Medizinrecht

Erstattungsanspruch des Jobcenters gegenüber dem Träger der Rentenversicherung aus Übergangsgeld

Aktenzeichen  L 19 R 817/14

Datum:
4.5.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 69870
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 25
SGB VI § 20 Nr. 1, Nr. 3b, § 21 Abs. 4
SGB X § 102 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Hat ein Versicherter unmittelbar vor Beginn medizinischer Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung zeitgleich Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II (aufstockende Leistungen) bezogen, ist das Übergangsgeld nur aus dem bisherigen Arbeitslosengeld I zu berechen. Eine weitergehende Zahlung von Übergangsgeld aus dem Arbeitslosengeld II (hier als Vorschuss nach § 25 SGB II) kann nicht beansprucht werden, da die Aufstockungsleistungen nicht in Bezug zu früheren Beitragszahlungen stehen. (amtlicher Leitsatz)
2 Für den Erstattungsstreit zwischen Sozialleistungsträgern, die nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, ist die allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG die zutreffende Klageart. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 7 R 8/14 2014-09-09 Ent SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I.
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 09.09.2014 aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten beider Instanzen.
III.
Die Revision wird zugelassen.
IV.
Der Streitwert wird auf 221,59 Euro festgesetzt.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig und begründet. Die Beklagte hat keine Verpflichtung, dem Kläger den geltend gemachten Betrag zu erstatten, und die gegenläufige Entscheidung des Sozialgerichts Bayreuth ist aufzuheben.
Die Zulässigkeit der Berufung entfällt nicht etwa deswegen, weil die im Hinblick auf das Nichterreichen der Berufungssumme (§ 144 Abs. 1 SGG) erforderliche Zulassung durch das erstinstanzielle Gericht in einem Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) erfolgt ist. Ein Gerichtsbescheid ist eine vollgültige gerichtliche Entscheidung an Stelle eines Urteils. Es werden – abgesehen von der Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung und der Nichtbeteiligung von ehrenamtlichen Richtern – damit keine weiteren prozessualen Rechte eingeschränkt. Insofern mag es zwar widersprüchlich wirken, dass eine Streitfrage von grundsätzlicher Bedeutung als einfach gelagert beurteilt wird. Ein Formfehler hat gleichwohl nicht vorgelegen. Der Senat ist im Übrigen an die Zulassung durch das Sozialgericht gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).
Für den Erstattungsstreit zwischen Sozialleistungsträgern, die nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, ist eine unmittelbare allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG die zutreffende Klageart.
Der Kläger hätte einen Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten, wenn seine Zahlungen an die Versicherte in der Zeit vom 29.12.2011 bis 19.01.2012 aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung zur vorläufigen Leistungserbringung erfolgt wären und die Beklagte der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger gewesen wäre (§ 102 SGB X), was zur Überzeugung des Senats aber nicht der Fall ist.
Aus den Akten ergibt sich, dass der Kläger an die Versicherte in der Zeit vom 29.12.2011 bis 19.01.2012 Leistungen in Höhe von 221,59 Euro gezahlt hat, wobei er diesen Betrag in Anwendung der Berechnungsvorschriften des SGB II ermittelt hatte. Dass eine Zahlung in dieser Höhe erfolgt ist, wird auch von der Beklagten nicht in Abrede gestellt. Bei Vorliegen einer Erstattungspflicht nach § 102 SGB X wäre dieser Betrag zugrunde zu legen (§ 102 Abs. 2 SGB X).
Der Kläger hat hier aber nicht in Ersetzung einer Leistungspflicht der Beklagten gezahlt. § 25 Satz 3 SGB II verweist zwar ausdrücklich auf die Anwendung von § 102 SGB X. Der Regelungstext in § 25 Satz 1 1. Hs. SGB II lautet:
„Haben Leistungsberechtigte dem Grunde nach Anspruch auf Übergangsgeld bei medizinischen Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, erbringen die Träger der Leistungen nach diesem Buch die bisherigen Leistungen als Vorschuss auf die Leistungen der Rentenversicherung weiter“.
Der Kläger ist Träger von Leistungen nach dem SGB II. Er hat auch in der Zeit vom 29.12.2011 bis 19.01.2012, also während einer Maßnahme der medizinischen Rehabilitation für die Versicherte, weiter Leistungen in Höhe der bisherigen Leistungen nach dem SGB II erbracht. Diese hätten dann als Vorschuss mit der Folge eines Erstattungsanspruchs nach § 102 SGB X gegolten, wenn die Versicherte als Leistungsberechtigte dem Grunde nach Anspruch auf Übergangsgeld hatte.
Die Versicherte hatte unstrittig gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Erbringung von medizinischen Leistungen der Rehabilitation, die sich in dem genannten Zeitraum in Form einer konkreten Leistungserbringung manifestiert haben. Eine zeitliche Deckungsgleichheit besteht unzweifelhaft.
Ein Anspruch der Versicherten gegenüber der Beklagten auf Übergangsgeld im Zeitraum der Maßnahme regelt sich nach § 20 SGB VI und setzt kumulativ voraus, dass die Versicherte von einem Träger der Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhält (§ 20 Nr. 1 SGB VI) und unmittelbar vor Beginn der Leistungen bzw. der bestehenden Arbeitsunfähigkeit bestimmte Bedingungen vorgelegen haben (§ 20 Nr. 3 a oder b SGB VI).
Da die Versicherte unmittelbar vor der Rehabilitationsmaßnahme kein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielt hatte, scheidet § 20 Nr.1 i. V. m. Nr. 3a SGB VI als Anspruchsgrundlage aus. Dagegen hat die Beklagte § 20 Nr. 1 i. V. m. Nr. 3b SGB VI insofern jedenfalls zutreffend zur Anwendung gebracht, als die Versicherte unmittelbar vor Beginn der Maßnahme Arbeitslosengeld I bezogen hatte und zwar für Arbeitsentgelt, für das Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden waren.
Entgegen der Ansicht des Klägers ist damit aus Sicht des Senats aber nicht sofort der Weg hin zu § 21 SGB VI in vollem Umfang eröffnet und die Frage der Berechnung des zu zahlenden Übergangsgeldes nicht ausschließlich dort zu klären.
In § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB VI stehen zwar die beiden Berechnungsweisen im ersten und zweiten Halbsatz gleichberechtigt und eigenständig nebeneinander. Sie schließen sich auch nicht zwingend aus, da im Anschluss an Teilleistungen aus verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen auch Anspruchskombinationen denkbar sind, bei denen sich die Übergangsgeldhöhe aus Ansprüchen zusammensetzt, bei denen beide Berechnungsweisen zur Anwendung kommen.
Für die Klärung, ob der Versicherten neben dem zutreffend aus den bisherigen Arbeitslosengeld I berechneten Übergangsgeld eine weitere Zahlung von Übergangsgeld, die sich aus dem – dann gemäß § 25 SGB II als Vorschuss – weitergezahlten Arbeitslosengeld II berechnet hätte, führt der Hinweis der Beklagten auf deren Arbeitsanweisungen (Stand 23.12.2015) nicht weiter. Dort wird unter Nr. 3.5.3 a. E. in den anderweitig als „Aufstockung“ bezeichneten Fällen weitere Übergangsgeldzahlungen in Höhe des ergänzenden ALG-II_Bezuges ausgeschlossen. Als einziges Argument wird die historische Trennung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angeführt. Diese ist aber nicht zwingend, da nach Auslaufen niedriger ALG-I-Zahlungen, die aufgestockt werden mussten, die dann entstehende – nicht mehr näher differenzierende – ALG-II-Leistung insgesamt Grundlage für den Übergangsgeldanspruch wäre. Eine Differenzierung in einen versicherungsrechtlich gedeckten Teil entsprechend der früheren Arbeitslosenhilfe und einen allein der Hilfebedürftigkeit geschuldeten Teil entsprechend der früheren Sozialhilfe würde dabei nicht erfolgen und ist durch den Gesetzgeber durch die gesetzlichen Neuregelungen gerade nicht mehr beabsichtigt. Dementsprechend wäre auch der gesamte bisher gezahlte Betrag während des Übergangsgeldanspruches nach § 21 Abs. 4 SGB VI fortzuzahlen und für die Vorleistung durch den Träger der Leistungen nach dem SGB II würde § 25 SGB II mit dem Verweis auf den Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gelten. Da der Gesetzgeber hier selbst Veränderungen vorgesehen hat, überzeugt das historische Argument nicht.
Dagegen ist in §§ 20 und 21 SGB VI eine deutliche Anknüpfung an frühere Beitragszahlungen zur Rentenversicherung vorgenommen worden. Dies wird auch durch den Beschluss des BSG vom 19.10.2011 (a. a. O.) bestätigt, wenn ausgeführt wird (Rn. 14), dass „ausschließlich die bisherigen Leistungen jenes Beziehers von ALG II, der dem Grunde nach Anspruch auf Übergangsgeld (gemäß § 20 Nr. 3b i. V. m. § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB VI in Höhe des ALG II) gegenüber dem Rentenversicherungsträger“ habe, berücksichtigt würden. Eine Differenzierung in verschiedene Anspruchsgrundlagen nimmt die Klägerseite gedanklich selbst vor, wenn sie den Erstattungsanspruch auf Übergangsgeld aus der ersten Berechnungsgrundlage verneint, aber sich die Erstattung aus einer weiteren Anspruchsgrundlage vorbehält.
Notwendig ist weiter, dass zuvor aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden sind. Dies wird in § 21 Abs. 4 Satz 1 SGB VI ebenso wie in § 20 Nr. 3b SGB VI gefordert. Dabei genügt es nicht, dass irgendwann, irgendwelche Beiträge zu zahlen gewesen waren, sondern es wird auf das der Sozialleistung zugrunde liegende Arbeitsentgelt abgestellt und im Falle des Arbeitslosengeld-II-Bezuges auf Arbeitsentgelt abgestellt, aus dem zuvor Beiträge gezahlt worden waren. Darin besteht eine enge Verknüpfung, die einen Anspruch nicht nur für diejenigen Personenkreise ausschließt, die nie Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet haben, sondern auch bei Personen, für die zwar Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden waren, hinsichtlich von Leistungen, die nicht in Bezug zu früheren Beitragszahlungen stehen. Hierzu gehören die „Aufstockungsleistungen“ nach dem SGB II.
Eine Sperrwirkung, dass Übergangsgeld auf einer Rechtsgrundlage weiteres Übergangsgeld aus einer anderen Rechtsgrundlage ausschließt ist nicht zu erkennen. Das in Ersetzung des ALG-I-Anspruches zu zahlende Übergangsgeld ist zwar begrenzt auf dessen Höhe; die Übergangsgeldzahlung insgesamt wäre dadurch jedoch nicht begrenzt.
Das „oder“ in § 20 Nr. 3b SGB VI ist nicht exklusiv, sondern zählt verschiedene Anspruchsgrundlagen auf, die gleichzeitig erfüllt sein können und dann dazu führen, dass aus jeder Anspruchsgrundlage ein Zahlungsanspruch resultiert, der dann in die Gesamtzahlungshöhe mündet. Eine exklusive Lesart würde sonst womöglich jeden Leistungsanspruch auf Übergangsgeld, also auch den aus ALG I, entfallen lassen, was nicht der Gesetzessystematik entsprechen kann. Bei der Berechnungsvorschrift des § 21 Abs. 4 SGB VI ist – wie dargestellt – ein „oder“ ja schon gar nicht im Text enthalten.
Dass der Gesetzgeber selbst in § 21 Abs. 4 Satz 2 lit a bis d SGB VI Fälle, in denen er beim Bezug von ALG II eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme der Rentenversicherungsträger gegeben sah, aufgezählt hat, schließt nicht aus, dass bereits zuvor aus anderen Gründen es überhaupt nicht zu einem Anspruch auf Übergangsgeld gekommen ist. Dass der sog. Aufstockungsfall an dieser Stelle nicht dabei ist, während in der ansonsten gleichartigen Aufzählung nach § 3 Satz 1 Nr. 3a SGB VI a. F., der so allerdings nur bis Ende 2010 galt, ausdrücklich unter Buchstabe e die sog. Aufstocker, also Beschäftigte, Selbstständige oder Leistungsbezieher mit verbleibendem Hilfebedarf nach dem SGB II, erfasst worden waren, könnte zwar als Hinweis auf eine gesetzgeberisch gewollte Sonderbehandlung hindeuten, ist aus Sicht des Senats jedoch kein zwingendes Argument für einen Übergangsgeldanspruch in den sog. „Aufstockungsfällen“.
Da die Beklagte somit nicht verpflichtet gewesen war, weitere Übergangsgeldzahlungen an die Versicherte zu erbringen, lag zur Überzeugung des Senats auch keine „Vorschusszahlung“ vor und besteht kein Erstattungsanspruch des Klägers. § 25 SGB II wird insofern durch § 20 Nr. 3b SGB VI i. V. m. § 21 Abs. 4 Satz 1 2. Hs. SGB VI nicht eröffnet.
Dagegen würde der Senat einen Erstattungsanspruch des Klägers, wenn er zu bejahen gewesen wäre, nicht als weggefallen oder verwirkt ansehen, obwohl der Kläger auf die Nachfrage der Beklagten, ob er Ansprüche auf eine für die Versicherte vorgesehene Übergangsgeldzahlung erhebe, dies zunächst verneint hatte. Zwar wäre der bessere Weg gewesen, einerseits den Anspruch sofort geltend zu machen und andererseits die zu geringe Berechnung der Übergangsgeldhöhe durch die Beklagte zu bemängeln. Aber durch die verwendete Formulierung, das zeitnahe Geltendmachen des – weiteren – Erstattungsanspruchs und die Tatsache, dass der Beklagten durch die Auszahlung des Übergangsgelds an die Versicherte kein Nachteil erwachsen ist, kann dies hingenommen werden.
Da weder Kläger noch Beklagte zu dem von § 183 SGG erfassten Personenkreis gehören, richtet sich die Kostenentscheidung über § 197a SGG nach der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). § 154 VwGO bestimmt, dass der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, wobei sich dies auf beide Verfahrenszüge erstreckt.
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil hier eine grundsätzliche Frage der Rechtsanwendung entscheidungserheblich ist, nämlich ob eine einschränkende Auslegung des § 25 SGB II durch § 20 i. V. m. § 21 SGB VI erfolgt oder nicht.


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