Medizinrecht

Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht

Aktenzeichen  S 15 BL 5/19

Datum:
9.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 55586
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.10.2017 und Abänderung des Bescheides vom 28.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 verurteilt, der Klägerin Blindengeld für Blinde nach dem BayBlindG ab Juli 2018 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte zwei Drittel.

Gründe

Über die Klage kann gemäß § 105 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zur Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, gehört. Beide haben in der Folge ausdrücklich ihr Einverständnis mit einer derartigen Entscheidung bekundet.
Die beim zuständigen Sozialgericht erhobene Klage ist zulässig und teilweise begründet.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Gewährung von Blindengeld für Blinde für die Zeit ab Juli 2018, nicht aber für die Zeit davor.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten blinde oder hochgradig sehbehinderte Menschen, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.
Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als (faktisch) blind gelten darüber hinaus Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt (Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BayBlindG) sowie bei denen Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind (Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG).
Vorübergehende Sehstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten (Art. 1 Abs. 5 BayBlindG).
Die einen Anspruch begründenden Tatsachen sind dabei im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 – B 9 VS 2/98 R und auch LSG Bayern, Urteile vom 26.09.2017 – L 15 BL 8/14 und 27.09.2016 – L 15 BL 7/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 – B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 – 9/9a RV 1/92).
Die vorliegend verbleibenden Restzweifel in dem vorgenannten Sinn stehen der vollen Überzeugungsbildung nicht entgegen. Dabei ist u.a. auch zu beachten, „dass sich die Gerichte mit demjenigen Gewissheitsgrad zu begnügen haben, den die medizinische Wissenschaft im Einzelfall leisten kann“ (Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2012, S. 51, mit Verweis auf Bender/Nack/Treuer). Unter Berücksichtigung der allen medizinischen Beurteilungen immanenten Unsicherheiten (vgl. a.a.O., S. 49 f.) müssen somit nicht nur völlig unbedeutende Restzweifel außen vor bleiben, sondern auch solche, die durchaus einer medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion offenstehen, jedoch im Einzelnen nicht überzeugen können. Andernfalls wäre ein Blindheitsnachweis in sozialgerichtlichen Verfahren so gut wie unmöglich. Denn dann könnte in keinem Fall, wo nur eine ernsthafte medizinische Zweifelsfrage im Raum steht, für die mehrere Antworten nicht ganz ausgeschlossen sind, der Blindheitsnachweis durch den Kläger grundsätzlich nicht erbracht werden. Ein solches Verständnis vom Blindheitsnachweis ist aber mit der Rechtsprechung des BSG nicht vereinbar. Zwar hat das BSG im Urteil vom 11.08.2015 (B 9 BL 1/14 R) eindeutig festgelegt, dass die objektive Beweislast für die den Blindengeldanspruch begründende Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich den sehbehinderten bzw. blinden Anspruchsteller/Kläger trifft und dass etwaige Beweiserleichterungen (des sozialen Entschädigungsrechts) nicht zum Tragen kommen. Dass hier aber wegen der Vernachlässigung der bestehenden besonderen Erkenntnisschwierigkeiten (s.o.) übertriebene Anforderungen an den Vollbeweis zu stellen wären, lässt sich dieser Rechtsprechung keinesfalls entnehmen. Im Gegenteil hat das BSG (im Urteil vom 11.08.2015, a.a.O.) in einem Teilbereich – nämlich der Diagnostik spezifischer Sehstörungen – sogar darauf aufmerksam gemacht, dass die „mit dem Beweisrecht verbundene typisierende Annahme, dass die relevanten Tatsachen im Ansatz hinreichend verlässlich feststellbar sind“, nicht gerechtfertigt ist (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. April 2018 – L 15 BL 4/16 -, Rn. 113, juris).
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist nach dem vorliegenden Gutachten von Prof. Dr. K., dessen Inhalten sich die Kammer unter Bezugnahme auf vielfältige Angaben der Behandler anschließt, zumindest seit Juli 2018 von einer Blindheit bei der Klägerin auszugehen.
Die Klägerin lebt in Bayern und ist blind im Sinne des Gesetzes. Nach vorliegenden medizinischen Feststellungen liegt bei der Klägerin durch das Pallister-Kilian-Syndrom eine cerebrale Schädigung mit hochgradiger Einschränkung der Sinnesfunktion Sehen vor. Die visuelle Wahrnehmung ist massiv gestört. Die aufgenommenen Signale können nicht mehr genutzt werden. Diesbezüglich hat sie einen Verlust der kognitiven Verarbeitung erlitten. Auch wenn keine spezifische Sehstörung derart nachweisbar ist, dass hierüber Blindheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, kann die Klägerin im Ergebnis deshalb trotzdem nicht sehen. Insoweit liegt eine der Blindheit gleichzustellende schwere Störung des Sehvermögens iS des Art. 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BayBlindG vor. Entscheidend für den Anspruch auf Blindengeld ist nämlich allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein des Menschen) fehlt, sodass der behinderte Mensch „blind“ ist. Auch das Fehlen einer spezifischen Sehstörung steht dem Anspruch auf Blindengeld nicht entgegen. Denn die typisierende Annahme hinreichend verlässlicher Feststellbarkeit ist nicht in der Weise gerechtfertigt, dass hierauf die dem Anspruchsteller obliegende Darlegungs- und Beweislast gleichheitsfest erstreckt werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 BL 1/17 R).
Wie Prof. Dr. K. in seinem Gutachten nachvollziehbar darlegt, reagiert die Klägerin weder auf Objekte noch auf sehr helle Lichtreize. Vielmehr sieht sie auch über längere Zeiträume völlig unbeeindruckt in helles Licht. Weder ein OKN ist auslösbar, noch eine Schreckreaktion provozierbar. Eine erkennbare Reaktion auf Licht oder gar eine Fixation konnte zu keinem Zeitpunkt beobachtet werden. Nachvollziehbar wird die Blindheit auf cerebraler Ebene begründet.
Selbst wenn der Beklagte hier mit seiner Stellungnahme vom 07.01.2020 einwendet, dass keine Untersuchung im schwarzem Raum erfolgt sei und auch eine Verschlechterung beim Pallister-Kilian-Syndrom nicht anzunehmen sei, so ist diesen Einwendungen nicht zu folgen. Maßgeblich ist immerhin die Sehfähigkeit der Klägerin im Hellen, nicht in einem dunklen Raum, da dies schließlich auch nicht den normalen Gegebenheiten entspricht. Hier mag im Verwaltungsverfahren zwar ein Visusäquivalent ermittelt worden sein, inwiefern sich dies aber auf eine Sehfähigkeit im normalen Umfeld übertragen lässt, ist schon fraglich. Vorzugswürdig ist hier dann die Ausführung von Prof. Dr. K., wonach vor dem Juli 2018 bei der Klägerin noch eine Sehleistung zu vermuten war, wenn auch nicht konkret verifizierbar. Jedenfalls seit Juli 2018 hatte die Klägerin jedenfalls keine Reaktionen mehr auf Licht gezeigt. Diese Einschätzung teilten auch alle Behandler der Klägerin, sei es die Physiotherapeutin, der Ergotherapeut oder die Lebenshilfe. Bei keinem der Behandler – und hier besteht schließlich teils eine Betreuung über den gesamten Vormittag – zeigte die Klägerin auch nur annähernd ein visuelles Interesse oder eine Fixation. Eine visuelle Förderung wurde mittlerweile auch eingestellt, da nicht mehr als erfolgversprechend angesehen. Insofern ist nach den aktuellen Entwicklungen sehr wohl davon auszugehen, dass sich die visuelle Wahrnehmung der Klägerin seit der Geburt noch verändert hat und zwar vorliegend zum Schlechten.
Der Beklagte vermag vorliegend auch nicht mit dem Einwand der Zweckverfehlung mit Erfolg durchzudringen.
Der Ausgleich blindheitsbedingter Mehraufwendungen bleibt auch nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG ausdrücklich das erklärte Ziel der Regelung. Dies erschließt sich auch an anderer Stelle aus dem Gesetz. Realisiert sich die Gefahr, dass der Zweck des Blindengelds durch Doppelleistung verfehlt wird, sieht das Gesetz zur Vermeidung einer Überversorgung des blinden Menschen in Art. 4 Abs. 3 BayBlindG eine Anrechnung vor. Danach werden Leistungen zum Ausgleich der in Art. 1 BayBlindG genannten Mehraufwendungen nach sonstigen inländischen oder nach ausländischen Rechtsvorschriften auf das Blindengeld angerechnet. Der Zweck des Blindengelds wird aber auch dann verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw. bestehen kann. Hieran anknüpfend führt das BSG seine Rechtsprechung fort und räumt der Versorgungsverwaltung den anspruchsvernichtenden Einwand der Zweckverfehlung ein, wenn bestimmte Krankheitsbilder blindheitsbedingte Aufwendungen von vornherein ausschließen, weil der Mangel an Sehvermögen krankheitsbedingt durch keinerlei Maßnahmen (auch nicht anteilig) ausgeglichen werden kann. Dies wird am ehesten auf generalisierte Leiden zutreffen können (zB dauernde Bewusstlosigkeit oder Koma).
Das Gesetz geht hierbei in Art. 1 Abs. 1 BayBlindG ausdrücklich vom Vorliegen der Blindheit und von bestehenden Mehraufwendungen aus. Es setzt typisierend voraus, dass überhaupt ein „Mehraufwand“ aufgrund der Blindheit bestehen kann. Mit dem Blindengeld soll weniger ein wirtschaftlicher Bedarf gesteuert werden. Das Blindengeld dient in erster Linie als Mittel zur Befriedigung laufender blindheitsspezifischer, auch immaterieller Bedürfnisse des Blinden, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen, mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen. Eine Eingliederung blinder Menschen in die Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn ein Ausgleich für die dauernden blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Nachteile erfolgt. So geht der Bayerische Landesgesetzgeber nach wie vor davon aus, dass u. a. blinde Menschen einen außergewöhnlich großen Bedarf an Assistenzleistungen zur Kommunikation und an Unterstützungsleistungen zur Bewältigung des Alltags haben und dass finanzielle Ausgleichsleistungen die selbstbestimmte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördern (BSG, Urteil vom 14. Juni 2018 – B 9 BL 1/17 R).
Ausgehend von diesen Voraussetzungen ist es sachgerecht, im Fall eines objektiv nicht möglichen blindheitsbedingten Mehraufwands den Anwendungsbereich für die Blindengeldleistung einzuschränken. Steht fest, dass aufgrund eines bestimmten Krankheitsbildes typischerweise von vornherein kein Mehraufwand im oben genannten Sinne speziell durch die Blindheit entstehen kann, weil etwa ein derart multimorbides oder die Blindheit überlagerndes Krankheitsbild besteht (z. B. dauerhafte Bewusstlosigkeit), dass aus der Blindheit keinerlei eigenständige Aufwendung in materieller oder immaterieller Hinsicht folgt, kann die gesetzliche Zielsetzung der Blindengeldgewährung nicht erreicht werden. Denn deren Zweck wird verfehlt, wenn ein blindheitsbedingter Aufwand aufgrund der Eigenart des Krankheitsbildes gar nicht erst ent- bzw bestehen kann (BSG, aaO).
Für den vom Gericht überprüfbaren Einwand der Zweckverfehlung trägt die zuständige Behörde die Darlegungs- und Beweislast (BSG, aaO), welchen sie vorliegend nicht erbringen kann.
Zwar ist die Klägerin vorliegend schwerst mehrfachbehindert und bedarf unstreitig ein Leben lang nachhaltiger pflegerischer Betreuung. Anders als etwa im aktuellen Urteil des LSG Bayern vom 12.11.2019 – L 15 BL 1/12 ist die Klägerin aber nicht in allen Sinnesfunktionen massiv eingeschränkt. Die Klägerin reagiert vielmehr mit ihren anderen Sinnen, um das fehlende Sehen auszugleichen. Wie die Behandler und auch Prof. Dr. K. darlegen, reagiert die Klägerin auf Laute und auf Berührung mit erkennbarer und verständlicher Motorik, ebenso auf Gerüche. Sie spricht auf taktile oder vibrierende Reize an und richtet ihr Handeln danach aus. Eine Stärkung aller anderen Sinne zum weiteren Ausgleich der fehlenden Sinneswahrnehmung „Sehen“ ist daher durchaus angezeigt. Wie auch von Seiten der Klägerin vorgetragen wird, könnte etwa über das Blindengeld die Beschaffung von Melatonin-Präparaten gefördert werden, um den fehlenden Tag-Nacht-Bezug anzuregen. Bei der Klägerin sind damit Aufwendungen, welche über den bloßen pflegerischen Aufwand hinausgehen aufgrund des Vorhandenseins der anderen Sinne möglich und zur Stärkung derselben indiziert.
Der Klage war deshalb für die Zeit ab Juli 2018 stattzugeben. Die Kostenfolge basiert auf § 193 SGG und berücksichtigt die Gewährung von Blindengeld erst zu einem späteren Datum als dem Antragsdatum.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben