Medizinrecht

Kein Anspruch auf Kostenübernahme für eine stationäre Liposuktion beider Beine

Aktenzeichen  L 4 KR 136/15

Datum:
9.11.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 118188
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 37 Abs. 2
SGB V § 2 Abs. 1 S. 3, Abs. 1a, § 27 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 137c, § 137e

 

Leitsatz

1. Auch im stationären Bereich ist das Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V zu beachten. Es müssen daher wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über die Qualität und Wirksamkeit einer Methode vorliegen, um einen Leistungsanspruch der Versicherten gegenüber der GKV auszulösen. § 2 Abs. 1a SGB V bleibt hiervon unberührt.
2. Die an das Vorliegen wissenschaftlich nachprüfbarer Aussagen zu stellenden Anforderungen hängen von den praktischen Möglichkeiten tatsächlich erzielbarer Evidenz ab (vgl. BSG vom 17.12.2013, B 1 KR 70/12 R). Für die Liposuktion als neue Behandlungsmethode ist der Evidenznachweis bislang nicht geführt worden, obwohl praktische Schwierigkeiten dies nicht unmöglich machen. Liposuktion gehört daher zur Zeit nicht zum Leistungskatalog der GKV.
3. Die Änderung des § 137c SGB V durch das GKV Versorgungsstärkungsgesetz vom 16.07.2015 befreit nicht von der Einhaltung des Qualitätsgebots nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V.

Verfahrensgang

S 17 KR 445/12 2015-01-21 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. Januar 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerechte eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) und begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die beantragte stationäre Liposuktion, so dass das Urteil des SG keinen Bestand haben kann.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 14.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.03.2012 war zulässig. Die Beklagte hat die Aufgabe des Bescheides zur Post nicht in ihren Akten vermerkt, so dass die Bekanntgabevermutung des § 37 Abs. 2 SGB X nicht greift. Da die Beklagte für den Zugang ihres Bescheides beweispflichtig ist und den Zugang an einem bestimmten Datum nicht nachweisen kann, ist davon auszugehen, dass der Zugang tatsächlich erst im Oktober 2011 erfolgt ist, so wie es die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 09.11.2016 ihrer Erinnerung nach angegeben hat. Demzufolge ist der Widerspruch vom 04.11.2011 gegen den Bescheid vom 14.09.2011 als rechtzeitig anzusehen. Damit hat auch die Widerspruchsstelle der Beklagten als zuständige Stelle über den Widerspruch entschieden und eine Entscheidung in der Sache über den Gegenstand des Ausgangsbescheids getroffen.
Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung zu Lasten der GKV, wenn die Behandlung notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Bei der Klägerin liegt eine Krankheit im Sinne des Krankenversicherungsrechts vor. Nach der Rechtsprechung setzt Krankheit einen regelwidrigen, vom Leitbild eines gesunden Menschen abweichenden Körper- oder Geisteszustand voraus, der ärztlicher Heilbehandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (st. Rechtsprechung, vgl. Urteil des BSG vom 22.04.2015, B 3 KR 3/14 R). Nach den vorliegenden Befundberichten, dem eingeholten Sachverständigengutachten und den Einlassungen der Klägerin steht für den Senat fest, dass ein regelwidriger Körperzustand zu bejahen ist. Auch wenn durch die Form der Beine sicher nicht von einer Entstellung der Klägerin auszugehen ist, bestehen doch durch die Fettverteilungsstörung unstreitig Funktionseinschränkungen, vor allem in Form von Schmerzen, aber auch Schwere- und Spannungsgefühl, die das Stehen und Gehen erheblich beeinträchtigen. Auch wenn das Ausmaß der Schmerzen kaum objektivierbar ist und der Senat Zweifel an der geschilderten täglichen Schmerzmitteldosis hat, so entsprechen die geschilderten Beschwerden dem typischen Bild eines behandlungsbedürftigen Lipödems.
Da die Klägerin ausschließlich die Übernahme der Kosten für eine Liposuktion im Wege stationärer Behandlung beantragt hat, sind die Voraussetzungen stationärer Krankenhausbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 in Verbindung mit § 39 Abs. 1 SGB V zu prüfen. Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch das teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häusliche Krankenpflege erreicht werden kann. Konkretisierend hat die Rechtsprechung hierzu entschieden, dass ein Krankheitszustand vorliegen muss, dessen Behandlung den Einsatz der besonderen Mittel des Krankenhauses notwendig macht. Als besondere Mittel des Krankenhauses werden eine apparative Mindestausstattung, geschultes Pflegepersonal und ein jederzeit präsenter oder rufbereiter Arzt herausgestellt. Es ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, bei der den mit Aussicht auf Erfolg angestrebten Behandlungszielen und den vorhandenen Möglichkeiten einer vorrangigen ambulanten Behandlung entscheidende Bedeutung zukommt (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. Urteil vom 17.11.2015, B 1 KR 18/15 R).
Vor diesem Hintergrund hat der Senat erhebliche Zweifel, ob zur Behandlung der Erkrankung stationäre Krankenhausbehandlung notwendig ist. Zum einen setzt die Subsidiarität der Krankenhausbehandlung gegenüber ambulanten Behandlungsmöglichkeiten voraus, dass die ambulanten Therapieoptionen vollständig ausgeschöpft sind. Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden, da die Klägerin Heilmittel überhaupt nicht in Anspruch genommen hat und auch nicht feststeht, dass eine in der Vergangenheit erfolgte Kompressionsstrumpfversorgung fachgerecht durchgeführt wurde. Zwar haben sowohl die gerichtliche Sachverständige als auch die Klägerin unter Bezugnahme auf den Befund der chirurgischen Abteilung des Universitätsklinikums C-Stadt ausgeführt, dass Kompressionsbehandlungen insgesamt nicht erfolgsversprechend wären, da die Fettansammlungen physikalisch hierdurch nicht beeinflussbar wären. Dem steht allerdings das Grundsatzgutachten des MDS und die S1-Leitlinie Lipödem (aktueller Stand Oktober 2015) entgegen, wonach vor allem mit einer fachgerecht durchgeführten Kompressionsbehandlung durchaus Erfolge zu erzielen sind bis hin zur Schmerzfreiheit der Betroffenen. Unbestritten ist zwar, dass die überschüssigen Fettzellen durch die einschlägigen ambulanten Behandlungsmethoden (manuelle Lymphdrainage, Kompressionstherapie, Bewegungstherapie und Hautpflege) nicht vermindert oder gar beseitigt werden können. Hierauf ist aber nicht abzustellen, denn es kommt im Sinne der Vermeidung eines operativen Eingriffs darauf an, ob die Beschwerden der Klägerin günstig beeinflussbar sind, das heißt insbesondere eine Ödem- und Schmerzreduktion zu erreichen sind.
Nicht überzeugen kann den Senat auch der Vortrag der Sachverständigen und der Klägerin, dass eine solche Kompressionstherapie bzw. Lymphdrainage für die Klägerin unzumutbar sei, weil sie mit nicht erträglichen Schmerzen verbunden wäre. Eine fachgerechte Behandlung, gegebenenfalls auch in einer Reha-Einrichtung, die auf das Beschwerdebild der Klägerin spezialisiert ist, kann nach Überzeugung des Senats die Möglichkeit einer Besserung der Beschwerden eröffnen. In jedem Fall ist es der Klägerin zumutbar, eine solche Behandlung probeweise durchzuführen.
Zweifel bestehen weiter daran, ob zur Durchführung einer Liposuktion ein stationärer Krankenhausaufenthalt erforderlich wäre. Indem das Uniklinikum bei einem einzeitigen Vorgehen die stationäre Behandlung empfohlen hat, erscheint es möglich, den Eingriff auch in mehreren Schritten ambulant durchzuführen. Soweit die gerichtliche Sachverständige gegen eine ambulante Behandlung angeführt hat, dass das Infektionsrisiko ansteigen könne, so ist doch festzustellen, dass bei einer fachgerecht durchgeführten Liposuktion das Infektionsrisiko ambulant oder stationär beherrschbar erscheint und auch eine ausreichende Nachbehandlung durch niedergelassene Ärzte sicher gestellt werden kann.
Letztlich muss die Frage der ambulanten Behandlungsmöglichkeiten nicht abschließend entschieden werden, da jedenfalls für den Senat feststeht, dass die Liposuktion jedenfalls zur Zeit auch im stationären Bereich nicht zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Auch die im stationären Bereich erbrachten Leistungen müssen dem Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V genügen, um einen Leistungsanspruch der Versicherten auslösen zu können und gegenüber den Krankenkassen abrechenbar zu sein (ständige Rsp. des BSG, vgl. Urteile vom 21.03.2013, B 3 KR 2/12 R und vom 17.12.2013, B 1 KR 70/12 R). § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V bestimmt allgemein, dass die Leistungen der Krankenversicherung nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Diesen Qualitätskriterien entspricht eine Behandlung, wenn die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte und Wissenschaftler) die Behandlungsmethode befürwortet und, von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens besteht. Dies setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein (BSG vom 21.03.2013, B 3 KR 2/12 R).
Das BSG hat mehrfach hervorgehoben, dass die Behandlungsmöglichkeiten im stationären Bereich nicht schrankenlos sind. Gegenteiliges bedeute, unter Missachtung des Zwecks der GKV die Einheit der Rechtsordnung zu gefährden und ggfs. sogar Schadensersatzansprüche für Patienten oder strafrechtliche Konsequenzen für Krankenhausärzte auszulösen. Andererseits dürfe die Anforderung an wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen aber nicht als starrer Rahmen missverstanden werden, der unabhängig von den praktischen Möglichkeiten tatsächlich erzielbarer Evidenz gelte. Im Übrigen könne sich eine Abmilderung des Qualitätsgebotes auch daraus ergeben, dass in einschlägigen Fällen eine grundrechtsorientierte Auslegung der Grenzmaßstäbe stattzufinden habe (vgl. Urteil des 1. Senats vom 17.12.2013, a.a.O.).
Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass sich der kurative Erfolg der Liposuktion bislang nicht auf Grundlage evidenzbasierter Medizin aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Studien ergibt. Wie sich aus dem aktualisierten Grundsatzgutachten des MDK zur Liposuktion bei Lip- und Lymphödemen ergibt, sind zur Liposuktion bei Lipödem weiterhin nur Publikationen kleinerer Fallserien bekannt, die grundsätzlich nicht geeignet sind, einen patientenrelevanten Vorteil zu belegen. Eine Änderung der Bewertung habe sich nicht ergeben. Der Senat hält es aber auch nicht für ausgeschlossen, dass die geforderten wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen erzielt werden können. Zwar mögen praktische Schwierigkeiten bestehen, Langzeitergebnisse in einem medizinischen Feld zu gewinnen, das sich im Grenzbereich zur ästhetischen Medizin befindet und das bislang hauptsächlich durch private Abrechnung der Leistungserbringer gekennzeichnet war. Andererseits wird der medizinische Nutzen der Liposuktion bei Lipödem gegenwärtig durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) im Verfahren nach § 137c Abs. 1 SGB V überprüft, so dass davon auszugehen ist, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Prüfung möglich ist.
Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich auch nicht durch die Regelung des § 137c Abs. 3 SGB V (in der Fassung des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes vom 16.07.2015, BGBl I S. 1211). Danach dürfen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, zu denen der GBA im stationären Bereich keine Entscheidung getroffen hat, angewandt werden, wenn sie das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative bieten und ihre Anwendung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt, sie also insbesondere medizinisch indiziert und notwendig ist. Das BSG hat bereits festgestellt, dass sich durch die Änderung des § 137 c SGB V und gleichzeitige Einfügung des § 137e SGB V an der bisherigen Grundkonzeption nichts geändert hat und lediglich Raum für den GBA geschaffen wurde, Richtlinien zur Erprobung nach § 137e SGB V zu beschließen. Es verbleibe weiter bei dem Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V (Beschluss des BSG vom 15.07.2015, B 1 KR 23/15 B). Dies gilt aus Sicht des erkennenden Senats umso mehr, als es sich im vorliegenden Fall nicht um eine im Rechtssinn schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Erkrankung handelt und es zumutbar erscheint, die noch ausstehende Entscheidung des GBA im Rahmen des § 137c Abs. 1 SGB V abzuwarten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, da die zugrunde liegenden Rechtsfragen vor dem Hintergrund der geltenden Rechtslage geklärt sind (§ 160 Abs. 2 SGG).


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