Medizinrecht

Popularklage, Anordnung, Krankheit, Verletzung, Wohnung, Berechnung, Widerspruch, Eilverfahren, Verfahren, Verpflichtung, Verfassungswidrigkeit, Rechtssatz, Erlass, Voraussetzungen, einstweilige Anordnung, einstweiligen Anordnung, allgemeine Handlungsfreiheit

Aktenzeichen  Vf. 96-VII-20

Datum:
29.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 9551
Gerichtsart:
VerfGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verfassungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Keine Außervollzugsetzung von Vorschriften der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung.

Verfahrensgang

Vf. 96-VII-20 2020-12-30 Ent VERFGHBAYERN VerfGH München

Tenor

Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 11. und 22. Januar 2021 werden abgewiesen.

Gründe

I.
Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrer Popularklage u. a. gegen die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV) vom 15. Dezember 2020 (BayMBl Nr. 737, BayRS 2126-1-15-G), die zuletzt durch Verordnung vom 20. Januar 2021 (BayMBl Nr. 54) geändert worden ist.
1. In diesem Zusammenhang beantragen sie mit Schriftsatz vom 11. Januar 2021, die Verordnung zur Änderung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 8. Januar 2021 (BayMBl Nr. 5, BayRS 2126-1-15-G) im Weg einer einstweiligen Anordnung außer Vollzug zu setzen.
Gestützt ist die vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassene Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021, die gemäß ihrem § 2 am 11. Januar 2020 in Kraft getreten ist, auf § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl I S. 1045), das zuletzt durch Art. 4 a des Gesetzes vom 21. Dezember 2020 (BGBl I S. 3136) geändert worden ist, in Verbindung mit § 9 Nr. 5 der Delegationsverordnung (DelV) vom 28. Januar 2014 (GVBl S. 22, BayRS 103-2-V), die zuletzt durch § 3 der Verordnung vom 22. Dezember 2020 (GVBl S. 687) geändert worden ist.
2. Mit weiterem Schriftsatz vom 22. Januar 2021 beantragen die Antragstellerinnen ferner, die Verordnung zur Änderung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 20. Januar 2021 (BayMBl Nr. 54, BayRS 2126-1-15G) im Weg einer einstweiligen Anordnung außer Vollzug zu setzen. Auch diese vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege erlassene Rechtsverordnung ist auf § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt. Sie ist am 21. Januar 2021 in Kraft getreten.
II.
1. Ihren gegen die Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 gerichteten Antrag begründen die Antragstellerinnen wie folgt:
Sie machen geltend, die in § 1 Nr. 1 der Änderungsverordnung getroffene Neuregelung des § 4 Abs. 1 11. BayIfSMV (Kontaktbeschränkung) verletze die Grundrechte auf Freiheit der Person (Art. 102 BV), Freizügigkeit (Art. 109 Abs. 1 BV), Schutz der Familie (Art. 124 Abs. 1 BV) und allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV). Es sei danach untersagt, mehr als eine weitere, dem eigenen Hausstand nicht angehörende Person in der Öffentlichkeit oder im privaten Bereich zu treffen. Ein gleichzeitiger Kontakt der Antragstellerinnen mit ihren Eltern und Geschwistern werde dadurch unmöglich gemacht.
Die in § 1 Nr. 5 Buchst. c der Änderungsverordnung getroffene Neuregelung des § 12 Abs. 1 Satz 6 11. BayIfSG (Abholung vorbestellter Waren) verletze Art. 101 BV (Berufsfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit) und Art. 151 Abs. 2 BV (Freiheit zur Betätigung in der Wirtschaft), weil die Gewerbetreibenden durch die Verpflichtung zur Entwicklung von Hygienekonzepten und die Kunden durch die Verpflichtung zum Tragen von FFP2-Masken belastet würden. Da FFP2-Masken derzeit nicht ohne Weiteres zu erwerben seien, drohe für die Gewerbetreibenden ein weiterer Geschäftsrückgang.
Die in § 1 Nr. 8 der Änderungsverordnung getroffene Neuregelung des § 25 11. BayIfSG (Regelungen bei erhöhter Sieben-Tage-Inzidenz: Beschränkung touristischer Tagesausflüge, weitere Anordnungen der Kreisverwaltungsbehörden) beeinträchtigten die Betroffenen in ihren Grundrechten auf persönliche Freiheit, Freizügigkeit und allgemeine Handlungsfreiheit, da ihr Bewegungsradius auf einen Umkreis von 15 km um ihre Wohnortgemeinde eingeschränkt werde.
Die angegriffenen Bestimmungen verstießen schon deshalb gegen die Verfassung, weil in dem hier berührten grundrechtsrelevanten Bereich alle wesentlichen Entscheidungen durch den Gesetzgeber selbst mittels parlamentarischen Gesetzes zu treffen seien. Dies gelte insbesondere mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 102 BV. Davon unabhängig stelle § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die angegriffenen Vorschriften dar. § 28 a IfSG genüge seinerseits nicht den Vorgaben des Grundgesetzes und sei verfassungswidrig. Außerdem seien die Voraussetzungen für den Erlass einer Rechtsverordnung auf der Grundlage der §§ 28 ff. IfSG nicht erfüllt. Rechtsverordnungen auf der Grundlage der §§ 28 ff. IfSG könnten nicht gegen Nichtstörer gerichtet werden. Zudem halte die angegriffene Änderungsverordnung die in § 28 a Abs. 5 Satz 2 IfSG vorgesehene Befristung auf vier Wochen nicht ein.
Die angegriffene Neuregelung des § 25 11. BayIfSMV verstoße gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot. Es sei nicht ersichtlich, was der Normgeber unter „touristischen Tagesausflügen“ im Sinn des § 25 Abs. 1 11. BayIfSMV verstehe. Aus dem Verordnungstext ergebe sich nicht, ob das Verbot, den Umkreis von 15 km um die Wohnortortgemeinde zu verlassen, auch hinsichtlich der Ausübung von Sport und Bewegung an der frischen Luft gelte. Die Bemessung des 15 kmUmkreises sei nicht eindeutig geregelt, vor allem erschließe sich nicht, ob die Berechnung der Entfernung ab der Gemeindegrenze oder ab der jeweiligen Wohnung zu erfolgen habe. Unbestimmt sei außerdem der Begriff der „ortsüblichen Bekanntmachung“ in § 25 Abs. 1 Satz 2 11. BayIfSMV. Der Normadressat könne ferner nicht ersehen, wann ein „deutlich erhöhter Inzidenzwert“ im Sinn des § 25 Abs. 2 11. BayIfSMV vorliege und welche „weitergehenden Anordnungen“ die Kreisverwaltungen in diesem Fall zu treffen hätten. Eine derartige Blankoermächtigung an die Verwaltungsbehörden sei verfassungswidrig.
Die angegriffenen Vorschriften verstießen gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere die Verpflichtung zum Tragen von Schutzmasken und zur Einhaltung der Abstandsregelungen stellten mildere Mittel dar. Durch Schutzimpfungen und die kostenlose Versorgung der Bürger mit FFP2-Masken könne den Infektionsrisiken ebenso wirksam begegnet werden. Insgesamt sei vorrangig für einen gezielten Schutz der Risikogruppen, hauptsächlich in Alten- und Pflegeheimen, zu sorgen. Mehreren Verlautbarungen der Weltgesundheitsorganisation sei zu entnehmen, dass diese Lockdowns nicht als primäres Mittel zur Bekämpfung des Infektionsgeschehens ansehe. Die beanstandeten Grundrechtseingriffe ließen sich nicht unter Hinweis auf die gestiegenen Inzidenzzahlen und das Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, rechtfertigen. Ein positiver PCR-Test könne nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mit einer Corona-Infektion gleichgesetzt werden. Zudem seien PCR-Tests äußerst fehleranfällig. Bei einer Fehlerquote der Tests von 0,1% könne eine Inzidenz von unter 100 SARS-CoV-2 Fällen pro 100.000 Einwohner nie erreicht werden. Nach den von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemeldeten Zahlen zur durchschnittlichen Auslastung der Intensivstationen in Deutschland drohe keine Überlastung des Gesundheitssystems. Statistisch lasse sich für das Jahr 2020 keine Übersterblichkeit wegen SARS-CoV-2 nachweisen. Letztlich sei Corona nicht gefährlicher als Grippe. Vor diesem Hintergrund komme den durch die beanstandeten Vorschriften hervorgerufenen Grundrechtsbeeinträchtigungen höheres Gewicht zu als den vom Normgeber zur Rechtfertigung herangezogenen Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass Ausgangsbeschränkungen selbst mit der Gefahr psychischer Folgeerkrankungen, des Anstiegs von Suiziden und der Zunahme häuslicher Gewalt verbunden seien.
Die Antragstellerinnen sind der Auffassung, der Verfassungsgerichtshof dürfe sich im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mit der summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache begnügen, sondern müsse eine darüber hinausgehende inhaltliche Überprüfung vornehmen.
2. Gegen die Änderungsverordnung vom 20. Januar 2021 bringen die Antragstellerinnen im Wesentlichen vor, zum Stichtag 19. Januar 2021 habe sich die tatsächliche Ausgangslage hinsichtlich des Infektionsgeschehens erheblich geändert. Die Werte der 7-Tages-Inzidenz und die Sterbezahlen seien zurückgegangen. Eine Überlastung des Gesundheitssystems drohe nicht mehr, nachdem die Zahl der freien Intensivbehandlungsplätze zugenommen habe. Zudem habe die Staatsregierung mit der Errichtung einer Task Force zum Schutz von Senioren in Alten- und Pflegeheimen eine neue Maßnahme eingeleitet, die zu einer weiteren Abnahme der tödlichen Krankheitsverläufe führen werde. Außerdem seien in die Gefahrenprognose nunmehr auch die angelaufenen Impfungen mit einzubeziehen.
III.
1. Die Bayerische Staatsregierung hat sich mit Stellungnahme vom 15. Januar 2021 zum Antrag vom 11. Januar 2021 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung geäußert. Sie hält den Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses für unzulässig, soweit die Antragstellerinnen Rügen erheben, die bereits Gegenstand ihres vorangegangenen Antrags waren, der mit Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 30. Dezember 2020 (Vf. 96-VII-20) abgelehnt wurde. Im Übrigen sei der Antrag unbegründet. Die in der Änderungsverordnung vorgesehenen zusätzlichen Einschränkungen seien mit Blick auf das Infektionsgeschehen erforderlich und zumutbar. Das Robert-Koch-Institut schätze in seinen aktuellen Situationsberichten die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiter als sehr hoch ein. Die Lage in den bayerischen Krankenhäusern sei angespannt. Eine Zuspitzung des Infektionsgeschehens würde zu einer Überlastung der Intensivkapazitäten führen und hätte zur Folge, dass darüber entschieden werden müsste, welche Patienten versorgt würden und welchen Patienten Hilfe versagt bliebe. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Sorge, dass eine in Großbritannien um sich greifende besonders ansteckende Mutation des SARS-CoV-2-Virus auch in Deutschland Fuß fassen könnte, habe die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung durch die in der Änderungsverordnung vorgesehenen Maßnahmen ergänzt werden müssen.
2. Der Bayerische Landtag hatte Gelegenheit zur Äußerung zum Antrag vom 11. Januar 2021.
3. Hinsichtlich des Antrags vom 22. Januar 2021 wurde wegen der besonderen Dringlichkeit davon abgesehen, den im Verfahren zur Hauptsache Beteiligten oder Äußerungsberechtigten vor der Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Art. 26 Abs. 2 Satz 2 VfGHG).
IV.
1. Soweit sich der Antrag vom 11. Januar 2021 gegen § 1 Nr. 8 der Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 richtet, ist er teilweise unzulässig. Dort wurde § 25 11. BayIfSMV neu gefasst. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 26. Januar 2021 (Az. 20 NE 21.162) § 25 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 11. BayIfSMV außer Vollzug gesetzt. Zudem hat der Normgeber mit Verordnung vom 28. Januar 2021 (BayMBl Nr. 75) § 25 Abs. 1 11. BayIfSMV mit Wirkung vom 29. Januar 2021 neu gefasst; die Regelungen der bisherigen Sätze 1 bis 3 sind entfallen. Damit besteht insoweit kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für eine etwaige vorläufige Außervollzugsetzung im Eilverfahren durch den Verfassungsgerichtshof.
Ob der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 11. Januar 2021 im Übrigen zulässig ist, kann dahinstehen, da er jedenfalls unbegründet ist.
2. Der Eilantrag vom 22. Januar 2021 ist insgesamt unzulässig.
Die Zulässigkeit einer Popularklage nach Art. 98 Satz 4 BV setzt gemäß Art. 55 Abs. 1 Satz 2 VfGHG voraus, dass der Antragsteller mit einem Mindestmaß an Substanziierung nachvollziehbar darlegt, inwiefern die angegriffene Rechtsvorschrift zu einer Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung in Widerspruch steht (vgl. VerfGH vom 31.5.2006 VerfGH 59, 109/114; vom 23.5.2007 – Vf. 1-VII- 06 – juris Rn. 25; Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 47). Der Antragsteller muss seinen Vortrag so präzisieren, dass der Verfassungsgerichtshof beurteilen kann, ob der Schutzbereich der bezeichneten Grundrechtsnorm berührt ist und eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (VerfGH vom 26.6.2012 – Vf. 2-VII-11 – juris Rn. 39). Die Erweiterung der Popularklage vom 22. Januar 2021 genügt diesen Anforderungen offensichtlich nicht. Die Antragstellerinnen legen schon nicht dar, welche der in der Änderungsverordnung vom 20. Januar 2021 getroffenen Regelungen konkret angegriffen werden sollen. Die pauschale Anfechtung einer mehrere Einzelregelungen umfassenden Rechtsvorschrift erfüllt die Substanziierungsanforderungen nicht. Dem Antrag ist auch an keiner Stelle zu entnehmen, welche Grundrechte aus Sicht der Antragstellerinnen als verletzt in Betracht kommen. Es fehlt somit zusätzlich an einer ausreichenden Grundrechtsrüge, sodass der Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit von vornherein nicht in Betracht kommt.
V.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Hinblick auf die durch die Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 modifizierten Regelungen der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ist jedenfalls unbegründet.
1. Das in der Antragsschrift vom 11. Januar 2021 enthaltene umfangreiche Vorbringen der Antragstellerinnen zum Abstandsgebot und zum Gebot des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung (§ 1 11. BayIfSMV), zur allgemeinen Ausgangsbeschränkung (§ 2 11. BayIfSMV) und zur nächtlichen Ausgangssperre (§ 3 11. BayIfSMV), zu Beschränkungen bei der Sportausübung (§ 10 11. BayIfSMV), zur Schließung von Ladengeschäften, Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben (§§ 12, 13, 14 11. BayIfSMV) sowie zur Schließung von Kulturstätten (§ 23 11. BayIfSMV) ist für das hier vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ohne Bedeutung. Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrem Eilantrag vom 11. Januar 2021 konkret gegen die Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 und wollen deren vorläufige Außervollzugsetzung erreichen. Da die Änderungsverordnung keine die oben genannten Beschränkungen betreffenden Regelungen enthält, ist es nicht veranlasst, in der Entscheidung über den Antrag vom 11. Januar 2021 hierauf einzugehen. Davon unabhängig hat der Verfassungsgerichtshof anlässlich eines früheren Antrags der Antragstellerinnen bereits entschieden, dass eine vorläufige Außervollzugsetzung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in der bis zum Inkrafttreten der Änderungsverordnung geltenden Fassung nicht geboten ist (VerfGH vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII- 20). Die Entwicklung des Infektionsgeschehens seit der Entscheidung vom 30. Dezember 2020 im vorliegenden Verfahren (vgl. dazu noch unten) führt aktuell nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
2. Der Verfassungsgerichtshof kann auch im Popularklageverfahren eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund dringend geboten ist (Art. 26 Abs. 1 VfGHG). Wegen der weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung im Popularklageverfahren in der Regel auslöst, ist an die Voraussetzungen, unter denen sie erlassen werden kann, ein strenger Maßstab anzulegen. Aufgrund des Wesens der Popularklage dürfen konkrete Maßnahmen zugunsten einzelner von einem Rechtssatz betroffener Personen nicht erlassen werden; vielmehr kommt auch im Rahmen einer einstweiligen Anordnung nur eine Regelung infrage, die generell den Vollzug vorläufig aussetzt. Die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Vorschrift vorgetragen werden, haben im Regelfall außer Betracht zu bleiben. Nur wenn bereits offensichtlich ist, dass die Popularklage aus prozessualen oder sachlichen Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat, kommt eine einstweilige Anordnung von vornherein nicht in Betracht. Umgekehrt kann der Erlass einer einstweiligen Anordnung dann geboten sein, wenn die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Vorschrift offensichtlich ist. Ist der Ausgang des Popularklageverfahrens dagegen als offen anzusehen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Popularklage aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Popularklage aber der Erfolg zu versagen wäre. Bei dieser Abwägung müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe so gewichtig sein, dass sie im Interesse der Allgemeinheit eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile unabweisbar machen (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 10 m. w. N.).
Entgegen der Auffassung der Antragstellerinnen hat der Verfassungsgerichtshof im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinsichtlich der Erfolgsaussichten der Popularklage keinen über die summarische Prüfung hinausgehenden vertieften Prüfungsmaßstab anzulegen. Das Vorbringen der Antragstellerinnen in der Antragsschrift vom 11. Januar 2021 gibt keinen Anlass, von der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 30. Dezember 2020 (Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 11 f.) abzuweichen, in der ein Anspruch auf Anwendung eines vertieften Prüfungsmaßstabs ausdrücklich abgelehnt wurde.
3. Nach den oben dargestellten Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen. Die Voraussetzungen für eine vorläufige Außervollzugsetzung der Vorschriften, soweit sie durch die Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 geändert wurden, liegen nicht vor.
a) Bei überschlägiger Prüfung kann weder von offensichtlichen Erfolgsaussichten noch von einer offensichtlichen Aussichtslosigkeit der Popularklage ausgegangen werden.
aa) Soweit die Antragstellerinnen die Auffassung vertreten, die mit der Popularklage als verletzt gerügten Grundrechte der Bayerischen Verfassung könnten nur durch förmliches Gesetz eingeschränkt werden, ist dem nicht zu folgen. Zu einschränkenden Regelungen hinsichtlich einschlägiger Grundrechte ist nicht nur der parlamentarische Gesetzgeber selbst, sondern auch der exekutivische Normgeber, also etwa der auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage tätig werdende Verordnungsgeber, befugt (VerfGH vom 30.12.2020 – Vf. 96- VII-20 – juris Rn. 15). Der Einwand der Antragstellerinnen, eine Einschränkung des Grundrechts auf Freiheit der Person (Art. 102 BV) könne nur in einem förmlichen Gesetz erfolgen, geht schon deshalb fehl, weil die angegriffenen Regelungen der Änderungsverordnung nicht in den Schutzbereich des Art. 102 BV eingreifen (s. unten dd) (1)).
bb) Soweit die Antragstellerinnen geltend machen, die angegriffenen Bestimmungen der Änderungsverordnung beruhten nicht auf einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, ist zu berücksichtigen, dass der Normgeber die beanstandete Regelung auf eine bundesrechtliche Ermächtigung, nämlich § 32 Satz 1 in Verbindung mit § 28 Abs. 1, §§ 28 a, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG, stützt. Der Verfassungsgerichtshof prüft im Verfahren der Popularklage zwar, ob die angegriffenen Bestimmungen einer Rechtsverordnung auf einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigung beruhen und deren Vorgaben einhalten. Prüfungsmaßstab sind dabei jedoch allein die Vorschriften der Bayerischen Verfassung, nicht Normen des Bundesrechts. Ein behaupteter Verstoß gegen Bundesrecht – hier etwa die Rüge, die beanstandete Regelung sei durch die bundesrechtliche Ermächtigungsnorm nicht gedeckt – kann nur mittelbar als Verletzung des in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV verankerten Rechtsstaatsprinzips geprüft werden. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV erstreckt seine Schutzwirkung nicht in den Bereich des Bundesrechts mit der Folge, dass jeder formelle oder inhaltliche Verstoß einer landesrechtlichen Vorschrift gegen Bundesrecht zugleich als Verletzung der Bayerischen Verfassung anzusehen wäre. Der Verfassungsgerichtshof hat eine auf einer bundesrechtlichen Ermächtigung beruhende Vorschrift des Landesrechts deshalb nicht umfassend daraufhin zu überprüfen, ob der Normgeber die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsnorm zutreffend beurteilt und ob er andere bundesrechtliche Vorschriften in ihrer Bedeutung für den Inhalt seiner Regelung richtig eingeschätzt hat (VerfGH vom 13.7.1988 VerfGHE 41, 69/73). Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV ist vielmehr erst dann verletzt, wenn der Widerspruch zum Bundesrecht offen zutage tritt und darüber hinaus auch inhaltlich nach seinem Gewicht als schwerwiegender Eingriff in die Rechtsordnung zu werten ist (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 4.4.2017 BayVBl 2017, 553 Rn. 26 m. w. N.; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 10; vom 23.11.2020 – Vf. 59-VII-20 – juris Rn. 30; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 16). Hiervon ausgehend lässt sich bei der gebotenen überschlägigen Prüfung nicht feststellen, dass die angegriffenen Vorschriften wegen Fehlens einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage oder wegen einer Abweichung von den Vorgaben der bundesrechtlichen Ermächtigung offensichtlich und gravierend gegen das Rechtsstaatsprinzip der Bayerischen Verfassung verstoßen.
Der Verfassungsgerichtshof und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof haben bereits mehrfach entschieden, dass die vom Verordnungsgeber herangezogenen Rechtsgrundlagen des Infektionsschutzgesetzes ihrerseits nicht offensichtlich verfassungswidrig sind (vgl. VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20 – juris Rn. 14; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 17; vgl. zu §§ 28, 28 a, 32 IfSG BayVGH vom 8.12.2020 – 20 NE 20.2461 – juris Rn. 22 ff.; vom 14.12.2020 – 20 NE 20.2907 – juris Rn. 24; vom 12.1.2021 – 20 NE 20.3026 – juris Rn. 11; vgl. zur Rechtslage vor Einführung des § 28 a IfSG auch VerfGH vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 12 f.). Der neuerliche Antrag der Antragstellerinnen gibt keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Es ist auch nicht offensichtlich, dass die Ermächtigungsgrundlage des § 28 i. V. m. § 28 a IfSG im Hinblick auf ihre Reichweite die angegriffenen Bestimmungen der Änderungsverordnung nicht trage. Insbesondere sieht § 28 a Abs. 1 Nr. 11 IfSG ausdrücklich vor, dass auch die Beschränkung touristischer Reisen eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinn des § 28 IfSG darstellen kann. Die Auffassung der Antragstellerinnen, auf der Grundlage der §§ 28, 28 a IfSG erlassene Rechtsverordnungen dürften keine gegen Nichtstörer gerichtete Maßnahmen enthalten, ist unzutreffend (vgl. nur Johann/ Gabriel in Eckart/Winkelmüller, BeckOK Infektionsschutzrecht, § 28 IfSG Rn. 21 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung; so auch VerfGH vom 23.11.2020 – Vf. 59-VII-20 – juris Rn. 32). Die Rüge der Antragstellerinnen, die angegriffene Änderungsverordnung halte die 4-Wochen-Frist des § 28 a Abs. 5 Satz 2 nicht ein, ist unklar. Sofern die Antragstellerinnen damit zum Ausdruck bringen wollen, es sei unzulässig, dass die Geltungsdauer der Änderungsverordnung (11. Januar 2021 bis zum Außerkrafttreten der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, welche gemäß § 1 Nr. 10 Buchst. a Doppelbuchst. bb auf den 31. Januar 2021 bestimmt wurde) die Frist des 28 a Abs. 5 Satz 2 IfSG unterschreite, ist dem nicht zu folgen. Eine Unterschreitung der 4-Wochen-Frist ist ohne Frage zulässig. Sofern die Antragstellerinnen zum Ausdruck bringen wollen, die angegriffene Änderungsverordnung überschreite die zulässige Geltungsdauer, weil die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung bereits seit 16. Dezember 2020 in Kraft sei, ergeben sich ebenfalls keine Anhaltspunkte für einen Verfassungsverstoß. § 28 a Abs. 5 IfSG besagt nicht, dass Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 insgesamt nicht länger als vier Wochen dauern dürfen. Er regelt vielmehr, dass die jeweilige Verordnungsbestimmung, mit der die Maßnahme angeordnet wird, ab ihrem Inkrafttreten höchstens vier Wochen in die Zukunft reichen darf. Dass nach Ablauf dieser vier Wochen – bei fortbestehender Gefahr – eine Fortdauer der Maßnahme angeordnet werden kann, ist in § 28 a Abs. 5 Satz 2 IfSG ausdrücklich vorgesehen.
cc) Bei der gebotenen überschlägigen Prüfung ist nicht davon auszugehen, dass die beanstandeten Regelungen, soweit sie durch die Verordnung vom 8. Januar 2021 geändert wurden, gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen.
Aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich kein Verbot für den Normgeber, unbestimmte Rechtsbegriffe oder sonstige auslegungsbedürftige Merkmale zu verwenden. Gegen die Verwendung solcher Begriffe bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mithilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund gefestigter Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Vorschrift gewinnen lässt (VerfGH vom 28.1.2003 VerfGHE 56, 1/9; vom 30.9.2004 VerfGHE 57, 113/127).
(1) Der durch § 1 Nr. 8 der Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 neu gefasste § 25 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 11. BayIfSMV wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof außer Vollzug gesetzt und ist zwischenzeitlich entfallen (s. o.). Auf die Frage der Bestimmtheit dieser Regelungen kommt es daher derzeit nicht an.
(2) In Bezug auf § 25 Abs. 1 Satz 4 (jetzt: § 25 Abs. 1) 11. BayIfSMV hat der Verwaltungsgerichtshof in der genannten Entscheidung vom 26. Januar 2021 festgestellt, dieser enthalte keinen über §§ 28, 28 a IfSG hinausgehenden Regelungsgehalt und entbinde die zuständige Behörde nicht von ihrer Ermessensentscheidung im Einzelfall. Diese Einschätzung ist jedenfalls nicht offensichtlich unzutreffend. Vor diesem Hintergrund bedarf es vorliegend keiner Prüfung anhand des Bestimmtheitsgrundsatzes.
(3) Im Rahmen des Verfahrens der einstweiligen Anordnung kann nicht festgestellt werden, dass die in § 1 Nr. 8 der Änderungsverordnung enthaltene Neuregelung des § 25 Abs. 2 11. BayIfSMV (weitergehende Anordnungen der Kreisverwaltungsbehörde) den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots offensichtlich nicht genügt. Nach überschlägiger Prüfung dürfte hinreichend erkennbar sein, was unter einem „gegenüber dem Landesdurchschnitt deutlich erhöhten Inzidenzwert“ zu verstehen ist. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sich der Landesdurchschnitt des Inzidenzwerts auf der Grundlage der gemeldeten Fallzahlen eindeutig bestimmen lässt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass § 25 Abs. 2 11. BayIfSMV – anders als der vom Verwaltungsgerichtshof vorläufig beanstandete § 25 Abs. 1 Satz 1 11. BayIfSMV a. F. – nicht unmittelbar an den Bürger gerichtet ist, sondern an staatliche Behörden. Der Begriff der „weitergehenden Maßnahme“ erscheint zwar auf den ersten Blick sehr weit gefasst. Eine Eingrenzung des Begriffsinhalts dürfte allerdings insoweit möglich sein, als es sich hierbei um Maßnahmen im Sinn der § 28 Abs. 1, § 28 a IfSG handeln muss, die in ihrer Intensität – angepasst an die örtlichen Verhältnisse – über die in der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung getroffenen Anordnungen hinausgehen. Der Vorwurf der Antragstellerinnen, der Verordnungsgeber erteile der „Regierung“ (gemeint wohl: der Kreisverwaltungsbehörde) damit eine „Blankoermächtigung zur vollständigen Freiheitsentziehung“ geht fehl. Die Antragstellerinnen verkennen, dass sich die Verpflichtung der zuständigen Behörden, im Fall eines Infektionsgeschehens notwendige Schutzmaßnahmen anzuordnen, bereits unmittelbar aus dem Bundesrecht (§§ 28, 28 a IfSG) ergibt. § 25 Abs. 2 11. BayIfSMV erhält somit in der Sache keine „Ermächtigung“, sondern eine Abgrenzung für das Tätigwerden des Verordnungsgebers auf der einen und das Tätigwerden der Kreisverwaltungsbehörde auf der anderen Seite.
dd) Es ist nicht festzustellen, dass die angegriffenen Regelungen offensichtlich ein Freiheitsgrundrecht der Bayerischen Verfassung verletzen.
Es steht außer Frage, dass die Vorschriften, die durch die Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 geändert wurden, in den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten der Bayerischen Verfassung eingreifen. Das macht die Maßnahmen aber nicht von vornherein verfassungswidrig. Die Grundrechte der Bayerischen Verfassung sind entweder ausdrücklich einschränkbar oder unterliegen, soweit die Rechte vorbehaltlos gewährleistet werden, verfassungsimmanenten Schranken (VerfGH vom 3.12.2019 NVwZ-RR 2020, 273 Rn. 175; vom 30.12.2020 – Vf. 96- VII-20 – juris Rn. 20; Lindner in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, vor Art. 98 Rn. 61 ff.; Krausnick in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 98 Satz 1 bis 3 Rn. 36 ff.).
Bei Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verhinderung der Verbreitung der Krankheit COVID-19 ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Staat wegen seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit zum Handeln grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet ist (vgl. VerfGH vom 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 121; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 23; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 21; BVerfG vom 13.5.2020 – 1 BvR 1021/20 – juris Rn. 8). Zwar lässt sich nicht jegliche Freiheitsbeschränkung damit rechtfertigen, dass sie dem Schutz der Grundrechte Dritter diene. Vielmehr hat der Staat stets einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der Freiheit der einen und dem Schutzbedarf der anderen zu schaffen (vgl. BVerfG vom 13.5.2020 – 1 BvR 1021/20 – juris Rn. 8). Für eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen sprechen angesichts der Gefahren, die ein ungehindertes Infektionsgeschehen für Leib und Leben der Menschen und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems mit sich bringen kann, aber gute Gründe (vgl. z. B. VerfGH vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20; vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 21; BVerfG vom 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 11).
(1) Soweit sich die Antragstellerinnen auf das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 102 Abs. 1 BV) berufen, ist dieses nicht einschlägig. Die beanstandeten Neuregelungen der Änderungsverordnung (Verschärfung der Kontaktbeschränkung, Verpflichtung zum Tragen einer FFP2-Maske bei der Abholung bestellter Waren, weitergehende Anordnungen der Kreisverwaltungsbehörden nach § 25 Abs. 2 11. BayIfSMV) fallen nicht in den Schutzbereich dieses Rechts (vgl. hierzu auch VerfGH vom 23.11.2020 – Vf. 59-VII-20 – juris Rn. 42 ff.; vom 30.12.2020 – Vf. 96- VII-20 – juris Rn. 22).
(2) In Betracht kommen demgegenüber Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit, in das Grundrecht auf Schutz der Familie, in das Grundrecht auf Berufsfreiheit und in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit.
(a) Die Grundrechte auf Freizügigkeit (Art. 109 Abs. 1 BV), Berufsfreiheit (Art. 101 BV) und allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 101 BV) sind allerdings nicht vorbehaltlos, sondern nur innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze gewährleistet. Das Grundrecht auf Schutz der Familie (Art. 124 Abs. 1 BV) unterliegt als vorbehaltlos gewährleistetes Recht verfassungsimmanenten Schranken aufgrund kollidierender Grundrechte Dritter und anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte. Im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung kann nicht festgestellt werden, dass der Normgeber mit den angegriffenen Regelungen in offensichtlich unverhältnismäßiger Weise in die genannten Grundrechte eingegriffen bzw. einen offensichtlich unangemessenen Ausgleich zwischen den kollidierenden Verfassungsgütern des Schutzes der Familie und der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit vorgenommen hat.
Die von den Antragstellerinnen beanstandete Verschärfung der Kontaktbeschränkung (§ 1 Nr. 1 der Änderungsverordnung betreffend § 4 Abs. 1 11. BayIfSMV) stellt keine offensichtlich ungeeignete oder unverhältnismäßige Maßnahme dar. Sie beinhaltet insbesondere kein Kontaktverbot, sondern ermöglicht weiterhin die Kontaktaufnahme zu Personen in anderen Haushalten. Das Zusammentreffen mit Eltern und Geschwistern wird durch die Regelung zwar erschwert, aber nicht unterbunden. Die Pflege eines Mindestbestands an Sozialkontakten ist auch unter der Geltung der beanstandeten Regelung gewährleistet (vgl. BayVGH vom 19.1.2021 – 20 NE 21.76 – BeckRS Rn. 52).
Soweit die Antragstellerinnen beanstanden, die Vorgaben für die Abholung vorbestellter Waren in Ladengeschäften (§ 1 Nr. 5 Buchst. c der Änderungsverordnung betreffend § 12 Abs. 1 Satz 6 11. BayIfSMV, Tragen von FFP2-Masken, Aufstellung eines Schutz- und Hygienekonzepts) verletzten die Berufsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit, ergeben sich keine offenkundigen Anhaltspunkte für eine übermäßige Einschränkung von Grundrechten. Die vorgesehenen Beschränkungen erscheinen aus Sicht des Verfassungsgerichtshofs als verfassungsrechtlich unbedenkliche Schutzmaßnahmen, um wenigstens ein Mindestmaß an Kundenkontakten für Ladengeschäfte zu ermöglichen.
Soweit die Antragstellerinnen geltend machen, die Verpflichtung zum Tragen von Schutzmasken und zur Einhaltung der Abstandsregelungen sowie der gezielte Schutz von Risikogruppen, vor allem in Alten- und Pflegeheimen, stellten gegenüber den weiteren Maßnahmen mildere Mittel dar, verkennen sie, dass die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung dahingehende Gebote und Schutzmaßnahmen bereits enthält (insbes. §§ 1, 9 11. BayIfSMV). Die Wertung des Normgebers, zur wirksamen Bekämpfung der Verbreitung des Virus SARSCoV-2 seien darüber hinausgehende weitere Maßnahmen erforderlich, verstößt jedenfalls nicht offensichtlich gegen die Bayerische Verfassung.
Dem Einwand der Antragstellerinnen, der Normgeber lasse bei der Gewichtung der mit den Maßnahmen verbundenen Belastungen unbeachtet, dass die fortdauernden Ausgangsbeschränkungen zu psychischen Erkrankungen sowie einem Anstieg von Suiziden und häuslicher Gewalt führen könnten, kommt im vorliegenden Verfahren schon deshalb keine wesentliche Bedeutung zu, weil die angegriffene Änderungsverordnung keine Ausgangsbeschränkungen, sondern Maßnahmen mit geringerem Belastungspotenzial regelt.
(b) Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der beanstandeten Maßnahmen ist allgemein zu berücksichtigen, dass die Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung und die angegriffene Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 vor dem Hintergrund einer besorgniserregenden Entwicklung des Infektionsgeschehens in Deutschland und im Freistaat Bayern seit Oktober 2020 erlassen wurden. Hinsichtlich der Darstellung des Infektionsgeschehens wird Bezug genommen auf die Entscheidung vom 30. Dezember 2020 (Vf. 96-VII-20 – juris), mit der der Verfassungsgerichtshof den vorangegangenen Antrag der Antragstellerinnen auf Außervollzugsetzung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung abgewiesen hat (siehe dort Rn. 26). Soweit – nach einem Anstieg des Infektionsgeschehens Anfang Januar 2021 – seit der 3. Kalenderwoche 2021 ein Rückgang der Fallzahlen zu beobachten ist, ergibt sich hieraus derzeit keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Normgebers, eine abweichende Neubewertung der Gefährdungslage vorzunehmen und die bestehenden Maßnahmen zu beenden. Der Normgeber, dem bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit grundrechtseinschränkender Maßnahmen eine Einschätzungsprärogative zukommt (VerfGH vom 21.10.2020 – Vf. 26-VII-20 – juris Rn. 21; vom 16.11.2020 – Vf. 90-VII-20 – juris Rn. 23), kann den Rückgang der Fallzahlen als Beleg für die Wirksamkeit der angeordneten Einschränkungen werten. Es stellt keinen Verfassungsverstoß dar, wenn er hiervon ausgehend derzeit eine Fortdauer der Maßnahmen noch für erforderlich hält, um den erreichten Rückgang des Infektionsgeschehens zu sichern und fortzuführen und damit die Voraussetzung für eine Aufhebung oder Lockerung freiheitsbeschränkender Maßnahmen zu schaffen.
Die von den Antragstellerinnen gegen die Bewertung der Gefahrenlage erhobenen Einwendungen greifen nicht durch. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit Bezug genommen auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 30. Dezember 2020 (Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 28 ff.). Soweit die Antragstellerinnen erneut umfangreich und zum Teil in wörtlicher Wiederholung vorbringen, in der öffentlichen Diskussion gebe es eine beachtliche Anzahl von Stimmen, die die Eignung der Inzidenzzahlen zur Bewertung des Infektionsgeschehens, die Zuverlässigkeit von PCR-Tests sowie eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems verneinten, die Gefährlichkeit des Virus SARS-CoV-2 infrage stellten und die ergriffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung – entgegen den Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts – als wirkungslos ansähen, rechtfertigt dies nicht den Vorwurf eines Verfassungsverstoßes des Normgebers. Es ist gerade dessen Aufgabe, die in der öffentlichen Diskussion vertretenen – teils kontroversen – Auffassungen im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums zu gewichten und eine Entscheidung zu treffen. Dass er bei der Anordnung der aus seiner Sicht gebotenen Maßnahmen nicht allen in der Öffentlichkeit vertretenen Einschätzungen entsprechen kann, liegt in der Natur der Sache. Sofern die Antragstellerinnen davon ausgehen, der Normgeber dürfe erst tätig werden, wenn die Tatsachengrundlage für eine beabsichtigte Regelung in der Wissenschaft übereinstimmend als gesichert bewertet werde, entspricht dies nicht den Vorgaben der Verfassung.
ee) Auch ein Verstoß der angegriffenen Bestimmungen gegen sonstiges Verfassungsrecht ist jedenfalls nicht offensichtlich.
b) Bei der demnach gebotenen Folgenabwägung überwiegen die gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe. Auch wenn die geltenden Maßnahmen durch die Änderungsverordnung vom 8. Januar 2021 in bestimmten Bereichen verschärft wurden, müssen die Belange der von den Vorschriften Betroffenen gegenüber der fortbestehenden Gefahr für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen bei gleichzeitig drohender Überforderung der personellen und sachlichen Kapazitäten des Gesundheitssystems zurücktreten. Eine vorläufige Außerkraftsetzung einzelner oder aller Verordnungsbestimmungen würde zudem die praktische Wirksamkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts in einem Ausmaß beeinträchtigen, das dem Gebot zuwiderliefe, von der Befugnis, den Vollzug einer in Kraft getretenen Norm auszusetzen, wegen des erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Normgebers nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch zu machen (vgl. zu Folgenabwägungen im Zusammenhang mit „Coronamaßnahmen“ bereits VerfGH vom 26.3.2020 NVwZ 2020, 624 Rn. 13; vom 24.4.2020 NVwZ 2020, 785 Rn. 23; vom 8.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 26; vom 15.5.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 14; vom 8.6.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 22; vom 3.7.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 21; vom 12.8.2020 – Vf. 34-VII-20 – juris Rn. 23; vom 21.10.2020 – Vf. 26-VII-20 – juris Rn. 25; vom 29.10.2020 – Vf. 81-VII-20 – juris Rn. 19; vom 16.11.2020 – Vf. 90- VII-20 – juris Rn. 41; vom 17.12.2020 – Vf. 110-VII-20; vom 30.12.2020 – Vf. 96- VII-20 – juris Rn. 35; vgl. auch BVerfG vom 11.11.2020 – 1 BvR 2530/20 – juris Rn. 16).
VI.
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG). Der Verfassungsge richtshof weist jedoch im Hinblick auf eventuelle künftige Anträge darauf hin, dass Antragstellern unter den Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VfGHG eine Gebühr bis zu eintausendfünfhundert Euro auferlegt werden kann.


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