Medizinrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Erkrankung, Fahreignung, Diabetes

Aktenzeichen  B 1 K 18.1245

Datum:
8.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 33030
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 75
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 8, § 46 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

1.    Die Klage wird abgewiesen.
2.    Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch den Beklagten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

1. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.
2. Die Klage gegen die Ziffern 1, 2, 3 und 4 des Bescheids vom 8. November 2018 ist unzulässig.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Zulässigkeit ist die Entscheidung des Gerichts.
Der Beklagte hat mit Bescheid vom 7. August 2019 die Ziffern 1 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids vom 8. November 2018 mit Wirkung für die Zukunft widerrufen. Eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO (hier i.V. m. § 75 VwGO) ist nur dann statthaft, wenn der zugrundeliegende Verwaltungsakt noch wirksam ist (vgl. Happ in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Auflage 2019, § 42 Rn. 14). Nach Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG bleibt ein Verwaltungsakt solange wirksam, bis er sich erledigt hat. Durch den Widerruf vom 7. August 2019 entfalten die Ziffern 1 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids keine Wirkung mehr, sodass sich diese Anordnungen erledigt haben. Die erhobene Klage ist daher bereits aufgrund der Erledigungssituation unstatthaft und ihr fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.
Selbst wenn in dem Schreiben des Klägers vom 17. Juli 2020, adressiert an das „Bayr. Verwaltungsgericht Postfach …“, das im Betreff mit dem Az. des BayVGH 11 C 20.545 versehen und am 19. August 2020 beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingegangen ist, eine Umstellung in eine Fortsetzungsfeststellungsklage zu sehen ist, wäre ein hierfür notwendiges Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht substantiiert dargelegt.
Insbesondere hat der Kläger nicht dargelegt, dass die Feststellung für die Geltendmachung von Ansprüchen aus Amtshaftung nach Art. 34 GG, § 839 BGB oder von sonstigen Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüchen erheblich ist, ein entsprechender Prozess mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist und nicht offenbar aussichtslos erscheint; wobei zu dem Schaden substantielle Ausführungen gemacht werden hätten müssen (W.-R. Schenke/ R. P. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 113 Rn. 136). Der Kläger behauptet allein, ihm sei ein finanzieller Schaden von „gut 20.000 Euro zugefügt“ worden und er werde diesen bis in die letzte Instanz geltend machen.
Jedenfalls wäre ein entsprechender Antrag unbegründet, was sich aus den Ausführungen unter 3. c. bb. ergibt.
3. Die Klage gegen die Ziffer 5 des o.g. Bescheids ist zulässig, aber unbegründet. Der Widerruf des streitgegenständlichen Bescheids umfasste nicht die Kostenentscheidung in Ziffer 5. Eine Erledigung ist demnach nicht eingetreten.
a. Die Voraussetzungen der Untätigkeit nach § 75 VwGO liegen vor. Die dreimonatige Frist, die § 75 VwGO als angemessene Entscheidungsfrist vorsieht, war zum Zeitpunkt des Widerrufs der Ziffern 1 bis 4 des Bescheids (7. August 2019) bereits abgelaufen. Ein zureichender Grund dafür, dass über den Widerspruch des Klägers nicht innerhalb von drei Monaten entschieden wurde, war nicht gegeben. Mit Schreiben vom 12. Juli 2019 führte der Beklagte selbst aus, dass die am 22. Januar 2019 vorgelegten Unterlagen nach Ansicht der Regierung von … den Charakter einer Widerspruchsbegründung aufweisen würden. Hierdurch sind die Voraussetzungen des § 75 VwGO erfüllt. Die „Untätigkeitsklage“ nach § 75 VwGO ist keine besondere Klageart, sondern ein Fall der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage mit besonderen Sachurteilsvoraussetzungen. Im Fall des Vorliegens der Voraussetzungen des § 75 VwGO ändert sich daher nichts an der Klageart und dem Klageziel, es entfällt lediglich das Vorverfahren. Der erhobenen Anfechtungsklage steht daher das primär eingelegte und die Klage ausschließende Widerspruchsverfahren nicht mehr entgegen.
b. Der Beklagte ist auch passivlegitimiert. Nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO richtet sich die auf Aufhebung des erlassenen Verwaltungsaktes zielende Anfechtungsklage auch im Falle der Untätigkeit gegen die Ausgangsbehörde oder deren Rechtsträger (vgl. Porsch in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Werkstand: 37. EL Juli 2019, § 75 Rn. 2 m.w.N.).
c. Die Kostenentscheidung erging rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
aa. Die Höhe der Gebühr von 200,00 EUR ist nicht zu beanstanden, da § 1 Abs. 1 der Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr (GebOSt) i.V. m. Nr. 206 der Anlage 1 zu § 1 GebOSt einen Gebührenrahmen von 33,20 EUR bis 256,00 EUR vorsehen, in dem sich die festgesetzte Gebühr bewegt. Die Auslagen in Höhe von 4,11 EUR für die Postzustellung durften richtigerweise nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 GebOSt erhoben werden.
bb. Die Kostenerhebung ist rechtens, da sie aufgrund einer richtigen Sachbehandlung erging (vgl. Art. 16 Abs. 5 KG).
Bei der gerichtlichen Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde abzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 21.10.2015 – 11 CS 15.2036 – juris Rn. 17 m.w.N.). Da der streitgegenständliche Bescheid mit Wirkung für die Zukunft aufgrund der Wiedererlangung der Fahreignung des Klägers aufgehoben wurde und hierdurch deutlich wird, dass gerade keine Entscheidung im Rahmen des primär erhobenen Widerspruchsverfahrens stattgefunden hat, ist auf den Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsanordnung abzustellen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V. m. § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (Ziff. 1 Satz 1 des Bescheids), wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen, finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Nach Nr. 5 der Anlage 4 zur FeV stellt Diabetes mellitus eine Erkrankung dar, die die Fahreignung beeinträchtigen kann. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 und Satz 3 Nr. 5 FeV kann die Behörde, sobald Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche und geistige Eignung des Betroffenen begründen, die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen.
Nach ständiger Rechtsprechung ist die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens nicht selbstständig rechtlich anfechtbar, da es sich hierbei um keinen Verwaltungsakt, sondern lediglich um eine der eigentlichen Entscheidung vorausgehende und diese vorbereitende Maßnahme zur Sachverhaltsaufklärung handelt. Die Rechtmäßigkeit der Aufforderung wird deshalb inzident gerichtlich geprüft (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20/15 – juris Rn. 17f.). Daher ist der Schluss auf die Nichteignung nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (vgl. BVerwG, U.v. 9.6.2005 – 3 C 25.04 – DAR 2005, 581; BayVGH, B.v. 25.6.2008 – 11 ZB 08.1123 – juris; B.v. 17.4.2019 – 11 CS 19.24 – juris Rn. 17; B.v. 5.6.2009 – 11 CS 09.69 – juris Rn. 13; VG Bayreuth, B.v. 15.8.2018 – B 1 S 18.724 – juris Rn. 30; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 11 FeV Rn. 51 f.).
Die Beibringungsaufforderung vom 31. Juli 2018 entspricht den formellen Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV. Insbesondere die Frist von über zwei Monaten zur Beibringung ist angemessen im Sinne des § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV. Auch Hinweise darauf, dass der Kläger die Kosten der Begutachtung zu tragen hat und das Recht hat, die zu übersendenden Unterlagen einzusehen (§ 11 Abs. 6 Satz 2 FeV) sowie ein Hinweis über die Rechtsfolge des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV (§ 11 Abs. 8 Satz 2 FeV) sind in der Beibringungsanordnung enthalten.
Die Beibringungsanordnung erfolgte auch anlassbezogen und verhältnismäßig. Ein Anlass liegt dann vor, wenn hinreichende konkrete Tatsachen und nicht nur ein vager Verdacht, bestehen, die die im Gutachten gestellte Fragestellung rechtfertigen. Ausreichend sind insoweit alle Tatsachen, die den nachvollziehbaren Verdacht rechtfertigen, es könne eine Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeuges vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 2.7.2013 – 11 CS 13.1064 – juris Rn. 15; B.v. 5.6.2009 – 11 CS 09.69 – juris Rn. 16).
Aufgrund der Mitteilung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Herrn L. vom 16. Mai 2018 und dem Psychiatrischen Fachgutachten vom 19. März 2018 erhielt der Beklagte erstmals Kenntnis über Komplikationen bei einer unzureichend eingestellten Diabeteserkrankung des Klägers. Der fachärztliche Gutachter hat nicht Behauptungen der Mutter des Klägers an den Beklagten weitergeleitet, sondern sich aufgrund einer Untersuchung am Arbeitsplatz am 19. Februar 2018 eine eigene medizinische Meinung gebildet und sich an die Fahrerlaubnisbehörde gewandt, weil die Angaben des Klägers zur Behandlung des Diabetes mellitus in augenscheinlichem Widerspruch zum Nichtmitführen eines Messgeräts und eines Insulinpens sowie zum Nichtvorhandensein von entsprechenden Aufzeichnungen gestanden hatten und der Kläger ihm die zugesagten Befunde seines Hausarztes und Augenarztes nicht hatte zukommen lassen. Auch hat der Kläger während dieser Untersuchung gerade nicht erklärt, dass kein insulinpflichtiger Diabetes (mehr) vorliegt, wie es sich nach den jüngsten ärztlichen Bescheinigungen darstellt. Auch nach dem vorgelegten Arztbrief des Diabetologen Dr. W. vom 2. Juli 2018 war eine Therapie mit zu injizierendem Berlinsulin erforderlich. Der Beklagte hat sich vor Anordnung des Gutachtens sowohl bei dem konsultierten Diabetologen erkundigt als auch den Hausarzt des Klägers angerufen.
Aufgrund dieser Tatsachen und dem Umstand, dass der Kläger erstmalig beim Diabetologen Dr. W. vorstellig geworden ist und der Arzt daher keine Auskunft über die Folgen der Diabeteserkrankung auf die Fahreignung des Klägers geben konnte, bestand ein auf Tatsachen beruhender Verdacht, dass der Kläger nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist.
Der Kläger hatte sich selbst zuzuschreiben, dass der Gutachter im Betreuungsverfahren zu dem ihm nachteiligen medizinischen Urteil gekommen ist und dass dem Beklagten nicht rechtzeitig bekannt geworden ist, dass bei ihm kein insulinpflichtiger Diabetes mellitus (mehr) vorliegt. Dem Gutachter konnte der Kläger keine Aufzeichnungen über seine Blutzuckermessungen vorlegen und keine konsistenten Angaben zu seiner Erkrankung machen. Dem Beklagten hat er keine ausreichenden ärztlichen Bescheinigungen vorgelegt bzw. letztere erst nach Entziehung der Fahrerlaubnis eingeholt. Auch schon vor einer Gutachtensanordnung ist der Betroffene nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 und 2 BayVwVfG verpflichtet, an der Aufklärung eines fahreignungsrelevanten Sachverhalts mitzuwirken und ihm bekannte Tatsachen und Beweismittel anzugeben, unter anderem auch vorhandene Unterlagen vorzulegen (vgl. BayVGH, B.v. 8.11.2019 – 11 CS 19.1565 – juris Rn. 24 m.w.N.). Verweigert er eine geeignete, ihm mögliche und zumutbare Mitwirkung, die auch erforderlich ist, weil sie Tatsachen aus seinem persönlichen Lebensbereich betrifft und gegebenenfalls die Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht voraussetzt, berechtigt dies die Behörde zu einer für ihn nachteiligen Beweiswürdigung (vgl. BayVGH, a.a.O.).
Durch das geforderte Gutachten sollte die Fahreignung des Klägers ermittelt werden. Das geforderte Gutachten war daher anlassbezogen. Da im Vorfeld einer möglichen Entziehung zunächst die Fahreignung des Klägers geklärt werden sollte, war die Anordnung auch verhältnismäßig.
Das rechtmäßig geforderte Gutachten wurde bis zum Ablauf der hierfür gesetzten angemessenen Frist durch den Kläger nicht vorgelegt, sodass der Beklagte nach § 11 Abs. 8 FeV von einer Ungeeignetheit des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgehen durfte.
Die Abgabeverpflichtung (Ziffer 2) ist als begleitende Anordnung zur Fahrerlaubnisentziehung geboten, um die Ablieferungspflicht nach § 47 Abs. 1 FeV durchzusetzen.
Gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheids, die auf der Grundlage der Art. 18 Abs. 1, 19 Abs. 1 Nr. 3, 29, 30, 31, 36 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) beruht, bestehen keine rechtlichen Bedenken. Insbesondere die Höhe des angedrohten Zwangsgelds bewegt sich im unteren Bereich des Rahmens, den Art. 31 Abs. 2 Satz 1 VwZVG vorgibt.
cc. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 GebOSt schuldet derjenige die Gebühr, der die Amtshandlung veranlasst hat. Das ist hier der Kläger, weil der Beklagte aufgrund des rechtmäßig angeordneten und nicht beigebrachten Fahreignungsgutachtens auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis entziehen musste.
4. Der Annexantrag unter Ziffer II der Klageschrift auf Herausgabe des Führerscheins nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Herausgabe des Führerscheins an den Kläger unstatthaft und somit unzulässig.
5. Die Kostentragungspflicht folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. VwGO.


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