Medizinrecht

Rente, Erwerbsminderung, Versicherungsfall, Rentenversicherung, Krankheit, Krankenversicherung, Versicherungsnehmer, Erkrankung, Revision, Rentenzahlung, Krankentagegeldversicherung, Depression, Rechtsverfolgungskosten, Leistungsfreiheit, Treu und Glauben, teilweiser Erwerbsminderung, Anspruch auf Verzinsung

Aktenzeichen  2 O 7606/19

Datum:
23.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 55157
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

1. Eine Klausel eines Krankentagegeldversicherungsvertrags, wonach ein Fall der Berufsunfähigkeit im Sinne von § 15 Buchst. b) MB/KT 2009 auch vorliegt, wenn die versicherte Person eine Berufsunfähigkeitsrente oder eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung bezieht, erfasst nicht den Fall einer Leistung eines Berufsunfähigkeitsversicherers in Form einer einmaligen Kapitalabfindung.
2. Wird in den wegen eines „orthopädischen“ Versicherungsfalls laufenden Rechtsstreit ein neuer („neurologischer“) Versicherungsfall eingeführt, handelt es sich um eine Klageänderung i.S.d. § 263 ZPO.

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus der Krankentagegeldversicherung zur Kranken-/Pflegeversicherung Nr. 4928491183 4.205,65 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit 25.11.2019 zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten von 334,75 € nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten seit 03.12.20219 ersetzen.
3. Im übrigen wird die Klage – soweit sie einen Versicherungsfall wegen orthopädischer Beschwerden betrifft als unbegründet, soweit sie einen Versicherungsfall wegen neurologischer Beschwerden betrifft als unzulässig – abgewiesen.
4. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu 87%, die Beklagte zu 13% zu tragen.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird bis 04.06.2020 auf 15.645,65 € und
ab 05.06.2020 auf 32.415,65 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist lediglich im tenorierten Umfang begründet.
A.
I. Der Kläger hat Anspruch auf ungekürztes Krankentagegeld für den Zeitraum 29.05.2019 bis 29.08.2019 in Höhe von noch 4.205,65 €.
Die Beklagte kann sich auf das in § 15 b) AVB i.V.m. Nr. 30 Abs. 2 der Tarifbedingungen normierte Recht zur Kürzung der Höhe des Krankentagegeldes während des Nachhaftungszeitraums und eine Beendigung des Versicherungsvertrages nicht berufen.
1. Der Anwendungsbereich des Beendigungstatbestandes ist vorliegend nicht eröffnet. Dies ergibt die Auslegung der einschlägigen Klausel.
Nr. 30 Abs. 2 der Tarifbedingungen lautet:
„Ein Fall der Berufsunfähigkeit im Sinne von § 15 Buchst. b) MB/KT 2009 liegt auch vor, wenn die versicherte Person eine Berufsunfähigkeitsrente oder eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung bei Unfähigkeit des Versicherten, mehr als 4 Stunden kalendertäglich erwerbstätig zu sein, bezieht. Die Differenz zwischen der Rentenzahlung und dem vertraglich vereinbarten Tagegeld wird für längstens 3 Monate nach Beginn der Rentenzahlung ausgezahlt, sofern nicht bereits wegen festgestellter Berufsunfähigkeit die 3-monatige Nachleistung in Anspruch genommen wurde. Rentenzahlungen, die die versicherte Person – ohne dass der Zustand der Berufsunfähigkeit festgestellt wäre – lediglich aufgrund der Vermutung erhält, dass bei 6-monatigem Zustand ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit mit einer Besserung des Gesundheitszustandes nicht zu rechnen ist (fingierte Berufsunfähigkeit) werden nicht angerechnet. Wegen Bezuges einer solchen Rente aufgrund lediglich fingierter Berufsunfähigkeit endet das Versicherungsverhältnis nicht.“
2. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs auszulegen. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an. Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sind aus sich heraus zu interpretieren. In erster Linie ist vom Wortlaut der Klausel auszugehen. Der mit ihr verfolgte Zweck und ihr Sinnzusammenhang sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (st. Rspr. BGHZ 123, 83, 86 und aus jüngerer Zeit z.B. BGH 20.5.2021 – IV ZR 324/19, r+s 2021, 398).
3. Gemessen daran kann ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer nicht erkennen, dass die Klausel mit der Überschrift „Berufsunfähigkeit- bzw. Erwerbsminderungsrente“ auch den hier streitgegenständlichen Fall einer Leistung eines Berufsunfähigkeitsversicherers in Form einer einmaligen Kapitalabfindung erfassen soll.
Der Kläger bezieht bzw. bezog keine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Eine Rente ist begrifflich ein in gleichmäßigen Abständen regelmäßig wiederkehrender Zahlungszufluss (vgl. auch § 759 BGB). Zwar hat der Kläger mit der Kapitalabfindung einen Zahlungszufluss wegen eingeschränkter Arbeitsfähigkeit erlangt, jedoch fehlt es wegen der Einmaligkeit der Abfindung am entscheidenden Kriterium einer Rente, deren Regelmäßigkeit. Der Wortlaut der Klausel erfasst damit die streitgegenständliche Konstellation nicht.
In diesem Kontext verfängt der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des OLG Saarbrücken vom 14.3.2018 (5 U 37/17, ZfS 2019, 35) schon deshalb nicht, da im dortigen Fall – anders als hier – der Berufsunfähigkeitsversicherer für 8 Monate tatsächlich eine „Rente“ in Höhe von 2.645,25 € gewährt hatte.
Die Gewährung einer pauschalen Einmalzahlung als Komplettabgeltung, d.h. nicht nur für einen fest umrissenen überschaubaren Zeitraum (z.B. von mehreren Monaten) als Rentenbezug i.S.d. Nr. 30 Abs. 2 anzusehen, „passt“ auch deshalb nicht, weil – wie die Vorgehensweise/Berechnung der Beklagten zeigt – die Umrechnung des Abfindungsbetrags auf einen Tagessatz in jeder Hinsicht willkürlich ist. Wie die Beklagte bei einer Abfindung von 85.000 € auf einen Tagessatz von 44,27 € kommt, erläutert sie in ihrem Schreiben vom 16.7.2019 (Anlage K8a) nicht. Die Kammer vermag diese Berechnung auch nicht nachzuvollziehen. Eine Umlegung dieses Tagessatzes auf den Kapitalbetrag ergäbe einen Zeitraum von ca. 1.920 Tagen, also etwas mehr als fünf Jahre.
Einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer wird sich aber auch aus dem Kontext der Klausel nicht erschließen, dass diese auf die Konstellation einer einmaligen Kapitalabfindung entsprechend anwendbar sein soll. Entscheidendes Argument gegen einen solchen über den Wortlaut der Klausel hinausgehenden Anwendungsbereich ist, dass im Verfahren 2 O 6410/18 eine Berufsunfähigkeit des Klägers gerade nicht festgestellt wurde. Das Verfahren wurde durch den Vergleich vorzeitig ohne einen entsprechenden rechtlichen Befund beendet.
Nr. 30 Abs. 2 will aber erkennbar lediglich die Fälle erfassen, in denen das Vorliegen von Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung positiv festgestellt ist. Dies macht der in Nr. 30 Abs. 2 S. 3 formulierte Ausschluss klar, auch wenn er nicht die streitgegenständliche Konstellation betrifft. Demnach werden „Rentenzahlungen, die die versicherte Person – ohne dass der Zustand der Berufsunfähigkeit festgestellt wäre – lediglich aufgrund der Vermutung erhält, dass bei 6-monatigem Zustand ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit mit einer Besserung des Gesundheitszustandes nicht zu rechnen ist (fingierte Berufsunfähigkeit), [werden] nicht angerechnet. Wegen Bezuges einer solchen Rente aufgrund lediglich fingierter Berufsunfähigkeit endet das Versicherungsverhältnis nicht.“
Einem Versicherungsrechtler ist klar, dass die Formulierung „ohne dass der Zustand der Berufsunfähigkeit festgestellt worden wäre“ in ihrer im Gesamtkontext erkennbaren Bezugnahme auf § 2 Abs. 2 der Musterbedingungen für die Berufsunfähigkeits-Versicherung bzw. entsprechender Klauseln nicht korrekt ist. Bekanntlich „fingiert“ § 2 Abs. 2 MB/BUV lediglich die Prognose als ein Element des Versicherungsfalls „Berufsunfähigkeit“, nicht aber die übrigen Tatbestandsmerkmale (HK-BU/Michael-A. Ernst, 1. Aufl. 2018, BUV § 2 Rn. 352 m.w.N.). Für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer hingegen bedeutet der klare Wortlaut „ohne dass der Zustand der Berufsunfähigkeit festgestellt wäre“ im Umkehrschluss aber schlicht nur, dass eine Kürzung/Beendigung in den Fällen, in denen anderweitig gerade keine abschließende Entscheidung/Feststellung zum Eintritt von Berufsunfähigkeit getroffen ist, eben nicht in Betracht kommt (a.A. wohl OLG Saarbrücken 14.3.2018 – 5 U 37/17, ZfS 2019, 35 für den Fall einer Kulanzleistung).
Mit dieser Auslegung sieht sich die Kammer im Einklang mit der Rechtsprechung des BGH, der zu § 15 MB/KT ausführt:
„Der Bezieher einer Berufsunfähigkeitsrente, mag sie von einem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung oder einem Privatversicherer gewährt werden, hat jedenfalls nachgewiesen [Hervorhebung durch die Kammer], daß er dauernd oder zumindest auf nicht absehbare Zeit in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Das nimmt der Versicherer berechtigterweise zum Anknüpfungspunkt für den Beendigungsgrund des § 15 Buchst. a MB/KT. … Unbegründet ist auch die Ansicht der Revision, auf die Gewährung einer Rente aus der privaten Berufsunfähigkeits-Versicherung könne es nicht ankommen, weil dabei verfahrensmäßig die Feststellung einer tatsächlichen Berufsunfähigkeit [Hervorhebung durch die Kammer] nicht sichergestellt sei, wie dies im sozialversicherungsrechtlichen Bereich der Fall sei. In der Privatversicherung werden die Voraussetzungen für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente in den AVB normiert. Das Vorliegen der Voraussetzungen [Hervorhebung durch die Kammer] wird im Streitfall von den ordentlichen Gerichten ebenso überprüft, wie das im sozialgerichtlichen Verfahren der Fall ist.“ (BGH, 25.1.1989 – IVa ZR 178/87, juris Rn. 29 f.).
Dies zeigt, dass das tatsächliche Bestehen eines Leistungsanspruchs auf Rente – sei es durch Anerkenntnis des Rentenverpflichteten oder sonstige (gerichtliche) Feststellung – maßgeblicher Gedanke hinter der Regelung der Nr. 30 Abs. 2 ist.
4. Der damit dem Kläger noch zustehende Betrag errechnet sich wie folgt:
„95 Tage x 130 € 12.350,00 €
95 Tage x 85,73 € bereits gezahlt 8.144,35 €
= noch zustehend 4.205,65 €“
Dieser Betrag war infolge der endgültigen Leistungsverweigerung der Beklagten mit Schreiben vom 19.7.2019 (Anlage K 10), mit der diese den Kläger auf den Rechtsweg verwiesen hat, fällig geworden. Der Kläger hat deshalb wie beantragt (§ 308 Abs. 1 ZPO) jedenfalls Anspruch auf Verzinsung dieses Anspruchs ab dem 25.11.2019 (§ 286 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 3, § 288 Abs. 1 BGB).
II. Der Kläger hat jedoch darüber hinaus aktuell keine weitergehenden Ansprüche aus der Krankentagegeldversicherung.
1. Soweit der Kläger seinen Leistungsanspruch – wie zunächst ausdrücklich und ausschließlich vorgetragen – auf orthopädische Beschwerden stützt, ist ihm der Nachweis bedingungsgemäßer Arbeitsunfähigkeit nicht gelungen. Insoweit ist die klage unbegründet.
a) Die Beweislast für den Versicherungsfall i.S.d. § 1 Abs. 2 MB/KT und damit seine vollständige bedingungsgemäße Arbeitsunfähigkeit i.S.d. § 1 Abs. 3 MB/KT trägt der Kläger (BGH r+s 2010, 381). Der Versicherungsfall nach § 1 Abs. 2 MB/KT setzt voraus, dass die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit tatsächlich in keiner Weise mehr ausüben kann und darf (BGH r+s 2007, 460). Bereits eine nur zum Teil gegebene Arbeitsunfähigkeit genügt, um den Anspruch auf Krankentagegeld auszuschließen, sofern der Versicherte seinem Beruf in seiner konkreten Ausgestaltung teilweise nachgehen kann oder tatsächlich nachgeht. Es kommt allein darauf an, ob der Versicherungsnehmer zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit auch nur teilweise in der Lage ist oder diese jedenfalls in Teilbereichen ausübt (BGH r+s 2015, 242; BGH r+s 2013, 295). Arbeitsunfähigkeit entfällt allerdings dann nicht, wenn der Versicherte lediglich zu einzelnen Tätigkeiten in der Lage ist, die im Rahmen seiner Berufstätigkeit zwar auch anfallen, isoliert aber keinen Sinn ergeben (BGH r+s 2013, 295).
b) Gemessen daran kann von Arbeitsunfähigkeit wegen orthopädischer Beschwerden nicht ausgegangen werden.
Die Sachverständige Dr. med. B kam in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass aufgrund der in der Gerichtsakte vorliegenden Befundtatsachen auf orthopädischem Fachgebiet eine sachverständige Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum vom 29.05.2019 bis 30.04.2020 nicht mit der hinreichenden Sicherheit zu treffen ist.
Für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 29.05.2019 bis 30.04.2020 liegen nach Auswertung der vom Kläger vorgelegten Unterlagen keine Befunde vor, die auf orthopädischem Fachgebiet hinsichtlich der linken Schulter – die alleine der Kläger zunächst zur Begründung seiner Arbeitsunfähigkeit bezeichnet hat – Arbeitsunfähigkeit begründen können. Seit 01.06.2017 gibt es keine medizinische Dokumentation über Beschwerden, Abklärungen oder Behandlungen der linken Schulter. Für die linke Schulter sind nach Operationen des linken Schultergelenks im Jahr 2015 keine Auffälligkeiten mehr dokumentiert. Auch mit den in der Akte befindlichen Krankentagegeld-Zahlscheinen des Dr. W vom 20.11.2019 und 28.04.2020 sind keine konkreten Befunde dargelegt, die eine Arbeitsunfähigkeit in diesem Zeitraum zwischen 29.05.2019 und 30.04.2020 auf orthopädischem Fachgebiet nachvollziehbar erklären würden. So wird nur die Diagnose eines „SA-Syndroms“ genannt, was nach den Ausführungen der Sachverständigen möglicherweise ein Subacromialsyndrom sein könnte. Nähere Erhebungen hinsichtlich der Auswirkungen liegen jedoch nicht vor. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, ob ein Impingement oder eine weitergehende Funktionsstörung bestand, ob Behandlungen deswegen stattfanden und welche Schulter überhaupt betroffen war.
Der Kläger selbst gab beim Begutachtungstermin am 12.08.2020 bei der gerichtlich bestellten Sachverständigen an, dass er bei der Produktannahme, Verstärker in Empfang nehmen, Abladen, Auspacken, Aufstellen bei Vorführungen bei Kunden oder Einpacken für den Versand etc. auf Hilfe zurückgreifen würde. Allerdings mache er die geschäftsführende Tätigkeit und die Kundenbetreuung, telefonische Beratung und alle Online-Arbeiten wie Emails beantworten und Korrespondenz. Er sitze vier bis fünf Stunden am Computer und arbeite. Des Weiteren sei er auch auf Messen unterwegs. Darüber hinaus habe er auch noch seine Firma „Compuframe“ als Fachinformatiker. Auch der Zeuge B gab in seiner Vernehmung vom 24.01.2019 im Verfahren 2 O 6410/18 – deren Verwertung die Parteien ausdrücklich zugestimmt haben – an, dass der Kläger Ende 2018 zumindest eingeschränkt im Büro gearbeitet hat.
Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen, denen der Kläger selbst nicht entgegentritt, der Angaben des Klägers sowie des Zeugen B liegt eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers aufgrund der Beschwerden der linken Schulter im streitgegenständlichen Zeitraum jedenfalls nicht mehr vor. Nach den vorgelegten Unterlagen und den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen, die sich die Kammer zu eigen macht, besteht zudem seit 2017 keine Behandlungsbedürftigkeit der Schulterverletzung von Oktober 2014 mehr.
Gleichzeitig war damit im Jahr 2017 der „orthopädische“ Versicherungsfall beendet (dazu noch sogleich).
2. Einen Anspruch auf Krankentagegeld kann der Kläger auch nicht erfolgreich auf die behaupteten neurologischen Beschwerden aufgrund seiner Cortison-Behandlung stützen. Insoweit handelt es sich um eine unzulässige Klageänderung.
a) Erstmals nach Vorliegen des orthopädischen Sachverständigengutachtens mit Schriftsätzen vom 29.10.2020 und vom 30.10.2021 trägt der Kläger zu etwaigen neurologischen Beschwerden substantiiert vor.
So hat er mit Schriftsatz vom 29.10.2020 ein Attest des Dr. W vom 08.10.2020 (Anlage K 14) vorgelegt, wonach der Kläger seit Januar 2019 zusätzlich an einer unklaren Polyneuropathie leiden würde, die zu einer reaktiven Depression geführt habe. Er könne deshalb seit spätestens 29.05.2019 wegen dieser Krankheit und wegen der orthopädischen Beeinträchtigungen seinen Beruf nicht ausüben.
b) Bei diesem Sachvortrag handelt es sich in Abgrenzung zum Vortrag einer Arbeitsunfähigkeit wegen orthopädischer Beschwerden um einen neuen, eigenständigen Versicherungsfall.
Nach § 1 Abs. 2 S. 2 MB/KT beginnt der Versicherungsfall mit der Heilbehandlung; er endet, wenn nach medizinischem Befund keine Arbeitsunfähigkeit und keine Behandlungsbedürftigkeit mehr bestehen. Nach § 1 Abs. 2 S. 3 MB/KT begründet „eine während der Behandlung neu eingetretene und behandelte Krankheit … nur dann einen neuen Versicherungsfall, wenn sie mit der ersten Krankheit oder Unfallfolge in keinem ursächlichen Zusammenhang steht“. Ein neuer Versicherungsfall liegt also stets dann vor, wenn bei Auftreten einer Krankheit (hier: neurologische Beschwerden wohl infolge Cortison-Behandlung) die vorherige Behandlung (hier: wegen orthopädischer Schulterbeschwerden) mangels weiterer Behandlungsbedürftigkeit bereits abgeschlossen war (Bach/Moser/Wilmes, Private Krankenversicherung MBK/KK und MB/KT, 5. Auflage 2015, MB/KT § 1 Rn. 38). Auf einen etwaigen ursächlichen Zusammenhang mit der früheren Erkrankung kommt es dann schon gar nicht an (OLG Hamm 11.1990 – 20 U 70/90, r+s 1991, 102 ff.; Prölss/Martin/Voit, VVG, 31. Auflage 2021, § 1 MB/KT Rn. 11).
Schon nach den eigenen Angaben des Klägers ist die Verletzung der linken Schulter im Oktober 2014 für ihn für die Arbeitsunfähigkeit nicht mehr maßgeblich. Vielmehr seien seit Januar 2019 neurologische Beeinträchtigungen und Beschwerden nunmehr Grundlage der Arbeitsunfähigkeit (Schriftsatz des Klägervertreters v. 29.10.2020 S. 2 Mitte, Gerichtsakte S. 110). Nach den hiermit übereinstimmenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. B bestand auch aus medizinischer Sicht seit 2017 keine Behandlungsbedürftigkeit der Schulterverletzung von Oktober 2014 mehr.
Damit war der zunächst streitgegenständliche „orthopädische“ Versicherungsfall beendet und ein neuer – „neurologischer“ – Versicherungsfall in den Rechtsstreit eingeführt.
c) Bei der Einführung des neuen, „neurologischen“ Versicherungsfalls in den zunächst wegen eines anderen – „orthopädischen“ – Versicherungsfalls geführten Rechtsstreits handelt es sich um eine Klageänderung, konkret Klageerweiterung i.S.d. § 263 ZPO.
Eine Klageänderung liegt vor, wenn der Kläger einen anderen Streitgegenstand in den Rechtsstreit einführen will. Der Streitgegenstand wird durch den Klageantrag, in dem sich die von dem Kläger in Anspruch genommene Rechtsfolge konkretisiert, und den Lebenssachverhalt (Anspruchsgrund) bestimmt, aus dem der Kläger die begehrte Rechtsfolge ableitet. Eine Klageänderung liegt vor, wenn entweder der Klageantrag oder der Klagegrund ausgewechselt wird (BGH 29.9.2011 − IX ZB 106/11, NJW 2011, 3653).
Eine solche Auswechslung des Klagegrundes liegt vor, wenn im Hinblick auf eine andere medizinische Ursache ein neuer Versicherungsfall zur gerichtlichen Entscheidung gestellt wird (vgl. Hoenicke in Ernst/Rogler, Berufsunfähigkeitsversicherung Stichwort-ABC „Nachschieben von Gründen“ Rn. 3 unter Hinweis auf OLG München 9.8.1996 – 21 U 3980/95, r+s s 1998, 346; Veith/Gräfe/Gebert/Gebert/Steinbeck, Der Versicherungsprozess, § 9 Rn. 23 je zur vergleichbaren Konstellation in der Berufsunfähigkeitsversicherung).
d) Diese Klageänderung ist nicht zulässig, da weder die Beklagte eingewilligt hat, noch die Kammer sie für sachdienlich erachtet (§ 263 ZPO).
(1) Die Beklagte hat der Klageänderung nicht zugestimmt; sie hat sich auch nicht ohne der Änderung zu widersprechen, in der mündlichen Verhandlung auf die abgeänderte Klage eingelassen.
Alleine im Stellen des Klageabweisungsantrags kann eine Einlassung i.S.d. § 267 ZPO im Streitfall nicht gesehen werden, da die Beklagte der Klageänderung widersprochen hat. Ein solcher Widerspruch kann auch konkludent erfolgen (BGH 1.6.1990 – V ZR 48/89, juris). Die Beklagte hat durch positives Handeln ihren Widerspruchswillen (zumindest schlüssig) zum Ausdruck gebracht, indem sie den klägerischen Vortrag zu seinen neurologischen Beschwerden – also letztlich den neuen Versicherungsfall und Streitgegenstand – als verspätet gerügt hat (Verhandlungsprotokoll v. 7.10.2021 S. 4, Gerichtsakte S. 163).
(2) Die Klageänderung ist auch nicht sachdienlich.
(a) Die Beurteilung der Sachdienlichkeit erfordert eine Berücksichtigung, Bewertung und Abwägung der beiderseitigen Interessen. Für die Frage der Sachdienlichkeit kommt es allein auf die objektive Beurteilung an, ob und inwieweit die Zulassung der Klageänderung den sachlichen Streitstoff im Rahmen des anhängigen Rechtsstreits ausräumt und einem anderenfalls zu gewärtigenden weiteren Rechtsstreit vorbeugt. Maßgebend ist der Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit. Unter diesem Gesichtspunkt ist nicht die beschleunigte Erledigung des anhängigen Prozesses, sondern die Erledigung der Streitpunkte zwischen den Parteien entscheidend. Deshalb steht der Sachdienlichkeit einer Klageänderung nicht entgegen, dass im Falle ihrer Zulassung Beweiserhebungen nötig werden und dadurch die Erledigung des Prozesses verzögert würde. Die Sachdienlichkeit kann vielmehr bei der gebotenen prozesswirtschaftlichen Betrachtungsweise im Allgemeinen nur dann verneint werden, wenn ein völlig neuer Streitstoff in den Rechtsstreit eingeführt werden soll, bei dessen Beurteilung das Ergebnis der bisherigen Prozessführung nicht verwertet werden kann (BGH, 27.9.2006 – VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414).
(b) So liegt es hier: Das Ergebnis der bisherigen (abgeschlossenen) Beweisaufnahme zum orthopädischen Versicherungsfall ist für den neurologischen Versicherungsfall ohne Belang und für diesen nicht zu verwerten. Tatsächlich müsste komplett neu in die medizinische Begutachtung eingestiegen werden.
(c) Hinzu tritt, dass eine Erledigung des Streites um den neuen Versicherungsfall zwischen den Parteien auch bei Zulässigkeit der Klageänderung nicht zu erwarten wäre. Die Klage wäre nämlich in jedem Fall als derzeit unbegründet abzuweisen. Etwaige Ansprüche aus einem „neurologischen“ Versicherungsfall sind in materieller Hinsicht noch nicht fällig.
Nach § 6 Abs. 1, 2 MB/KT ist der Versicherer zur Leistung nur verpflichtet, wenn die von ihm geforderten Nachweise erbracht sind. Im Übrigen ergeben sich die Voraussetzungen für die Fälligkeit der Leistungen des Versicherers aus § 14 VVG. Demnach sind Geldleistungen des Versicherers fällig mit der Beendigung der zur Feststellung des Versicherungsfalles und des Umfanges der Leistung des Versicherers notwendigen Erhebungen.
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass zum Zeitpunkt der Klageerhebung die Forderung nach Krankentagegeld wegen neurologischer Beschwerden noch nicht fällig war. Der auch für die Fälligkeit seines Anspruchs beweispflichtige Kläger (Johannsen in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2008, § 14 Rn. 36 m.w.N.) hat schon nicht vorgetragen, wegen des neuen Versicherungsfalls überhaupt eine entsprechende Anzeige an die Beklagte abgegeben zu haben (vgl. § 9 Abs. 1 MB/KT) oder dass die Beklagte sonst in die Prüfung des neuen Versicherungsfalls eingetreten wäre.
Letztlich war die Klage deshalb insoweit bereits als unzulässig abzuweisen.
3. Keinen Erfolg hat der Kläger schließlich mit dem Einwand, die Beklagte könne sich nach Treu und Glauben wegen des von ihr durch die für 46 Monate nach Vorlage von AU-Bescheinigungen erbrachten Krankentagegeldzahlungen geschaffenen Vertrauenstatbestandes nicht auf Leistungsfreiheit berufen.
Die Beklagte hat die Zahlungen nicht „grundlos“ eingestellt bzw. gekürzt. Tatsächlich hat sie sich insoweit auf den bedingungsgemäßen Eintritt von Berufsunfähigkeit durch Erlangung einer Berufsunfähigkeitsrente berufen. Diese geänderte Sachlage war – ungeachtet der inhaltlichen Berechtigung zur Leistungseinstellung – geeignet, ein etwaiges bis dato beim Kläger entstandenes Vertrauen – sofern man ein solches überhaupt anerkennen wollte – zu erschüttern. Ein widersprüchliches Verhalten der Beklagten liegt damit gerade nicht vor. Ein berechtigtes Vertrauen des Klägers auf das Fortbestehen seiner Ansprüche bestand deshalb von vornherein nicht.
III. Der Kläger hat Anspruch auf Ersatz seiner vorgerichtlich erforderlich gewordenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 334,75 €.
Mit Schreiben vom 16.7.2019 (Anlage K8a) hat die Beklagte die dem Kläger als berechtigt zuzusprechenden Ansprüche in Höhe von 4.205,65 € verneint. Die hierin liegende Pflichtverletzung der Beklagten i.S.d. § 280 Abs. 1 S. 1 BGB verpflichtet diese dem Kläger zum Schadenersatz (Boetius/Rogler/Schäfer, Rechtshandbuch Private Krankenversicherung § 64 Rn. 116 m.w.N.). Die demnach zuzusprechenden vorgerichtlich erforderlich gewordenen Rechtsanwaltskosten errechnen sich – wie beantragt – aus einer 1,3 Gebühr aus 2.213,50 € (vgl. § 308 Abs. 1 ZPO) zzgl. einer Auslagenpauschale von 20 € und 19% MwSt., mithin 334,75 €.
Dieser Betrag ist wie beantragt ab Rechtshängigkeit zu verzinsen (§§ 286 Abs. 1 S. 2, 288 Abs. 1 BGB, § 291 ZPO).
B.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 2 ZPO, die der vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.


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