit lägen der Fachstelle zur Vermeidung von Obdachlosigkeit keinerlei medizinische Unterlagen vor, weshalb die Einleitung einer Überprüfung der Sachlage durch das Gesundheitsamt nicht durchgeführt werden könne.
Mit Schreiben vom 11.03.2021 übermittelte der Bevollmächtigte der Antragstellerin eine Stellungnahme der Diplompsychologin … (Drogenhilfe Regensburg e.V.) vom 03.03.2021, wonach die Antragstellerin seit drei Jahren obdachlos sei und seit einem Jahr in der Obdachlosenunterkunft in R. lebe. Diese Wohnsituation empfinde die Antragstellerin als sehr belastend: Sie habe dort keine Rückzugsmöglichkeit (Drei-Bett-Zimmer) und es sei ihr in dieser Situation fast unmöglich in Stresssituationen zur Ruhe zu finden. Oft triggerten verschiedene Situationen sogar Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), ebenso der Suchterkrankung. Aus diesen Gründen werde die Zuweisung einer Notunterkunft befürwortet, um eine weitere Stabilisierung und Reduktion des Suchtmittelkonsums erreichen zu können.
Am 17.03.2021 hat die Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO gestellt.
Sie trägt vor, dass sie 2019 in R. unfreiwillig obdachlos geworden sei und in der Regel im Städtischen Obdachlosenasyl UfO seit Mai 2020 in einem Raum mit anderen Obdachlosen übernachte. Sie leide an zahlreichen schweren und chronischen körperlichen wie psychischen Erkrankungen, wie sich aus dem Attest der behandelnden Psychotherapeutin … und dem fachärztlichen Gutachten des Facharztes Dr. … ergebe. Konkret seien dies eine Hepatitis C – Infektion, eine affektive Störung mit depressiver und Angstsymptomatik (F 33.1), eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung mit Ähnlichkeit zu einer organischen Persönlichkeitsstörung (F 11.71), eine Abhängigkeit von psychoaktiven Stoffen, vor allem Heroin (F 11.2), aber auch Stimulantien (F 15.2), sowie Cannabinoide (F 12.2) und Kokain (F 14.1) und Tabak (F 17.2) und eine posttraumatische Belastungsstörung. Sie habe seit langem einen Vormerkbescheid auf eine Sozialwohnung und habe sich auch selbst bemüht, eine Wohnung zu finden, jedoch ohne Erfolg. Erschwerend komme hinzu, dass im UfO der Stadt die Corona-Abstandsregel nicht eingehalten werden könnte, da die Obdachlosen, so auch die Antragstellerin, mit anderen Personen in einem ungenügend großen Zimmer schlafen müsse. Die Antragsgegnerin zögere die Unterbringung der Antragstellerin hinaus, diese müsse sich erst vom Gesundheitsamt begutachten lassen. Entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin handle es sich nicht um eine ganztägige Unterbringung. Es sei für die Antragstellerin unerträglich, in einem Zimmer mit anderen zu übernachten. Die Dringlichkeit ergebe sich aus der unfreiwilligen Obdachlosigkeit, bei der Gefahr für Leib und Leben bestehe. Der Zustand der Antragstellerin habe sich ausweislich des Attests der Psychotherapeutin in letzter Zeit verschlechtert und es verschlechtere ihren Zustand weiterhin, dass sie mit anderen Personen in einem Zimmer schlafen müsse.
Im Verlauf des Verfahrens legte die Antragstellerin nach richterlichem Hinweis zur weiteren Glaubhaftmachung das Attest des sie behandelnden Arztes Dr. … vom 23.03.2021 vor, wonach sie ihm seit Jahren als psychiatrische Patientin bekannt sei. Sie stehe aktuell in ambulanter Behandlung. Die anderen alkoholkranken Mitbewohner triggerten sie extrem negativ. Als Jugendliche sei sie von ihrem alkoholkranken Onkel schwer misshandelt worden, so dass die Situation in der Notunterkunft für sie sehr belastend sei. Sie brauche dringend eine ganztägige Einzelunterbringung.
Die Antragstellerin beantragt zuletzt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig ganztägig eine Einzelunterbringung in einer Notunterkunft der Antragsgegnerin zu geben.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie trägt vor, dass die Antragstellerin am 06.04.2020 erstmals in der Unterkunft für Obdachlose (UfO) in der … Straße … erschienen sei und um Unterbringung gebeten habe. Sie habe zum damaligen Zeitpunkt angegeben, von einer befristeten Erwerbsminderungsrente in Höhe von monatlich 890 Euro zu leben und aufgrund eines längeren Aufenthalts im Bezirksklinikum Regensburg keinen festen Wohnsitz zu haben. Der Antragstellerin sei die Unterbringung bewilligt worden. Seither übernachte sie mit Ausnahme von lediglich fünf vereinzelten Nächten stetig in der Unterkunft für Obdachlose. Die Antragstellerin sei in tatsächlicher Hinsicht nicht obdachlos. Nach den vorliegenden Informationen befinde sie sich aktuell in der Unterkunft für Obdachlose der Antragsgegnerin. Die Einrichtung sei 24 Stunden am Tag zugänglich. Darüber hinaus könne die Antragstellerin keinen Anspruch auf Zuweisung einer Notwohnung an sie als Einzelperson geltend machen. Die Gefahrenabwehrpflicht der Sicherheitsbehörde gelte nur bezüglich der Abwehr einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit. Selbstverständlich handle es sich bei der Obdachlosenunterkunft um eine menschenwürdige Unterbringung, welche von der Antragsgegnerin selbst betrieben werde und unter anderem die Unterbringung in kleinen Gruppen und einen separaten Unterbringungstrakt nur für Frauen biete. Die Bewohner könnten ganztags in der Unterkunft bleiben. Unzutreffend sei, dass die Abstandsregeln in der Unterkunft nicht eingehalten werden könnten. Die Unterkunft sei grundsätzlich auf eine Kapazität von 78 Personen ausgelegt. Aufgrund der vorherrschenden Pandemie sei die Belegung der Räume entzerrt und die Gesamtkapazität auf 54 Betten heruntergefahren worden. Durch diese Maßnahme könne gewährleistet werden, dass höchstens 3 Personen in einem Zimmer nächtigten und die gebotenen Abstandsflächen gewahrt würden. Auf den Gängen und in den Gemeinschaftsräumen gelte Maskenpflicht. Die Möglichkeit einer ganztägigen Unterbringung erfordere nach Sicht der Antragsgegnerin auch nicht einen ganztägigen Aufenthalt im Schlafraum, sondern lediglich den ganztägigen Aufenthalt in der Einrichtung. Dieser sei unabhängig von der Pandemielage gewährleistet. Zur Abwendung der Obdachlosigkeit sei weder die Beschaffung einer dauerhaften Unterkunft erforderlich, noch müsse die Unterkunft den an eine Wohnung zu stellenden Anforderungen genügen. Die Antragsgegnerin komme ihrer Pflichtaufgabe einer menschenwürdigen Unterbringung vollumfänglich nach. Die Überprüfung einer möglichen Unterbringung in der Notwohnanlage … sei in Aussicht gestellt worden, die erforderliche Mitwirkung durch die Antragstellerin sei bis heute nicht abschließend erfüllt worden. Die Antragstellerin sei darüber hinaus auf die Pflicht zur Selbsthilfe zu verweisen. Sie beziehe eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 890 Euro und seit 2011 sei ein gesetzlicher Betreuer bestellt, welcher sich um ihre Angelegenheiten kümmere. Die Antragstellerin habe auch keinen Anordnungsgrund dargelegt.
Zum Nachweis der ganztägigen Unterbringung übersandte die Antragsgegnerin einen Ausdruck der Städtischen Webseite, auf welcher die Unterkunft für Obdachlose beschrieben werde. Sie sei hiernach 24 Stunden am Tag zugänglich. Selbst wenn man den Antrag als Antrag auf Einzelunterbringung auslegen und für zulässig halten würde, habe die Antragstellerin nach wie vor keinen Antraganordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Eine psychologische Stellungnahme sei kein ärztliches Attest und könne somit keinen krankheitsbedingten Zusatzbedarf belegen. Darüber hinaus werde seitens der Diplompsychologin lediglich die Zuweisung einer Notunterkunft “befürwortet”, was nicht ausreichend sei. Es müsse mindestens eine ärztliche Bescheinigung vorliegen. Die vorgelegte ärztliche Bescheinigung des Dr. … sei weder aktuell, noch geeignet einen Zusatzbedarf zu begründen. Die Begutachtung sei bereits mehr als sechs Monate alt. Ein entsprechendes Attest habe aber aktuell zu sein. Die Antragsgegnerin könne im gesamten Gutachten zwar Hinweise auf Vorerkrankungen, jedoch keinerlei Hinweise auf die Notwendigkeit einer Einzelunterbringung feststellen. Auch die vorherrschende Corona-Pandemie begründe keinen Anspruch auf Unterbringung in einem Einzelzimmer. Ein Anordnungsgrund liege ebenfalls nicht vor. Die von der Antragstellerin bislang vorgelegten “Bescheinigungen” ließen überdies nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit erkennen, dass eine – positive – Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde, irreparable Nachteile entstünden oder existenzielle Belange der Antragstellerin in nicht hinnehmbarer Weise betroffen seien.
Ergänzend beruft sich die Antragsgegnerin am 30.04.2021 darauf, dass die vorgelegten ärztlichen/psychologischen Bescheinigungen weder aktuell noch geeignet seien, einen Zusatzbedarf zu begründen. Es sei nicht ersichtlich, dass einzig durch die Zurverfügungstellung eines Einzelzimmers eine menschenwürdige, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung erfolgen könnte. Eine zwingend medizinisch indizierte Notwendigkeit der Unterbringung werde jedenfalls nicht zum Ausdruck gebracht. Die zur Begründung herangezogenen Atteste datierten auf den 03.03.2021 und den 23.03.2021 und könnten daher schon “keine Aussage über den jetzigen Zustand” der Antragstellerin treffen. Sie ließen auch keine Rückschlüsse zu, wie sich der Zustand der Antragstellerin aktuell gestalte, nachdem diese gerade erst eine Entgiftung im Bezirksklinikum durchlaufen habe. Die Argumentation, die Dringlichkeit ergebe sich aus der unfreiwilligen Obdachlosigkeit könne lediglich die Unterbringung an sich rechtfertigen, nicht jedoch die begehrte Einzelunterbringung. Die Antragstellerin nächtige mittlerweile wieder in der Unterkunft für Obdachlose und verhalte sich dort unauffällig. Eine Änderung des Zustands stehe nicht unmittelbar bevor. Die Angelegenheit sei mithin nicht dringlich, ein Anordnungsgrund bestehe nicht.
Mit Schreiben vom 31.03.2021 teilte die Antragsgegnerin mit, dass sich die Antragstellerin seit zwei Tagen gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten für vier Wochen zur freiwilligen Entgiftung im Bezirksklinikum Regensburg befinde. Sie sei am 29.03.2021 aus der Unterkunft für Obdachlose ausgezogen. Auf telefonische Nachfrage beim Bezirksklinikum sei die Aufnahme der Antragstellerin für vier Wochen bestätigt worden.
Mit Schreiben vom 17.04.2021 erklärte der Bevollmächtigte der Antragstellerin aufgrund vorübergehenden Aufenthalts der Antragstellerin im Bezirkskrankenhaus Regensburg den Antrag für erledigt.
Mit Schreiben vom 22.04.2021 teilte die Antragsgegnerin mit, dass der Erledigungserklärung der Antragstellerin mangels Erledigung der Hauptsache nicht zugestimmt werden könne. Der Bevollmächtigte der Antragstellerin habe inzwischen die Entlassung der Antragstellerin mitgeteilt und erneut eine Einzelunterbringung beantragt.
Am 27.04.2021 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Einzelunterbringung der Antragstellerin erneuert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte mit den eingereichten Schriftsätzen und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg, weil die Antragstellerin die Tatsachen glaubhaft gemacht hat, aus denen sich der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund ergeben (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).
Dabei bezeichnet der Anordnungsanspruch denjenigen materiell-rechtlichen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (BVerwG, B.v. 21.1.1994 – 7 VR 12/93 – NVwZ 1994, 370). Ergibt eine summarische Prüfung des betreffenden Begehrens, dass der Antragsteller in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein wird, dann ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs zu bejahen (BVerfG, B.v. 25.10.1998 – 2 BvR 745/88 – NJW 1989, 827; BayVGH, B.v. 23.7.2012 – 11 AE 12.1013 – juris Rn. 27). Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der Notwendigkeit, schon vor einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache Rechtsschutz zu gewähren (BayVGH, B.v. 19.2.2018 – 10 CE 17.2258 – juris Rn. 7). Soll die gerichtliche Entscheidung – wie hier – zur vorläufigen Regelung eines streitigen Rechtsverhältnisses erfolgen, dann ist ein Anordnungsgrund zu bejahen, wenn die Anordnung nötig ist, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, dann ist abschließend zu beachten, dass die einstweilige Anordnung die Entscheidung in der Hauptsache in der Regel nicht endgültig vorwegnehmen darf (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 66a).
Der Antrag ist angesichts dessen begründet, weil die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch (dazu 1.) als auch einen Anordnungsgrund (dazu 2.) glaubhaft gemacht hat. Zugleich liegt in der beantragten Anordnung keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache (dazu 3.).
1. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anspruch auf Einzelunterbringung in einer Obdachlosenunterkunft zusteht. Die Sicherheitsbehörden sind grundsätzlich verpflichtet, bestehende Obdachlosigkeit zu beenden und drohende zu vermeiden (dazu a)). Die Antragstellerin hat diesbezüglich einen Anspruch auf sicherheitsbehördliches Einschreiten (dazu b)). Dieser umfasst vorliegend auch den Anspruch auf Einzelunterbringung (dazu c)).
a) Nach Art. 6 Landesstraf- und Verordnungsgesetz (LStVG) haben die Sicherheitsbehörden, darunter die Gemeinden, die Aufgabe, die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Abwehr von Gefahren und durch Unterbindung und Beseitigung von Störungen aufrechtzuerhalten. Gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG können die Sicherheitsbehörden zur Erfüllung dieser Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen treffen, um Gefahren abzuwehren oder Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen oder Sachwerte, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, bedrohen oder verletzen. Unfreiwillige Obdachlosigkeit zieht konkrete Gefahren für Leib und Leben nach sich und stellt deshalb eine Gefahr und eine Störung der öffentlichen Sicherheit dar. In der Folge ist die zuständige Gemeinde als untere Sicherheitsbehörde zu entsprechendem sicherheitsbehördlichen Einschreiten regelmäßig verpflichtet (BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – juris Rn. 4). Die Antragstellerin hat zur Überzeugung der Kammer eine Situation unfreiwilliger Obdachlosigkeit glaubhaft gemacht.
b) Ungeachtet der – auch im öffentlichen Interesse bestehenden – Verpflichtung der Gemeinde zur Gefahrenabwehr hat die Antragstellerin den geltend gemachten Anordnungsanspruch nur dann, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf sicherheitsbehördliches Einschreiten vorliegen. Insoweit verlangt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nach dem Grundsatz der Subsidiarität (über eine konkrete Gefahr für Leib und Leben hinaus), dass der Obdachlose nicht in der Lage ist, seine Obdachlosigkeit aus eigener Kraft zu beseitigen (BayVGH, B.v. 10.3.2005 – 4 CS 05.219 – juris Rn. 5; B.v. 23.1.2008 – 4 CE 07.2893 – juris Rn. 7). Dies ist der Fall, wenn der Betreffende nicht die rechtliche oder tatsächliche Möglichkeit hat, sich in einer anderen Unterkunft aufzuhalten oder wenn ihm keine finanziellen Mittel zur Beschaffung einer wenigstens vorübergehenden Unterkunft zur Verfügung stehen (Holzner in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern, Stand 1.2.2019, Art. 7 LStVG Rn. 146 f.).
Das Gericht geht nach dem Vortrag der Antragstellerin davon aus, dass ihr entsprechende Möglichkeiten nicht offenstehen. Zwar unterstellt das Gericht, dass die Antragstellerin nach dem insoweit nicht bestrittenen Vortrag der Antragsgegnerin eine Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von ca. 890 EUR bezieht. In Anbetracht der langjährigen und schwerwiegenden Drogenabhängigkeit der Antragstellerin hält es die Kammer aber jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht für realistisch, dass die Antragstellerin auf dem freien Wohnungsmarkt kurzfristig eine Wohnung finden könnte.
c) Die Antragstellerin hat auch den geltend gemachten Anspruch auf Einzelunterbringung.
Bei den Anforderungen an die von der Sicherheitsbehörde zu gewährende Unterkunft ist zu berücksichtigen, dass Obdachlosenfürsorge nicht der “wohnungsmäßigen Versorgung”, sondern der Verschaffung einer vorübergehenden Unterkunft einfacher Art dient (vgl. BayVGH, B.v. 03.08.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5). Auch unter Berücksichtigung der humanitären Zielsetzung des Grundgesetzes ist es daher in aller Regel ausreichend, wenn obdachlosen Personen eine Unterkunft zugewiesen wird, die vorübergehend Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet und Raum für die notwendigen Lebensbedürfnisse lässt. Allerdings liegt die Grenze zumutbarer Einschränkungen dort, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BayVGH, B.v. 18.02.2019 – 4 CE 19.238 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 3.8.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5). Liegt daher eine ärztliche Bescheinigung vor, die dem Unterzubringenden einen krankheitsbedingten Zusatzbedarf bestätigt, so kann die Sicherheitsbehörde diesen im Regelfall nur verweigern, wenn sie aufgrund besserer fachlicher Erkenntnis, z. B. unter Verweis auf eine von ihr veranlasste amtsärztliche Untersuchung, zum gegenteiligen Ergebnis gelangt ist (vgl. Ehmann, Obdachlosigkeit, 2. Aufl. 2006, S. 98). Solange dies nicht geschehen ist, muss dem Unterbringungsbegehren in der durch ein ärztliches Attest bestätigten Form jedenfalls vorläufig bis zu einer näheren Aufklärung des Sachverhalts stattgegeben werden (vgl. BVerfG, B.v. 7.4.1993 – 1 BvR 565/93 – NVwZ 1993, 1181).
Aus diesen Grundsätzen folgt, dass zwar in der Regel die Unterbringung in einem Mehrbettzimmer ausreichend ist (vgl. Schenk in Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, Stand: Okt. 2019, Art. 7 Rn. 185 m.w.N.), aber gegenüber der Sicherheitsbehörde im Einzelfall ein Anspruch auf Unterbringung in einem Einzelzimmer bestehen kann, wenn hierfür eine Notwendigkeit ärztlich belegt ist (vgl. VG München, B.v. 23.08.2017 – M 22 E 17.3770, juris Rn. 22).
Hiervon geht das Gericht im vorliegenden Fall aus. Die Antragstellerin hat den von ihr beanspruchten Sonderbedarf für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls spätestens durch Vorlage des fachärztlichen Attests des Dr. … in ausreichender Weise glaubhaft gemacht. Entgegen der Einschätzung der Antragsgegnerin, dass eine “zwingend medizinisch indizierte Notwendigkeit” nicht belegt sei, hält das Gericht die Formulierung in dem genannten Attest, dass die Antragstellerin “dringend eine ganztägige Einzelunterbringung bräuchte” in ihrem Aussagegehalt für eindeutig und unmissverständlich.
Das Gericht hat an der vorgelegten ärztlichen Einschätzung auch keinerlei inhaltliche Zweifel, da zum einen ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass dem bestätigenden Arzt die Antragstellerin “seit Jahren als psychiatrische Patientin bekannt” ist, und das Attest zudem mit dem Verweis auf die besondere Vorgeschichte der Antragstellerin (schwere Misshandlung durch einen alkoholkranken Onkel) auch eine nachvollziehbare Begründung enthält.
Ebenso wenig verfängt der Einwand der Antragsgegnerin, das vorgelegte Attest sei nicht aktuell genug. Das Attest datiert vom 23.03.2021 und wurde auf richterlichen Hinweis hin erst nach Antragstellung eingeholt, nachdem die Antragsgegnerin im Verfahren zunächst bemängelt hatte, das bis dahin vorgelegte Attest des Dr. … vom 21.09.2020 sei nicht aktuell genug. Nach Auffassung der entscheidenden Kammer würde es die Anforderungen deutlich überspannen, wenn einem während der Laufzeit des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes erstellten und erst wenige Wochen alten ärztlichen Attest nach derart kurzer Zeit erneut die Aktualität abgesprochen werden könnte.
Es ist auch nicht erkennbar, dass sich durch den Aufenthalt der Antragstellerin im Bezirksklinikum zur Entgiftung dahingehend etwas geändert haben könnte, dass das Verlangen nach einem neuen Attest gerechtfertigt sein könnte. Denn zum einen zeigt die gesamte Vorgeschichte der Antragstellerin, dass diese über Jahre hinweg immer wieder zur stationären Behandlung im Bezirksklinikum gewesen war, ohne dass sich an ihrem Krankheitsbild grundlegend etwas geändert hätte. Zum anderen war die Antragstellerin auch nicht wegen ihrer weiteren psychiatrischen Erkrankungen (PTBS, rezidivierende depressive Störung), sondern zur Entgiftung im Bezirksklinikum. Auch wenn beides in einem Zusammenhang stehen mag, erscheint es jedenfalls nicht lebensnah, dass das Attest vom 23.03.2021 seine Aussagekraft verloren haben könnte.
2. Neben dem Anordnungsanspruch hat die Antragstellerin einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Aus dem vorgelegten fachärztlichen Attest folgt, dass die Antragstellerin “dringend” eine ganztägige Einzelunterbringung bräuchte. Im Hinblick hierauf geht das Gericht davon aus, dass der Antragstellerin eine Verschlechterung ihres Gesundheilszustands und damit eine Verletzung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit droht, wenn bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache oder bis zu einer amtsärztlichen Untersuchung zugewartet werden würde. Inwieweit die von der Antragsgegnerin vorgetragene Tatsache, dass die Antragstellerin inzwischen wieder in der Unterkunft nächtige und sich “unauffällig” verhalte, gegen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sprechen könnte, vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen. Die Anordnung ist daher nötig, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3. In der ausgesprochenen Anordnung liegt keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache. Die Anordnung ist nur bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache wirksam und kommt schon wegen dieser zeitlichen Beschränkung den Wirkungen eines entsprechenden Urteils nicht gleich. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die sicherheitsrechtliche Unterbringung keine dauerhafte Lösung darstellt, sondern als Notmaßnahme nur der kurzfristigen Beseitigung der Obdachlosigkeit dient, so dass die Antragstellerin gehalten ist, sich ggf. unter Inanspruchnahme der ihr zustehenden Beratungs- und Hilfsangebote um eine anderweitige Unterkunft zu bemühen. Spätestens im Rahmen des Hauptsacheverfahrens ist von der Antragsgegnerin erneut zu prüfen, ob der Antragstellerin weiterhin Obdachlosigkeit droht bzw. ob eine Verlängerung der Einzelunterbringung veranlasst ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin war eine Kostenquotelung nicht wegen der Umstellung des Antrags durch den Bevollmächtigten der Antragstellerin veranlasst. Zum einen war die Antragsänderung nach der Überzeugung des Gerichts sachdienlich, die Regelung des § 91 Abs. 1 VwGO findet insoweit entsprechende Anwendung (vgl. Rennert in Eyermann VwGO, 15. Aufl. 2019, § 91 Rn. 7 m.w.N.). Zum anderen sind durch die Umstellung des Antrags keine zusätzlichen Verfahrenskosten entstanden.
5. Grundlage der Streitwertfestsetzung sind § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 Gerichtskostengesetz. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung Nr. 1.5 und 35.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit berücksichtigt.


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