Medizinrecht

Kein Anordnungsgrund für Leistungen in Bezug auf die Vergangenheit

Aktenzeichen  L 11 AS 272/16 B ER

Datum:
25.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II SGB II § 11
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. In der Regel kein Anordnungsgrund für Leistungen in Bezug auf die Vergangenheit im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes. (amtlicher Leitsatz)
2 Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden. (redaktioneller Leitsatz)
3 Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache, ist in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 5 AS 319/16 ER 2016-03-31 Bes SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 31.03.2016 – S 5 AS 319/16 ER – wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig sind zuletzt noch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld – Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für April 2016.
Der Antragsteller (ASt) bezog vom Antragsgegner (Ag) Alg II. Am 15.02.2016 hat er eine Beschäftigung bei der Firma D. Haus- und Gebäudetechnik aufgenommen. Ausweislich des Arbeitsvertrages vom 22.02.2016 beträgt das Gehalt 3.400 € brutto pro Monat. Über den Auszahlungszeitpunkt enthält der Vertrag keine Regelung.
Am 21.03.2016 hat der ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung dahingehend beantragt, den Ag zur Leistungserbringung für das zweite und dritte Quartal 2016, mindestens jedoch für die Monate April und Mai 2016, zu verpflichten. Er habe bereits mehrfach Anträge auf Weiterbewilligung gestellt. Durch größere Ausgaben würde in den Monaten März und April 2016 das Nettogehalt fast vollständig aufgezehrt. Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 31.03.2016 – S 5 AS 319/16 ER – abgelehnt. Eine Hilfebedürftigkeit sei nicht ersichtlich. Der ASt könne seinen Bedarf mit dem Nettogehalt von 2.119,36 € decken. Vor dem Tätigen größerer Ausgaben habe er seine Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Dagegen hat der ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht erhoben und zuletzt noch Alg II iHv 686,90 € für April 2016 begehrt. Ihm seien im April 2016 keinerlei Geldmittel zugeflossen. Dies sei vielmehr erst zu Beginn des Folgemonats der Fall gewesen, weshalb ein Einsatz der Mittel für April 2016 nicht möglich gewesen sei.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz – SGG), aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.
Auch wenn der ASt zuletzt nur noch Alg II iHv 686,90 € für April 2016 begehrt, ist seine Beschwerde zulässig. Ein Ausschluss der Beschwerde nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG liegt nicht vor, da die Berufung in der Hauptsache nicht der Zulassung bedurft hätte. Die Einlegung der Beschwerde erfolgte zunächst ohne Beschränkung, so dass eine Beschwer im Hinblick auf Alg II für das “zweite und dritte Quartal 2016” vorgelegen hat, welches beim SG beantragt und von diesem abgelehnt worden war. Für die Ermittlung der maßgeblichen Beschwer kommt es entscheidend auf den Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung an. Eine spätere Beschränkung – wie vorliegend – führt nicht zur nachträglichen Unzulässigkeit (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, vor § 143 Rn. 10b).
Rechtsgrundlage für die Gewährung des diesbezüglichen vorläufigen Rechtsschutzes stellt § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG dar, da der geltend gemachte Rechtsanspruch in der Hauptsache mittels einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend zu machen ist. Insoweit ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 – BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 – BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 – NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl, Rn. 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt – voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 – Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; BVerfG vom 15.01.2007 – 1 BvR 2971/06; weniger eindeutig BVerfG, Beschluss vom 04.08.2014 – 1 BvR 1453/12).
Ein Anordnungsgrund ist vorliegend nicht gegeben. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache, ist in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss vom 17.01.2011 – L 11 AS 889/10 B ER – juris). Zu diesem Zeitpunkt ist aber der Zeitraum (April 2016), für den der ASt noch Alg II begehrt, bereits abgelaufen. Der Senat war auch an einer früheren Entscheidung gehindert. So ging die – zunächst uneingeschränkte – Beschwerde erst am 27.04.2016 beim Bayerischen Landessozialgericht ein und der ASt hatte zugleich eine ausführliche Begründung erst für die zweite Maihälfte 2016 angekündigt. Zudem war dem Ag zunächst Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Im Rahmen einer Regelungsanordnung ist der Anordnungsgrund die Notwendigkeit, wesentliche Nachteile abzuwenden, um zu vermeiden, dass der ASt vor vollendete Tatsachen gestellt werden, ehe er wirksamen Rechtsschutz erlangen kann (vgl. Keller a. a. O. § 86b Rn. 27a). Charakteristisch ist daher für den Anordnungsgrund die Dringlichkeit der Angelegenheit, die in aller Regel nur in die Zukunft wirkt. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (vgl. Beschluss des Senates vom 12.04.2010 – L 11 AS 18/10 B ER – juris). Beides ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr sind das Bestehen und die Höhe des Anspruchs auf Alg II für April 2016 im Rahmen des laufenden Widerspruchsverfahrens bzw. eines anschließenden Klageverfahrens zu prüfen.
Die Beschwerde war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


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