Medizinrecht

Erfolgloser Eilantrag gegen verschiedene Vorschriften der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung

Aktenzeichen  Vf. 23/VII/21

Datum:
22.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 5200
Gerichtsart:
VerfGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verfassungsgerichtsbarkeit
Normen:
BV Art. 47 Abs. 2, Art. 101, Art. 108, Art. 128, Art. 129 Abs. 2
12. BayIfSMV § 12 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, § 13 Abs. 1, § 18 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 lit. b, § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 12, § 23

 

Leitsatz

Keine Außervollzugsetzung von Vorschriften der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung.
1. Es ist nach gegenwärtigem Stand nicht erkennbar, dass die coronabedingte Anordnung von Distanzunterricht in Schulen, der Schließung von Tagesbetreuungsangeboten, von Öffnungsverboten für bestimmte Handels- und Dienstleistungsbetriebe, der Untersagung von Gastronomiebetrieben und der Schließung von Kultureinrichtungen aufgrund ihres Regelungsinhalts offensichtlich verfassungswidrig sein könnte. (Rn. 20 – 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Angesichts der dem Bayerischen Ministerpräsidenten zustehenden Richtlinienkompetenz bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass Maßnahmen in wesentlichen Punkten auf den in Videoschaltkonferenzen der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zuvor einvernehmlich beschlossenen Leitlinien beruhen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgewiesen.

Gründe

I.
1. Die Antragsteller wenden sich im Popularklageverfahren gegen Vorschriften der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (12. BayIfSMV) des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 5. März 2021 (BayMBl Nr. 171, BayRS 2126-1-16-G), die gemäß ihrem § 30 am 8. März 2021 in Kraft getreten ist und mit Ablauf des 28. März 2021 außer Kraft tritt. Die Verordnung ist gestützt auf § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, § 28 a des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV).
Die Antragsteller sind der Auffassung, die Vorschriften zum Distanzunterricht in Schulen (§ 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. b 12. BayIfSMV) und zur Schließung von Tagesbetreuungsangeboten (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 12. BayIfSMV) verletzten die Grundrechte aus Art. 128 und Art. 129 Abs. 2 BV sowie aus Art. 101 BV. Hinsichtlich der Öffnungsverbote für bestimmte Handels- und Dienstleistungsbetriebe (§ 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 12. BayIfSMV), der Untersagung von Gastronomiebetrieben (§ 13 Abs. 1 12. BayIfSMV) und der Schließung von Kultureinrichtungen (§ 23 Abs. 1 12. BayIfSMV) rügen sie eine Verletzung der Art. 103 und Art. 108 BV sowie insgesamt des Art. 101 BV. Sie machen geltend, der 7-Tage-Inzidenzwert von 100, dessen Überschreitung zu einer völligen Außerkraftsetzung von Grundrechten führe, sei willkürlich gewählt, da er stärker von der Anzahl der durchgeführten Tests als vom tatsächlichen Infektionsgeschehen abhänge. Mit der bei Überschreitung des Inzidenzwerts erfolgenden Anordnung von Distanzunterricht und Schließung von Kinderbetreuungseinrichtungen werde kleinen Kindern der in Art. 128, 129 Abs. 2 BV garantierte Zugang zur kostenfreien Bildung verweigert. Digitaler Unterricht sei für Kinder bis zehn oder zwölf Jahren völlig ungeeignet. Kindern aus bildungsfernen Familien werde durch die Schließung von Kindertagesstätten und Grundschulen die Möglichkeit genommen, durch Kontakt zu Erziehern, Lehrern und Gleichaltrigen Defizite in Sprache und Kultur zu überwinden. Beim Distanzunterricht könne von einem kostenlosen Unterricht für alle nicht gesprochen werden, da in armen Familien schon das Geld für ein Endgerät (Laptop o. ä.) je Schulkind fehle. Eine Aussetzung des Grundrechts auf Bildung allein auf einen Inzidenzwert zu stützen, stelle nach einem Jahr voller neuer Erkenntnisse einen Abwägungsausfall dar.
Bei der Schließung von Einzelhandel, Gastronomie etc. trete der Aspekt der willkürlichen Ungleichbehandlung hinzu. Während Baumärkte allerorten geöffnet sein dürften, auch wenn sich die Kunden dort in wenigen Bereichen (z. B. derzeit in der Gartenabteilung) drängten, dürften kleine Geschäfte nicht einmal einen einzigen Kunden hereinlassen. Die Unterscheidung zwischen Baumärkten und anderen privilegierten Geschäften einerseits und nicht privilegierten Geschäften andererseits sei willkürlich. Als milderes und durchaus sehr geeignetes Mittel sei die Beschränkung etwa auf nur einen Kunden gleichzeitig denkbar. Die völlige, nicht einmal von einer bestimmten Inzidenz abhängige Schließung von Einrichtungen der Kunst und der Kultur spreche der Kunstfreiheit nach Art. 108 BV Hohn. Es sei zu fragen, warum nicht Aufführungen unter freiem Himmel oder mit entsprechenden Lüftungskonzepten bei ausreichendem Abstand möglich seien. Das Totalverbot der Kultur nehme Kunstschaffenden ihre Existenz. Die Verordnung im Ganzen zeige eine völlige Verkennung der Grundrechte, wenn etwa Baumärkte ohne Rücksicht auf das Infektionsgeschehen geöffnet blieben, Bildungseinrichtungen aber nur bis zu einem gewissen Inzidenzwert und Kultureinrichtungen überhaupt nicht. Diese Ungleichbehandlung habe mit Infektionsschutz wenig zu tun; geöffnet bleibe, wer die stärkere Lobby habe. Auch das Verfahren zeige Mängel, da wesentliche Grundrechtseingriffe nicht durch das Parlament, sondern durch den Verordnungsgeber getroffen würden. Dieser erlasse die Verordnung nicht aufgrund einer eigenen Abwägungs- und Ermessensentscheidung, sondern in Umsetzung von Beschlüssen der weder im Grundgesetz noch in der Bayerischen Verfassung vorgesehenen Ministerpräsidentenkonferenzen.
Die Antragsteller beantragen, § 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 13 Abs. 1, § 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. b, § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 23 Abs. 1 12. BayIfSMV vorläufig außer Vollzug zu setzen.
Eine einstweilige Anordnung sei erforderlich, um dauerhafte Schäden von Kindern abzuwenden. Lasse man unabhängig vom Inzidenzwert zumindest Wechselunterricht zu, könnten die Lehrer sich wenigstens ein Bild von der Situation der Kinder gerade aus nicht privilegierten Verhältnissen verschaffen und in ernsten Fällen versuchen einzugreifen. Das Infektionsgeschehen werde hierdurch nur unwesentlich beeinflusst. Werde einstweiliger Rechtsschutz verweigert, komme eine Hauptsacheentscheidung zu spät, um irreparable Schäden in der geistigen und persönlichen Entwicklung der Kinder aufzuhalten. Ebenso helfe es dem Einzelhandel oder den Kulturbetrieben nicht, wenn über die Rechtswidrigkeit der Totalschließung erst nach dem Ende der Pandemie befunden werde. Ein völlig unkontrolliertes Geschehen sei nach einer Außerkraftsetzung der entsprechenden Bestimmungen nicht zu befürchten, da einerseits für Schulen und Einzelhandel dann die für Inzidenzwerte unter 100 getroffenen Vorschriften gelten würden und andererseits der Verordnungsgeber zu einer kurzfristigen Reaktion auf eine solche Entscheidung in der Lage sein dürfte.
2. Die Bayerische Staatsregierung hat sich mit Stellungnahme vom 16. März 2021 zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geäußert. Sie hält ihn für teilweise unzulässig und im Übrigen für unbegründet.
Der Bayerische Landtag hat sich nicht am Verfahren beteiligt.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zum Teil bereits unzulässig und im Übrigen unbegründet.
1. Unzulässig ist der Antrag, soweit er auf eine vorläufige Außervollzugsetzung des § 12 Abs. 2 Satz 1 12. BaylfSMV gerichtet ist. Weshalb das dort geregelte grundsätzliche Verbot körpernaher Dienstleistungen gegen die als verletzt gerügten Grundrechte aus Art. 103 BV und aus Art. 101 BV verstoßen soll, wird in der Begründung der Popularklage nicht ansatzweise erläutert; es fehlt somit an der nach Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG gebotenen Substanziierung einer Grundrechtsverletzung.
Zu den weiteren mit der Popularklage angegriffenen Vorschriften haben die Antragsteller hinreichend dargelegt, weshalb damit nach ihrer Auffassung unzulässige Grundrechtseinschränkungen verbunden sind. Soweit sie in Bezug auf § 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. b und § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 12. BayIfSMV eine Verletzung der Art. 128 und Art. 129 Abs. 2 BV rügen, ist in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs allerdings nicht abschließend geklärt, ob es sich dabei um Grundrechte oder lediglich um objektives Verfassungsrecht handelt (VerfGH vom 13.8.1981 VerfGHE 34, 135/138; vom 26.2.2021 – Vf. 16-VII-19 – juris Rn. 32 m. w. N.). Diese Frage bedarf auch hier keiner Entscheidung, da die Antragsteller im Hinblick auf § 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. b und § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 12. BayIfSMV neben den genannten Verfassungsnormen zusätzlich einen Verstoß gegen das (zumindest als Auffangvorschrift anwendbare) Grundrecht aus Art. 101 BV substanziiert geltend gemacht haben. Soweit eine Popularklage wie hier in zulässiger Weise erhoben ist, prüft der Verfassungsgerichtshof die angefochtenen Vorschriften anhand aller in Betracht kommenden Normen der Bayerischen Verfassung, selbst wenn diese keine Grundrechte garantieren oder wenn insoweit keine Rügen erhoben worden sind (ständige Rechtsprechung; vgl. zuletzt VerfGH vom 26.2.2021, a. a. O., m. w. N.).
2. Der Antrag im Übrigen ist unbegründet.
Der Verfassungsgerichtshof kann auch im Popularklageverfahren eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund dringend geboten ist (Art. 26 Abs. 1 VfGHG). Wegen der weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung im Popularklageverfahren in der Regel auslöst, ist an die Voraussetzungen, unter denen sie erlassen werden kann, ein strenger Maßstab anzulegen. Aufgrund des Wesens der Popularklage dürfen konkrete Maßnahmen zugunsten einzelner von einem Rechtssatz betroffener Personen nicht erlassen werden; vielmehr kommt auch im Rahmen einer einstweiligen Anordnung nur eine Regelung infrage, die generell den Vollzug vorläufig aussetzt. Die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Vorschrift vorgetragen werden, haben im Regelfall außer Betracht zu bleiben. Nur wenn bereits offensichtlich ist, dass die Popularklage aus prozessualen oder sachlichen Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat, kommt eine einstweilige Anordnung von vornherein nicht in Betracht. Umgekehrt kann der Erlass einer einstweiligen Anordnung dann geboten sein, wenn die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Vorschrift offensichtlich ist. Ist der Ausgang des Popularklageverfahrens dagegen als offen anzusehen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Popularklage aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Popularklage aber der Erfolg zu versagen wäre. Bei dieser Abwägung müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so gewichtig sein, dass sie im Interesse der Allgemeinheit eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile unabweisbar machen (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris Rn. 13 m. w. N.).
Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen. Die Voraussetzungen für eine vorläufige Außervollzugsetzung der in Rede stehenden Verordnungsbestimmungen liegen nicht vor.
a) Bei überschlägiger Prüfung ist nicht davon auszugehen, dass die Popularklage in der Hauptsache offensichtlich erfolgreich sein wird.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Normgeber die beanstandeten Regelungen auf eine bundesrechtliche Ermächtigung, nämlich § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, § 28 a IfSG, stützt. Der Verfassungsgerichtshof prüft im Verfahren der Popularklage zwar, ob die angegriffenen Bestimmungen einer Rechtsverordnung auf einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigung beruhen und deren Vorgaben einhalten. Prüfungsmaßstab sind dabei jedoch allein die Vorschriften der Bayerischen Verfassung, nicht Normen des Bundesrechts. Ein behaupteter Verstoß gegen Bundesrecht kann nur mittelbar als Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV verankerten Rechtsstaatsprinzips geprüft werden. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV erstreckt seine Schutzwirkung nicht in den Bereich des Bundesrechts mit der Folge, dass jeder formelle oder inhaltliche Verstoß einer landesrechtlichen Vorschrift gegen Bundesrecht zugleich als Verletzung der Bayerischen Verfassung anzusehen wäre. Der Verfassungsgerichtshof hat eine auf einer bundesrechtlichen Ermächtigung beruhende Vorschrift des Landesrechts deshalb nicht umfassend daraufhin zu überprüfen, ob der Normgeber die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm zutreffend beurteilt und ob er andere bundesrechtliche Vorschriften in ihrer Bedeutung für den Inhalt seiner Regelung richtig eingeschätzt hat (VerfGH vom 13.7.1988 VerfGHE 41, 69/73). Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV ist vielmehr erst dann verletzt, wenn der Widerspruch zum Bundesrecht offen zutage tritt und darüber hinaus auch inhaltlich nach seinem Gewicht als schwerwiegender Eingriff in die Rechtsordnung zu werten ist (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 4.4.2017 BayVBl 2017, 553 Rn. 26 m. w. N.; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 10; vom 23.11.2020 – Vf. 59-VII-20 – juris Rn. 30; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 16).
Hiervon ausgehend lässt sich nicht feststellen, dass der Verordnungsgeber offensichtlich die bundesrechtlich eröffneten Spielräume überschritten oder sie unter Verletzung von Grundrechten oder sonstigen Vorschriften der Bayerischen Verfassung ausgefüllt haben könnte. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass er seine verfassungsrechtliche Pflicht zur strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei der Fortschreibung und bereichsweisen Lockerung der – teilweise schwerwiegenden – Grundrechtseingriffe verletzt hat.
aa) Der Auffassung der Antragsteller, das Verfahren der Normsetzung sei rechtlich mangelhaft gewesen, weil wesentliche Grundrechtseingriffe nicht durch das Parlament, sondern durch den Verordnungsgeber in Umsetzung von Beschlüssen der in der Verfassung nicht vorgesehenen Ministerpräsidentenkonferenzen getroffen worden seien, kann bei überschlägiger Prüfung nicht gefolgt werden.
Zu grundrechtseinschränkenden Regelungen ist nicht nur der parlamentarische Gesetzgeber befugt, sondern auch der aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage tätig werdende Verordnungsgeber (VerfGH vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 15). Dass die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassenen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen jedenfalls nicht offensichtlich auf einer nicht ausreichend bestimmten bundesrechtlichen Ermächtigung beruhen, hat der Verfassungsgerichtshof im Zusammenhang mit früheren Fassungen der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung bereits mehrfach dargelegt (VerfGH vom 29.1.2021 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 27 ff. m. w. N.).
Angesichts der dem Bayerischen Ministerpräsidenten nach Art. 47 Abs. 2 BV zustehenden Richtlinienkompetenz bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass die Verordnungen in wesentlichen Punkten auf den in Videoschaltkonferenzen der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zuvor einvernehmlich beschlossenen Leitlinien beruhen. Unzulässig wäre die Beteiligung dieses föderalen Koordinationsgremiums erst, wenn damit eine rechtliche Bindung an die getroffenen (Mehrheits-)Beschlüsse verbunden wäre (vgl. VerfGH vom 25.9.2015 VerfGHE 68, 198 Rn. 193 ff.). Dafür fehlt es aber schon an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage. Es bestehen angesichts der Begründung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayMBl 2021 Nr. 172, im Folgenden: Verordnungsbegründung) auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Verordnungsgeber beim Erlass der angegriffenen Vorschriften an die in den Konferenzen gefassten Beschlüsse irrigerweise rechtlich gebunden gesehen und auf die Ausübung eigenen Regelungsermessens von vornherein verzichtet hätte.
bb) Nach gegenwärtigem Stand ist auch nicht erkennbar, dass die angegriffenen Vorschriften aufgrund ihres Regelungsinhalts offensichtlich verfassungswidrig sein könnten.
Bei der Beurteilung von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verhinderung der Verbreitung der Krankheit COVID-19 ist allgemein zu berücksichtigen, dass der Staat wegen seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit zum Handeln grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet ist (vgl. VerfGH vom 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 121; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 23; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 21; BVerfG vom 13.5.2020 – 1 BvR 1021/20 – juris Rn. 8). Zwar lässt sich nicht jegliche Freiheitsbeschränkung damit rechtfertigen, dass sie dem Schutz der Grundrechte Dritter diene. Vielmehr hat der Staat stets einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen zu schaffen (vgl. BVerfG vom 13.5.2020 – 1 BvR 1021/20 – juris Rn. 8). Für eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sprechen angesichts der Gefahren, die ein ungehindertes Infektionsgeschehen für Leib und Leben der Menschen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems mit sich bringen kann, aber gute Gründe (vgl. z. B. VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris Rn. 26; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 21; BVerfG vom 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 11).
Die verfassungsrechtliche Prüfung der beanstandeten Regelungen muss im Blick behalten, dass die Zwölfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vor dem Hintergrund einer weiterhin besorgniserregenden Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland und im Freistaat Bayern seit Oktober 2020 erlassen wurde. Die seit dem 2. November 2020 ergriffenen Maßnahmen haben bisher nicht zum landesweiten Erreichen einer 7-Tage-Inzidenz von höchstens 50 geführt, bei der erfahrungsgemäß eine Kontaktpersonennachverfolgung durch die Gesundheitsämter eher gewährleistet werden kann. Der zu Beginn des Jahres 2021 zeitweilig festzustellende Rückgang der gemeldeten Neuinfektionen hat sich in den letzten Wochen nicht fortgesetzt; die Fallzahlen nehmen inzwischen insbesondere aufgrund der zunehmenden Verbreitung der deutlich ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7 (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 15.3.2021, www.rki.de/covid-19-risikobewertung) wieder deutlich zu.
Trotz eines tendenziellen Rückgangs der durch COVID-19 verursachten Todesfälle in den letzten Wochen hat sich der zuvor kontinuierliche Rückgang der COVID-19 Fallzahlen auf Intensivstationen in weiten Bereichen nicht mehr fortgesetzt (vgl. RKI, Aktueller Lage-/Situationsbericht zu COVID-19 vom 21.03.2021, www.rki.de/covid-19-situationsbericht). Die Intensivstationen der bayerischen Krankenhäuser weisen weiterhin eine insgesamt hohe Auslastung auf (vgl. Verordnungsbegründung S. 2). In Anbetracht dieser teilweise gegenläufigen Entwicklungen des Infektionsgeschehens kann die prinzipielle Entscheidung des Verordnungsgebers, an den in der Vergangenheit getroffenen Maßnahmen festzuhalten und nur in Teilbereichen unter engen Voraussetzungen Lockerungen zu erproben, nicht beanstandet werden. Eine substanzielle Veränderung gegenüber der Gesamtsituation, die dem Erlass der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung und den dazu ergangenen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs zugrunde lag (vgl. VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris; vom 29.1.2021 – Vf. 96-VII-20 – juris; vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris), lässt sich nach dem oben Gesagten nicht feststellen.
Auch soweit die mit der Popularklage angegriffenen Vorschriften von den zuvor geltenden Regelungen abweichen und bisherige Grundrechtseinschränkungen teilweise aufheben, können sie in Anbetracht der dem Verordnungsgeber bei der Ausgestaltung des Schutzkonzepts zukommenden Einschätzungsprärogative (vgl. VerfGH vom 21.10.2020 – Vf. 26-VII-20 – juris Rn. 21; vom 16.11.2020 – Vf. 90- VII-20 – juris Rn. 23) jedenfalls nicht als offensichtlich verfassungswidrig qualifiziert werden.
(1) Der in der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung neu eingeführte Schwellenwert einer 7-Tage-Inzidenz von 100, der u. a. für den Ausschluss von Präsenzunterricht an Schulen sowie für die Schließung von Tagesbetreuungseinrichtungen und von Ladengeschäften mit Kundenverkehr maßgeblich ist, stellt entgegen dem Vortrag der Antragsteller kein gänzlich ungeeignetes und daher gegen das Willkürverbot (Art. 118 Abs. 1 BV) verstoßendes Abgrenzungskriterium dar.
Es ist dem Landesverordnungsgeber bereits bundesrechtlich vorgegeben, dass als Maßstab für die Schutzmaßnahmen bei der Bekämpfung von COVID-19 „insbesondere die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen“ zu gelten hat (§ 28 a Abs. 3 Satz 4 IfSG). An den danach festgelegten Schwellenwerten sollen unter Berücksichtigung des regionalen Infektionsgeschehens die Maßnahmen ausgerichtet werden (§ 28 a Abs. 3 Satz 2 IfSG). Um den jeweils maßgeblichen Schwellenwert bestimmen zu können, werden die in den Landkreisen, Bezirken oder kreisfreien Städten auftretenden Inzidenzen vom Robert Koch-Institut im Rahmen der laufenden Fallzahlenberichterstattung im Internet veröffentlicht (§ 28 a Abs. 3 Satz 12 IfSG).
Dieser Regelungszusammenhang macht deutlich, dass der 7-Tage-Inzidenz nach dem Willen des Bundesgesetzgebers eine herausgehobene Bedeutung bei der infektionsschutzrechtlichen Risikobewertung und der darauf beruhenden Entscheidung über grundrechtseinschränkende Schutzmaßnahmen nach § 28 a IfSG zukommt. Der Verordnungsgeber ist dabei auch nicht auf die in § 28 a Abs. 3 Sätze 5, 6, 7 und 9 IfSG genannten Schwellenwerte von 50 bzw. 35 beschränkt, sondern kann gemäß § 28 a Abs. 3 Satz 4 IfSG weitere Werte festlegen, bei deren Über- oder Unterschreitung bestimmte Rechtsfolgen eintreten.
Zwar wird mit der als Schwellenwert für einen Präsenzunterricht an Schulen sowie für das Offenhalten von Tagesbetreuungseinrichtungen und Ladengeschäften mit Publikumsverkehr festgelegten Inzidenz von 100 die Entwicklung des regionalen Infektionsgeschehens nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur unter einem ganz bestimmten quantitativen Aspekt erfasst. Dies steht der grundsätzlichen Eignung als einem exakt bestimmbaren Abgrenzungskriterium aber nicht entgegen. Der pauschale Einwand der Antragsteller, mit einer zunehmenden Zahl an durchgeführten Tests werde (in gleichem Maß) die Zahl der festgestellten Infektionen und damit ungeachtet einer gleichbleibenden Infektionslage auch der Inzidenzwert ansteigen, vermag daran nichts zu ändern. Dass der Anstieg der 7-Tage-Inzidenz maßgeblich auf zunehmender Testung beruhen würde, ist jedenfalls nicht offensichtlich.
Es ist auch nicht eindeutig geklärt, dass sich Kinder und Jugendliche in Bezug auf Ansteckung mit dem Virus und dessen Verbreitung in einer Weise von Erwachsenen unterscheiden, dass sich hinsichtlich Schulen und Tagesbetreuungseinrichtungen daraus eine fehlende Eignung der Inzidenzwerte als maßgebliches Kriterium für die Aufrechterhaltung des Präsenzbetriebs ergeben würde.
(2) Dass der seit dem 15. März 2021 grundsätzlich an allen Schulen und Schularten wieder zugelassene Präsenzunterricht (§ 18 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV) bei Überschreitung einer 7-Tage-Inzidenz von 100 durch einen Distanzunterricht ersetzt wird (§ 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. b 12. BayIfSMV), verstößt ebenfalls nicht offensichtlich gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. Das Gleiche gilt für die bei Überschreitung des Schwellenwerts erfolgende Schließung von Tagesbetreuungseinrichtungen (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 12. BayIfSMV).
An der grundsätzlichen Eignung und Erforderlichkeit dieser Maßnahmen, die im Weg der Kontaktreduzierung auf eine Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Virus abzielen, bestehen in Anbetracht der in Schulen und Tagesbetreuungseinrichtungen immer wieder auftretenden Infektionsfälle keine Zweifel (vgl. auch BayVGH vom 16.3.2021 – 20 NE 21.627 – Rn. 15 ff.). Die vollständige Untersagung eines Präsenzbetriebs steht trotz der darin liegenden gravierenden Grundrechtseingriffe nicht offensichtlich außer Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck. Die Annahme des Verordnungsgebers, dass in Regionen mit einer Inzidenz von mehr als 100 die Situation im Gesundheitswesen typischerweise so angespannt ist, dass das Risiko weiterer Neuinfektionen möglichst minimiert werden muss, kann nicht als sachwidrig angesehen werden.
Nach dem Gesamtkonzept der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung führt die Überschreitung einer 7-Tage-Inzidenz von 100 nicht nur im Bereich von Schulen und Tagesbetreuungseinrichtungen, sondern ebenso im privaten Bereich (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 26 12. BayIfSMV), bei der Sportausübung (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 12. BayIfSMV), im Wirtschaftsleben (§ 12 Abs. 1 Satz 1 12. BayIfSMV), bei der außerschulischen Bildung (§ 20 Abs. 1 Satz 5, Abs. 4 Satz 2 12. BayIfSMV) und bei bestimmten Kulturstätten (§ 23 Abs. 2 Nr. 1 12. BayIfSMV) unmittelbar zu Einschränkungen bzw. zum Wegfall der erst durch die Verordnung erfolgten Lockerungen. Der Verordnungsgeber verfolgte damit nach der Verordnungsbegründung das Ziel, das durch die „Lockdown“-Maßnahmen seit November 2020 im Landesdurchschnitt erreichte und seit mehreren Wochen relativ stabil gehaltene Niveau einer 7-Tage-Inzidenz von unter 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern durch die stufenweise vorgesehenen Öffnungsschritte nicht gefährden zu lassen. In den Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen der Schwellenwert gleichwohl überschritten wird, soll durch eine Rückkehr zu den vorhergehenden strengeren Regelungen die Infektionsdynamik möglichst wirkungsvoll gestoppt werden. Dass davon die besonders kontaktintensiven Bereiche der Schulen und Tagesbetreuungseinrichtungen nicht ausgenommen worden sind, erscheint nachvollziehbar.
Das mit der angegriffenen Regelung verbundene Verbot eines Präsenzunterrichts an allen Schularten und Jahrgangsstufen stellt nicht deshalb eine unzumutbare Belastung dar, weil damit der Bildungsanspruch bestimmter Schülergruppen völlig zunichte gemacht würde. Die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen digitale Unterrichtsformen auch für jüngere Kinder geeignet sind und zu Lernerfolgen führen können, hat zuvörderst der Verordnungsgeber im Rahmen seines Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums zu beantworten. Dass die Fortführung des Distanzunterrichts in den unteren Klassen aufgrund der in den vergangenen Monaten gewonnenen Erfahrungen völlig unvertretbar sein könnte, ist zumindest derzeit nicht zu erkennen. Auch die mit der Abkehr vom Präsenzunterricht zweifellos verbundenen Nachteile für Kinder aus bildungsfernen Familien lassen sich bei überschlägiger Prüfung nicht so zuverlässig abschätzen, dass daraus etwa zwingende verfassungsrechtliche Folgerungen abgeleitet werden könnten.
In der (erneuten) Schließung von Schulen in den vergleichsweise hochbelasteten Regionen liegt auch kein Verstoß gegen den in Art. 128 Abs. 1 BV verbürgten Ausbildungsanspruch der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Aus diesem folgt zwar nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (vgl. VerfGH vom 28.5.2009 VerfGHE 62, 79/98 m. w. N.) eine objektive Pflicht zur Gewährung chancengleicher derivativer Teilhabe an den vorhandenen Ausbildungsstätten. Dieser Verfassungsauftrag, der den Gesetz- und Verordnungsgeber unmittelbar bindet, schreibt aber weder das Unterrichtsangebot noch die anzuwendenden Lehrmethoden im Einzelnen vor (VerfGH vom 21.10.1986, VerfGHE 39, 87/92). Der in § 18 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. b 12. BayIfSMV vorgeschriebene Übergang vom Präsenzzum Distanzunterricht ist daher nicht an Art. 128 Abs. 1 BV zu messen.
Die in Art. 129 Abs. 2 BV garantierte Kostenfreiheit des Unterrichts an Volks- und Berufsschulen steht der Anordnung eines Distanzunterrichts ebenfalls nicht entgegen. Aus der genannten Verfassungsbestimmung folgt nicht, dass sämtliche mit dem Schulbesuch verbundenen Aufwendungen vom Staat zu tragen wären. Das Verfassungsgebot der Unentgeltlichkeit bezieht sich demgemäß nicht auf die Lernmittelfreiheit, deren Umfang vielmehr durch einfaches Landesgesetz bestimmt wird (VerfGH vom 19.4.2007, VerfGHE 60, 80/100). Der von den Antragstellern erhobene Einwand, die Anordnung von Distanzunterricht verletze den Anspruch auf kostenlosen Unterricht, geht somit ins Leere. Soweit ihre Bemerkung, in einkommensschwachen Familien fehlten die für einen Distanzunterricht nötigen digitalen Endgeräte, auf das aus dem Sozialstaatsgebot (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) und dem Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 BV) abzuleitende Gebot der Herstellung gleicher Bildungschancen abzielt, handelt es sich um eine von den Schul- und Sozialbehörden im Einzelfall zu lösende Aufgabe und nicht um ein der schulorganisatorischen Regelung allgemein entgegenstehendes Hindernis.
(3) Die in § 12 Abs. 1 Satz 1 und § 13 Abs. 1 12. BayIfSMV getroffenen Regelungen, wonach Ladengeschäfte mit Kundenverkehr für Handels-, Dienstleistungsund Handwerksbetriebe – mit Ausnahme der in § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV genannten – bei Überschreitung einer Inzidenz von 100 sowie Gastronomiebetriebe jeder Art inzidenzunabhängig geschlossen zu halten sind, erweisen sich bei überschlägiger Prüfung ebenfalls nicht als offensichtlich verfassungswidrig.
Das Verbot der Öffnung von Ladenlokalen und Gasträumen zu geschäftlichen Zwecken stellt zwar einen gewichtigen Eingriff in das den Betriebsinhabern zustehende Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 101 BV) dar. Es trägt aber nach dem vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzept wesentlich dazu bei, durch eine Reduzierung von vermeidbaren persönlichen Kontakten das Infektionsgeschehen zu verlangsamen. Ungeachtet der mittlerweile erheblichen Dauer und der sich fortlaufend erhöhenden wirtschaftlichen Belastungen steht die Schließung der genannten Geschäfte angesichts des weiterhin hohen Infektionsrisikos auch nicht offensichtlich außer Verhältnis zum Gewicht und zur Dringlichkeit der rechtfertigenden Gründe (vgl. auch BayVGH vom 16.3.2021 – 20 NE 21.712 – Rn. 21 ff.).
Dass der Verordnungsgeber von dem bei einer 7-Tage-Inzidenz über 100 grundsätzlich geltenden Öffnungsverbot für Handels- und Dienstleistungsbetriebe in § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV eine Vielzahl bereichsspezifischer Ausnahmen zugelassen hat, kann jedenfalls nicht als offenkundiger Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 118 Abs. 1 BV angesehen werden. So lässt sich etwa die von den Antragstellern als Beispiel einer willkürlichen Ungleichbehandlung genannte Privilegierung von Baumärkten möglicherweise mit der Überlegung rechtfertigen, dass die dort vornehmlich angebotenen Waren saisonal zu den Grundbedürfnissen zählen (vgl. Begründung der Verordnung zur Änderung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 24. Februar 2021, BayMBl 2021 Nr. 150 S. 3).
Ob sich ähnlich sachbezogene Gründe für alle im Katalog des § 12 Abs. 1 Satz 2 12. BayIfSMV genannten Geschäftszweige finden lassen, mag zweifelhaft sein. So erschließt es sich etwa infektionsschutzrechtlich nicht ohne weiteres, warum neuerdings Buchhandlungen, nicht aber beispielsweise Schuh- oder Computergeschäfte privilegiert sind. Darin besteht jedoch nicht zwingend ein Gleichheitsverstoß. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in Entscheidungen zu früheren Eilanträgen im Zusammenhang mit Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen hervorgehoben hat, darf der Normgeber besonders bei Massenerscheinungen, die sich – wie das gegenwärtige weltweite Infektionsgeschehen – auf eine Vielzahl von Lebensbereichen auswirken, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen. Unebenheiten, Friktionen und Mängel sowie gewisse Benachteiligungen in besonders gelagerten Einzelfällen, die sich im Zusammenhang mit Differenzierungen ergeben, müssen in Kauf genommen werden, solange sich für das insgesamt gefundene Regelungsergebnis ein plausibler, sachlich vertretbarer Grund anführen lässt (VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris Rn. 34 m. w. N.).
Es kann gerade in der besonderen Situation der teilweisen Wiedereröffnung nach umfassenderen Betriebsschließungen sachliche Rechtfertigungen für Ungleichbehandlungen und Differenzierungen geben, die weder allein infektionsschutzrechtlich tragen noch überragend wichtige Gründe des Gemeinwohls darstellen. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz folgt bei Entscheidungen über Betriebsöffnungen kein Automatismus im Sinn von „alle oder keiner“. Auch ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, dass der Normgeber hinsichtlich mehrerer möglicher Lösungen die zweckmäßigste oder gar die „vernünftigste“ wählt (vgl. ThürVerfGH vom 1.3.2021 – VerfGH 18/20 – juris Rn. 513 m. w. N.). Aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung lässt sich insbesondere keine Verpflichtung zu einer bestimmten „Öffnungsstrategie“ ableiten, etwa in Richtung des Vorschlags der Antragsteller, alle Geschäfte gleichzeitig zu öffnen und dabei den Zutritt zu den Ladenlokalen auf jeweils einen Kunden zu beschränken. Da es aus den vorgenannten Gründen schon an einem offenkundigen Verfassungsverstoß fehlt, kann die Frage offenbleiben, ob bei Rechtsnormen, die wie hier in Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht erlassen wurden, im Fall gerichtlich festgestellter Gleichheitsverstöße eine auch nur vorläufige Außervollzugsetzung der Norm überhaupt in Betracht kommt (dazu BayVGH vom 16.3.2021 – 20 NE 21.712 – Rn. 34 m. w. N.).
(4) Die fortdauernde Schließung der in § 23 Abs. 1 12. BayIfSMV aufgezählten Kultureinrichtungen erweist sich bei überschlägiger Prüfung ebenfalls nicht als offensichtlich verfassungswidrig.
Es kann offenbleiben, ob in der Regelung ein Eingriff in die Kunstfreiheit (Art. 108 BV) zumindest derjenigen Personen liegt, denen die Verfügungsgewalt über die betroffenen Einrichtungen zusteht und die dort Kunstwerke der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen, etwa als (private) Theater- oder Kinobetreiber (vgl. Lindner in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 108 Rn. 14); ebenso, ob mittelbar in das den Künstlern selbst zustehende Grundrecht aus Art. 108 BV eingegriffen wird, da in der flächendeckenden Sperrung der künstlerischen Wirkungsstätten etwa für Schauspieler oder Musiker eine faktische Beeinträchtigung mit eingriffsgleicher Wirkung gesehen werden kann (vgl. Lindner, a. a. O., Rn. 25; vgl. zu Art. 108 BV auch VerfGH vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 28).
Jedenfalls ist die Maßnahme geeignet, durch eine Verringerung der Zahl menschlicher Kontakte einer weiteren Ausbreitung des Virus entgegenzuwirken. Der Besuch kultureller Einrichtungen dient in besonderer Weise dem Austausch und der Kommunikation zwischen den Besuchern. Da es dabei regelmäßig auch zu Menschenansammlungen kommt, besteht ein gegenüber sonstigen sozialen Kontakten deutlich erhöhtes Ansteckungsrisiko. Es ist daher nicht offensichtlich, dass der Eingriff des Verordnungsgebers, geht man von einem solchen aus, in die vorbehaltlos gewährleistete Kunstfreiheit auf der Grundlage der bundesgesetzlichen Ermächtigung in § 28 a Abs. 1 Nr. 7 IfSG zum Schutz des gleichfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsguts des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (Art. 101 i. V. m. Art. 100 BV; vgl. auch Art. 99 Satz 2 Halbsatz 2 BV) unzulässig ist.
Dass dieser Schutzzweck auch ohne eine vollständige Schließung der Einrichtungen ebenso gut erreichbar gewesen wäre, ist zumindest nicht offenkundig. Für die Annahme der Antragsteller, bei Aufführungen im Freien oder mit einem entsprechenden Lüftungskonzept in geschlossenen Räumen ließen sich Ansteckungen unter den Besuchern und unter den Aufführenden praktisch ausschließen, dürfte es trotz vereinzelt vorliegender Studien bisher an eindeutig gesicherten Erkenntnissen fehlen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bei Veranstaltungen in den von § 23 Abs. 1 12. BayIfSMV erfassten (stationären) Kultureinrichtungen typischerweise zur längeren Anwesenheit eines größeren Personenkreises in einem engen räumlichen Umfeld kommt, sodass schon von einem einzelnen infizierten Besucher eine erhebliche Ansteckungsgefahr ausgehen kann.
Die ausnahmslose Schließung der in § 23 Abs. 1 12. BayIfSMV genannten Kultureinrichtungen verstößt auch nicht in offensichtlicher Weise gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 118 Abs. 1 BV). Wegen des Entzugs von Auftrittsmöglichkeiten in Theatern, Konzerthäusern oder ähnlichen Spielstätten unterliegen künstlerische Betätigungen zwar, auch wenn sie als solche nicht verboten sind, weitergehenden Einschränkungen als dies etwa für die Ausübung der Religionsfreiheit (Art. 107 Abs. 1 BV) oder der Versammlungsfreiheit (Art. 113 BV) gilt, die unter den Voraussetzungen der §§ 6 und 7 12. BayIfSMV auch in der Öffentlichkeit weiterhin möglich ist. In den letztgenannten Fällen geht es jedoch jeweils um eine gemeinschaftliche Grundrechtsausübung der Gottesdienstbesucher bzw. Demonstrationsteilnehmer, wohingegen die Besucher von Kulturveranstaltungen nicht selbst Träger des Grundrechts der Kunstfreiheit nach Art. 108 BV sind. Dies dürfte eine unterschiedliche Behandlung der beiden Lebensbereiche rechtfertigen.
Dass die Schließung der Einrichtungen über die aus fehlenden Eintrittsgeldern resultierenden materiellen Verluste hinaus auch in ideeller Hinsicht das staatlich zu schützende Kulturleben (Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 140 BV) erheblich schädigt, steht freilich außer Frage. Auch insoweit steht aber dem Verordnungsgeber auf der Grundlage der bundesrechtlichen Ermächtigung ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu, der bei überschlägiger Prüfung nicht offensichtlich überschritten ist.
b) Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach dem aktuellen Situationsbericht des Robert Koch-Instituts vom 21. März 2021 (www.rki.de/covid-19-situationsbericht) die Zahl der Übertragungen von COVID-19 in der Bevölkerung in Deutschland wieder deutlich zunimmt; insbesondere liegt der 7-Tage-R-Wert aktuell deutlich über 1. Nach der jüngsten Risikobewertung des Instituts (Stand 15.3.2021, www.rki.de/covid-19-risikobewertung) ist insbesondere die Dynamik der Verbreitung einiger neuer Varianten von SARS-CoV-2 besorgniserregend. Angesichts dieser Gesamtlage müssen weiterhin die Belange der von den Vorschriften Betroffenen gegenüber der fortbestehenden Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten. Eine vorläufige Außerkraftsetzung einzelner oder aller Verordnungsbestimmungen würde zudem weiterhin die praktische Wirksamkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts in einem Ausmaß beeinträchtigen, das dem Gebot zuwiderliefe, von der Befugnis, den Vollzug einer in Kraft getretenen Norm auszusetzen, wegen des erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Normgebers nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch zu machen (vgl. zu Folgenabwägungen im Zusammenhang mit „Coronamaßnahmen“ bereits VerfGH vom 26.3.2020 NVwZ 2020, 624 Rn. 13; vom 24.4.2020 NVwZ 2020, 785 Rn. 23; vom 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 26; vom 15.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 14; vom 8.6.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 22; vom 3.7.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 21; vom 12.8.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 23; vom 21.10.2020 – Vf. 26-VII-20 – juris Rn. 25; vom 29.10.2020 – Vf. 81-VII-20 – juris Rn. 19; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 41; vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris Rn. 37; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 35; vom 29.1.2021 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 48; vom 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – juris Rn. 22; vgl. auch BVerfG vom 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 16).
III.
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).


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