Medizinrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Alkoholabhängigkeit – einstweiliger Rechtsschutz

Aktenzeichen  AN 10 S 20.02217

Datum:
13.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32216
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 7, § 13 S. 1 Nr. 1, § 46 Abs. 1
FeV Anl. 4 Nr. 8.3

 

Leitsatz

1. Eine hinreichend feststehende und nicht überwundene Alkoholabhängigkeit hat zwangsläufig die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge, ohne dass es hierfür der Abklärung durch ein Fahreignungsgutachten bedarf, denn bei alkoholabhängigen Personen besteht krankheitsbedingt jederzeit die Gefahr eines Kontrollverlusts und der Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss; dabei kommt es nicht darauf an, ob der Betreffende bereits mit Alkohol im Straßenverkehr auffällig geworden ist.   (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Attestiert eine bayerische Bezirksklinik einer Person, die sich dort längere Zeit stationär aufgehalten hat, eine Abhängigkeitssymptomatik, kommt einer solchen Diagnose ein hoher Grad an Verlässlichkeit zu, denn ein solches Fachkrankenhaus verfügt über einen hohen Grad an Spezialisierung auf Suchterkrankungen (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 110056 Rn. 11).(Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten wird sowohl für das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO als auch für das Klageverfahren abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes gegen den mit Bescheid vom 7. Oktober 2020 verfügten Entzug der Fahrerlaubnis aller Klassen sowie die Abgabeverpflichtung ihres Führerscheins.
Der Antragsgegner erhielt durch Mitteilung der Polizeiinspektion … vom 24. August 2020 Kenntnis davon, dass die Antragstellerin am Abend des 23. August 2020 vorläufig in der …Klinik … untergebracht wurde, da eine akute Eigen- und Fremdgefährdung nicht auszuschließen gewesen sei. Sie habe in ihrer Wohnung randaliert und gegenüber der Tochter geäußert, dass sie sich vom Balkon stürzen wolle. Die Tochter gab an, dass die Antragstellerin seit einiger Zeit psychische Probleme in Form von Depressionen habe und regelmäßig Alkohol trinke. Gegenüber den Polizeibeamten räumte die Antragstellerin ein, dass es ihr aktuell nicht gut gehe und äußerte, dass sie sterben möchte. Ein Alko-Vortest ergab einen Wert von 1,27 mg/l.
Daraufhin forderte der Antragsgegner die Antragstellerin mit Schreiben vom 24. August 2020 auf, den ärztlichen Entlassungsbericht der …Klinik vorzulegen. Dieser ging am 3. September 2020 bei der Fahrerlaubnisbehörde ein.
Der vorläufige Entlassungsbericht der …Klinik … vom 26. August 2020 enthält die Diagnosen „F10.2 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Abhängigkeitssyndrom“, „F10.0 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Akute Intoxikation“ und „F10.3 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Entzugssyndrom“. Auf den Bericht wird Bezug genommen.
Der Antragsgegner gab der Antragstellerin mit Schreiben vom 3. September 2020 Gelegenheit zur Stellungnahme zum beabsichtigten Fahrerlaubnisentzug, woraufhin der Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 17. September 2020 ausführte, dass die Antragstellerin im Straßenverkehr kein Kraftfahrzeug geführt habe, so dass sie den Alkoholkonsum und das Führen von Kraftfahrzeugen sicher trennen könne. Es handele sich bei dem Alkoholkonsum der Antragstellerin um den typischen „Feierabendwein“. Es seien auch die erforderlichen diagnostischen Kriterien der Alkoholabhängigkeit nach ICD-10 nicht erfüllt, da nicht mindestens drei oder mehr der dort aufgeführten Kriterien mindestens einen Monat lang bestanden haben. Der vorläufige Entlassungsbericht könne nicht als Argumentationsgrundlage herangezogen werden, um die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen festzustellen, zumal gemäß § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV bei Verdacht einer Alkoholabhängigkeit zunächst die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angeordnet werden müsse. Der vorläufige Entlassungsbericht stelle kein ärztliches Gutachten dar, so dass deshalb die Entziehung der Fahrerlaubnis ausscheide. Zudem habe die Antragstellerin seit dem Vorfall vom 23. August 2020 keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Darüber hinaus gebiete es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der alleinerziehenden Antragstellerin die Gelegenheit zu geben, ein ärztliches Gutachten beizubringen.
Der Antragsgegner führte mit Schreiben vom 22. September 2020 aus, dass die Alkoholabhängigkeit der Antragstellerin durch die …Klinik gemäß der ICD-10-Kriterien diagnostiziert worden sei. Es bestehe deshalb nicht der Verdacht der Alkoholabhängigkeit, sondern diese stehe bereits fest. Die Fahrerlaubnis sei aufgrund der feststehenden Nichteignung zu entziehen. Für den Fall, dass im endgültigen Entlassungsbericht der …Klinik eine andere Diagnose gestellt worden sei, sei der vorläufige Entlassungsbericht nicht zu berücksichtigen. Es werde deshalb Gelegenheit gegeben, den endgültigen Entlassungsbericht bis spätestens 6. Oktober 2020 beizubringen.
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin erwiderte mit Schreiben vom 2. Oktober 2020, dass es keinen endgültigen Entlassungsbericht gebe. Das Diagnosesystem ICD-10 verlange hinsichtlich der Diagnose „Alkoholabhängigkeit“ (F10.2), dass drei oder mehr Kriterien mindestens einen Monat lang bestanden habe. Anhand des vorläufigen Entlassungsberichtes und der Tatsache, dass sich die Antragstellerin lediglich in der Zeit vom 23. bis 31. August 2020 in stationärer Behandlung der …Klinik befunden habe, könne nur eines der Kriterien als erfüllt angesehen werden, nämlich das Vorliegen eines körperlichen Entzugssyndroms.
Beigefügt war ein ärztliches Attest der Dr. … vom 23. September 2020. Danach lag der CDT-Wert vom 22. September 2020 bei 1,2%, weshalb ein aktueller Alkoholkonsum als wenig wahrscheinlich erscheint. Die Leberwerte, v.a. das GGT, sind rückläufig. Die Antragstellerin habe glaubhaft versichert, seit ihrem stationären Entzug alkoholabstinent zu sein.
Mit Bescheid vom 7. Oktober 2020, zugestellt am 10. Oktober 2020, entzog der Antragsgegner der Antragstellerin die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen (Ziffer 1), verpflichtete sie, den Führerschein abzuliefern (Ziffern 2), ordnete die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 an (Ziffer 3) und drohte für den Fall der Nichtabgabe des Führerscheins binnen einer Woche nach Zustellung des Bescheides ein Zwangsgeld in Höhe von 500,00 EUR an (Ziffer 4). Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass nach Ziffer 8.3 der Anlage 4 zur FeV und Kapitel 3.13.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung Alkoholabhängigkeit die Fahreignung ausschließe, unabhängig davon, ob der Betroffene im Straßenverkehr bereits unter Alkoholeinfluss aufgefallen ist. Auch wenn der Bericht des Bezirksklinikums … … nicht näher ausführt, welche der ICD-10 Kriterien erfüllt gewesen seien, bestehe an der Diagnose der Alkoholabhängigkeit kein begründeter Zweifel. Der Diagnose eines spezialisierten Bezirksklinikums komme ein hoher Grad an Verlässlichkeit zu. Das ärztliche Attest der Dr. … vom 23. September 2020 sei nicht geeignet, die gestellte Diagnose der Alkoholabhängigkeit zu widerlegen.
Die Antragstellerin leitete am 14. Oktober 2020 eine E-Mail des Oberarztes der …Klinik … an den Antragsgegner weiter, in der dieser ausführt, dass die Diagnose der Abhängigkeitserkrankung aus psychiatrischer Sicht gesichert sei. Im Rahmen der stationären Behandlung seien die diagnostischen Kriterien (nach ICD-10) sorgfältig geprüft worden. In Zusammenschau der Befunde werde diagnostisch unter Berücksichtigung der Vorgeschichte, des klinischen Befundes und der apparativen Untersuchungen von einer psychischen und physischen Abhängigkeit von Alkohol ausgegangen. Aus seiner Sicht erscheine die Begründung der Fahrerlaubnisbehörde nicht plausibel. Die Antragstellerin sei weder beim Fahren kontrolliert worden noch sei sie vorher im Straßenverkehr auffällig geworden. Zum Entlassungszeitpunkt habe keine weitere gravierende psychische oder physische Komorbidität bestanden, die eine wesentliche Einschränkung der Fahrtauglichkeit im Straßenverkehr darstellen könne. Um eine Einschränkung der Fahreignung feststellen zu können, bedürfe es weiterer test-psychologischer Untersuchungen. Alleine das Vorliegen einer „Diagnose“, wie es in Kapitel 3.13 der Begutachtungsleitlinie zur Kraftfahreignung steht, reiche nicht aus.
Der Führerschein der Antragstellerin wurde am 15. Oktober 2020 bei einer persönlichen Vorsprache entwertet.
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin erhob mit Schreiben vom 19. Oktober 2020 Anfechtungsklage und stellte zugleich einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Zur Begründung wurde u.a. eine Bestätigung des Arbeitgebers vorgelegt, wonach Auffälligkeiten aufgrund von Alkohol während der Arbeitszeit nicht bekannt seien. In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass der vorläufige Entlassungsbericht keine ausreichende Grundlage für eine sichere Diagnose der Alkoholabhängigkeit nach Ziffer 8.3 der Anlage 4 zur FeV darstelle. Er setze sich nicht ausreichend mit den erforderlichen Kriterien der Alkoholabhängigkeit nach ICD-10 auseinander. Auch wenn einem Fachkrankenhaus ein hoher Grad an Verlässlichkeit der Diagnose zukomme, könne dies nicht bedeuten, dass es im Einzelfall unterlassen werden dürfe, weitere erforderliche Ermittlungen bezüglich der eindeutigen Feststellung einer bestehenden Alkoholabhängigkeit einzuleiten, gerade wenn sich Zweifel an der gestellten Diagnose ergeben würden. Der Antragsgegner hätte vor der Entziehung ein ärztliches Gutachten anordnen müssen. Zudem sei die Anordnung des Sofortvollzugs und die dabei vorzunehmende Abwägung der gegenüberstehenden Interessen fehlerhaft erfolgt. Das besondere einzelfallbezogene Interesse liege nicht vor. Es sei noch nie zu einer Auffälligkeit im Straßenverkehr aufgrund von Alkoholkonsum gekommen. Die Antragstellerin habe glaubhaft versichert, dass sie seit ihrem stationären Aufenthalt alkoholabstinent sei. Diese Aussage werde durch den CDT-Wert vom 22. September 2020 bestätigt. Der Sofortvollzug stelle eine gravierende Härte für die alleinerziehende Mutter eines minderjährigen Kindes dar. Die Antragstellerin sei im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit täglich auf das Kfz angewiesen.
Die Antragstellerin ließ beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen Ziffer 1 und 2 des Bescheides vom 7. Oktober 2020 wird wiederhergestellt.
Zugleich wurde beantragt,
der Klägerin und Antragstellerin Prozesskostenhilfe zu bewilligen und den Prozessbevollmächtigten beizuordnen.
Der Antragsgegner beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde auf den angefochtenen Bescheid verwiesen und ergänzend ausgeführt, dass keine Zweifel an der Diagnosestellung der Alkoholabhängigkeit durch das Bezirkskrankenhaus … bestünden. Aus dem Entlassungsbericht würden sich Hinweise auf das Vorliegen von mindestens drei der Kriterien „körperliches Entzugssyndrom, Nachweis einer Toleranz und anhaltender Substanzkonsum“, die zur sicheren Diagnose einer Alkoholabhängigkeit nach ICD-10 erforderlich sind, ergeben. Die Diagnosestellung sei zudem durch den Oberarzt bestätigt worden. Es könne nicht von einer wiederhergestellten Fahreignung nach Ziffer 8.4 der Anlage 4 zur FeV ausgegangen werden, da diese regelmäßig erst nach einer erfolgreichen Entwöhnungsbehandlung mit anschließender nachgewiesener Abstinenz von einem Jahr angenommen werden könne. Die Versicherung der Antragstellerin, seit dem Vorfall konsequent auf Alkohol zu verzichten und die Tatsache, dass bislang keine Verkehrszuwiderhandlungen unter Alkoholeinfluss begangen worden seien und auch auf der Arbeitsstätte keine Auffälligkeiten bekannt seien, führe zu keiner anderen Bewertung.
Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Die Antragstellerin begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Ablieferungspflicht ihres Führerscheins gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Hs. 2 VwGO. Der Klage der Antragstellerin kommt diesbezüglich aufgrund der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung zu.
Der so verstandene Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zwar zulässig, aber unbegründet.
1. Die Begründung des Sofortvollzugs im streitgegenständlichen Bescheid vom 7. Oktober 2020 entspricht den formellen Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, da das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug in ausreichender Form begründet wurde. Es ist nicht zu beanstanden, wenn der Antragsgegner ausführt, dass davon ausgegangen werden müsse, dass bei der Antragstellerin ein Eignungsmangel in Form einer Alkoholabhängigkeit besteht und sie deshalb (derzeit) nicht den Anforderungen entspricht, die an die Eignung eines Kraftfahrzeugführers gestellt werden müssen. Es seien daher Auffälligkeiten im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss, die die Verkehrssicherheit und damit die Gesundheit und das Leben anderer Verkehrsteilnehmer in erhöhtem Maße gefährden, zu erwarten. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung müsse zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung das Interesse der Antragstellerin, bis zur Rechtskraft der Entscheidung von der Fahrerlaubnis Gebrauch machen zu können, als untergeordnet zurücktreten. Das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs gehe den privaten, geschäftlichen oder beruflichen Interessen der Antragstellerin vor. Da es sich beim Fahrerlaubnisrecht um einen besonderen Teil des Sicherheitsrechts handelt, entspricht es der ständigen Rechtsprechung der Kammer, dass es für die Anordnungsbehörde ausreicht, die typische Interessenlage dieser Fallgruppe aufzuzeigen und auszuführen, dass im Falle möglicherweise ungeeigneter Fahrzeugführer ein Ausschluss an der weiteren Teilnahme am Straßenverkehr wegen der davon ausgehenden akuten Gefahr schnellstmöglich anzuordnen ist. Auch bezüglich der Abgabe des Führerscheins wurde der Sofortvollzug hinreichend im Sinne des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet. Insoweit wurde in nicht zu beanstandender Weise ausgeführt, dass bei Nichtabgabe des Führerscheins die nicht auszuschließende Gefahr des Missbrauchs durch dessen Vorzeigen bei eventuellen Verkehrskontrollen bestehe.
2. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch im Übrigen (materiell) rechtmäßig und verletzt die Antragstellerin nicht in ihren Rechten.
Im vorliegenden Fall eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 bis 3 ganz oder teilweise anordnen bzw. in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes angeordnet worden ist, die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs dagegen ganz oder teilweise wiederherstellen. Bei der Entscheidung sind die widerstreitenden Interessen gegeneinander abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung können auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs berücksichtigt werden. Bleibt dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos, wird die Abwägung in der Regel zum Nachteil des Betroffenen ausfallen, da dann das von der Behörde geltend gemachte besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug regelmäßig überwiegt.
Nach der in diesem Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage liegen die Voraussetzungen der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV i.V.m. Ziffer 8.3 der Anlage 4 zur FeV vor, so dass der Bescheid des Antragsgegners vom 7. Oktober 2020 zu Recht ergangen ist.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV ist eine Fahrerlaubnis dann zu entziehen, wenn sich der Fahrerlaubnisinhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Ein Ermessensspielraum kommt der Fahrerlaubnisbehörde nicht zu. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV ist insbesondere von einer Nichteignung auszugehen, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen. In Rede steht hier Ziffer 8.3 der Anlage 4 zur FeV. Danach ist eine Fahreignung bei Alkoholabhängigkeit zu verneinen. Wer alkoholabhängig ist, hat grundsätzlich nicht die erforderliche Fähigkeit, den Konsum von Alkohol und das Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr zu trennen. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob der Betreffende bereits mit Alkohol im Straßenverkehr auffällig geworden ist (BVerwG, B.v. 21.10.2015 – 3 B 31.15 – DAR 2016, 216). Bei alkoholabhängigen Personen besteht krankheitsbedingt jederzeit die Gefahr eines Kontrollverlusts und der Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss. Eine hinreichend feststehende und nicht überwundene Alkoholabhängigkeit hat damit zwangsläufig die Entziehung der Fahrerlaubnis zur Folge, ohne dass es hierfür der Abklärung durch ein Fahreignungsgutachten bedarf. Die Anordnung gemäß § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV, ein ärztliches Gutachten beizubringen, ist nur erforderlich, wenn zwar Tatsachen die Annahme einer Alkoholabhängigkeit begründen und daher Zweifel hinsichtlich der Fahreignung vorliegen, aber nicht mit hinreichender Gewissheit feststeht, ob der Betreffende tatsächlich alkoholabhängig ist (vgl. VG Bayreuth, B.v. 26.4.2018 – B 1 S 18.262 – juris Rn. 38).
Im Fall der Antragstellerin ergibt sich das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit mit hinreichender Gewissheit aus dem vorläufigen Entlassungsbericht der …Klinik … vom 26. August 2020, in dem ein Alkoholabhängigkeitssyndrom F10.2, eine akute Alkoholintoxikation F10.0 und ein Alkoholentzugssyndrom F10.3 diagnostiziert wurden. Nach Ziffer 3.13.2 der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung soll die sichere Diagnose „Abhängigkeit“ gemäß den diagnostischen Leitlinien nach ICD-10 nur gestellt werden, wenn irgendwann während des letzten Jahres drei oder mehr der dort genannten sechs Kriterien gleichzeitig vorhanden waren (1. starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren; 2. verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums; 3. körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums; 4. Nachweis einer Toleranz; 5. fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums; 6. anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen, die dem Betroffenen bewusst sind). Auch wenn der vorläufige Entlassungsbericht nicht näher ausführt, welche dieser Kriterien hier erfüllt waren, bestehen an der Diagnose einer Alkoholabhängigkeit keine begründeten Zweifel. Bei den bayerischen Bezirkskliniken, wozu auch die …Klinik … zählt, handelt es sich um Einrichtungen, die nach Art. 48 Abs. 3 Nr. 1 der Bezirksordnung für den Freistaat Bayern unter anderem der Betreuung von Suchtkranken dienen. Das Angebot der …Klinik umfasst u.a. den Fachbereich „Suchtmedizin“, hilft bei Abhängigkeiten von Alkohol, Medikamenten und illegalen Drogen und bietet in den suchtmedizinischen Abteilungen sowohl qualifizierte Entzugsbehandlungen als auch anschließende Therapien (https://www.bezirkskliniken-mfr.de/fachbereiche/suchtmedizin/). Dieses Fachkrankenhaus verfügt deshalb über einen hohen Grad an Spezialisierung auf Suchterkrankungen. Attestiert eine Bezirksklinik einer Person, die sich dort längere Zeit (hier etwa eine Woche) stationär aufgehalten hat, eine Abhängigkeitssymptomatik, kommt einer solchen Diagnose ein hoher Grad an Verlässlichkeit zu. Denn eine so lange Befassung mit einem Patienten verschafft den behandelnden Ärzten ein mehr als nur oberflächliches Bild von seinen Lebensgewohnheiten und Lebenseinstellungen, seiner psychischen Verfassung und seinen nutritiven Gewohnheiten und damit von Faktoren, die für die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit von Bedeutung sind (BayVGH, B.v. 16.11.2016 – 11 CS 16.1957 – juris Rn. 11 unter Verweis auf B.v. 27.7.2012 – 11 CS 12.1511 – juris Rn. 27 ff. und B.v. 17.12.2015 – 11 ZB 15.2200 – juris Rn. 20). Deshalb ist nach den für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien die Tatsache, dass eine Alkoholabhängigkeit bereits extern diagnostiziert wurde, ein Kriterium für das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit, insbesondere wenn die Diagnose von einer suchttherapeutischen Einrichtung gestellt oder eine Entgiftung durchgeführt wurde (BayVGH, B.v. 16.11.2016 – 11 CS 16.1957 – juris Rn. 11). Vorliegend lässt sich dem vorläufigen Entlassungsbericht vom 26. August 2020 entnehmen, dass bei der Antragstellerin eine qualifizierte Entzugsbehandlung durchgeführt worden ist, bei der sie bei deutlicher psychovegetativer Entzugssymptomatik anfänglich regelmäßig Lorazepam benötigte. Nach Beendigung der vorläufigen Unterbringung konnte die Antragstellerin auf die offene, suchtspezifische Station verlegt werden. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin im Laufe der Behandlung selbst angegeben hat, seit Jahren eine Flasche Wein pro Tag zu konsumieren. An den Feststellungen der …Klinik zur Alkoholabhängigkeit bestehen daher keine Zweifel.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass es sich um einen vorläufigen Entlassungsbericht handelt. Es handelt sich nicht um eine vorläufige, sondern um eine endgültige Diagnose. Zudem ist davon auszugehen, dass die …Klinik … die Diagnose der Antragstellerin, die während des stationären Aufenthalts gestellt wurde, nicht leichtfertig getroffen hat, sondern für die Diagnose unter Berücksichtigung der ICD-10-Kriterien auf das Vorhandensein einer Mehrzahl charakteristischer Phänomene abgestellt hat. Dies bestätigte auch der Oberarzt in einer an die Antragstellerin gerichteten E-Mail, der im Nachgang zum stationären Aufenthalt mitteilte, dass die Diagnose der Abhängigkeitserkrankung aus psychiatrischer Sicht gesichert ist und im Rahmen der stationären Behandlung die diagnostischen Kriterien (ICD-10) sorgfältig geprüft wurden, so dass diagnostisch in Zusammenschau der Befunde unter Berücksichtigung der Vorgeschichte, des klinischen Befundes und der apparativen Untersuchungen von einer psychischen und physischen Abhängigkeit von Alkohol ausgegangen wird.
Entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten der Antragstellerin ist in zeitlicher Hinsicht für die Diagnosestellung vorliegend nicht zu fordern, dass die genannten Kriterien gemeinsam für die Dauer eines Monats erfüllt waren. Zwar erhebt eine wohl durchaus verbreitete Meinung in der medizinischen bzw. klinisch-psychologischen Wissenschaft diese Forderung, was sich unter anderem aus dem von dem Bevollmächtigten vorgelegten Auszug aus dem Deutschen Ärzteblatt ergibt (vgl. Blatt 52 der Gerichtsakte). Festzustellen ist jedoch zum einen, dass die für die Fahreignungsbeurteilung zugrunde zu legenden Regelwerke diese aus medizinischer Sicht erhobene diagnostische Forderung für die Fahreignungsbeurteilung generell nicht übernehmen. Weder in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung noch in den für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien findet sich dieses Kriterium wieder. Den unter Beteiligung der entsprechenden Fachkreise entwickelten Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, die im Verkehrsblatt (VkBl.) veröffentlicht werden und normativen Charakter haben (vgl. § 11 Abs. 5 i.V.m. Anlage 4a FeV), liegt ein entsprechendes verkehrsmedizinisches Erfahrungswissen zugrunde. Sie geben den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis auf diesem Gebiet wieder (VG München, U.v. 20.2.2018 – M 26 K 17.4708 – juris Rn. 33 unter Verweis auf OVG Magdeburg, B.v. 14.6.2013 – 3 M 68/13 – NJW 2013, 3113, 3114). Ein solcher auf breiter Basis entwickelter Erkenntnisstand lässt sich nicht ohne Weiteres durch wissenschaftliche Einzelmeinungen oder einzelne Studien widerlegen. Erforderlich wäre vielmehr die Darlegung, dass der wissenschaftliche Erkenntnisstand zur Überzeugung der dafür maßgeblichen Kreise inzwischen entsprechend fortgeschritten ist oder zumindest infolge der neuen Erkenntnisse nachhaltig in Frage gestellt wird (BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – BVerwGE 148, 230 Rn. 19; vgl. zum Ganzen VG München, U.v. 20.2.2018 – M 26 K 17.4708 – juris Rn. 33).
Nach alledem stand aufgrund des vorgelegten Entlassungsberichtes der …Klinik vom 26. August 2020 und der darin enthaltenen Diagnose fest, dass die Antragstellerin im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheides die Fahreignung verloren hatte. Die Fahrerlaubnisbehörde war angesichts der Feststellungen in dem Entlassungsbericht auch nicht gehalten, von der Antragstellerin die vorherige Beibringung eines ärztlichen Gutachtens zu fordern. Vielmehr war ohne weiteres Gutachten im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheides von der Fahrungeeignetheit auszugehen (§ 11 Abs. 7 FeV).
Die Antragstellerin hat die Alkoholabhängigkeit auch noch nicht überwunden. Nach Ziffer 8.4 der Anlage 4 zur FeV und Ziffer 3.13.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung ist die Fahreignung erst wieder gegeben, wenn die Abhängigkeit nach einer erfolgreichen Entwöhnungsbehandlung nicht mehr besteht und in der Regel ein Jahr Abstinenz nachgewiesen ist. Dabei hat der Betroffene bei Alkoholabhängigkeit den Verzicht auf jeglichen Konsum von alkoholischen Getränken zu belegen, weil die Fähigkeit zu kontrolliertem Trinken gemindert ist. Außerdem müssen der Einstellungswandel und die Verhaltensänderung als hinreichend gefestigt und stabil einzuschätzen sein. Der Nachweis, dass die Verhaltensänderung stabil und motivational gefestigt ist, ist mittels eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu führen (§ 13 Satz 1 Nr. 2e FeV). Ob bei der Antragstellerin eine Verhaltensänderung vorliegt, die eine stabile Abstinenz erwarten lässt, ist unter Berücksichtigung ihrer Aussagen und des ärztlichen Attestes der Dr. … vom 23. September 2020 nicht möglich. Da die einjährige Alkoholabstinenz bereits aus zeitlichen Gesichtspunkten nicht nachgewiesen ist, sind die Voraussetzungen für eine medizinisch-psychologische Abklärung nicht gegeben.
Aufgrund der festgestellten Nichteignung war die Fahrerlaubnisbehörde nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV zur Entziehung der Fahrerlaubnis verpflichtet. Der Fahrerlaubnisbehörde war für diese Entscheidung keinerlei Ermessen eingeräumt.
Da die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtmäßig erfolgte, hat dies zur Folge, dass auch die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ablieferungsverpflichtung hinsichtlich des Führerscheins gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV ebenfalls rechtmäßig ist. Mit Entziehung erlischt die Fahrerlaubnis und der Führerschein ist abzuliefern.
Der Antrag war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5, 46.3 und 46.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung des Jahres 2013 und § 6 Abs. 6 FeV i.V.m. Ziffer 18 der Anlage 3 zur FeV.
4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung für das Eil- und das Klageverfahren ist insgesamt abzulehnen, da nach oben Gesagtem keine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne von § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO besteht. Es kann damit dahinstehen, ob die Antragstellerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung aufbringen kann.


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