Medizinrecht

Streit um Kostenübernahme für Medikamentenbehandlung

Aktenzeichen  S 4 KR 334/17 FdV

Datum:
1.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 61459
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3 S. 1, § 27 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1 u. 3, § 31 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Krankenversicherung schuldet nur die Versorgung mit Arzneimitteln, die für das jeweilige Indikationsgebiet eine arzneimittelrechtliche Zulassung besitzen (BSG, Urt. v. 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R). (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein off-label-use zu Lasten der GKV kommt nur in Betracht, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann (st. Rspr., vgl. BSG, Urt. v. 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R, v. 26.09.2006 – B 1 KR 1/06 R u. 19.03.2006 – B1 KR 37/00 R). (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Behandlung mit einem nicht zugelassenen Medikament kommt es auf den Zeitpunkt der Behandlung an. Spätere Studienergebnisse sind bei der rechtlichen Beurteilung nicht heranzuziehen (vgl. BSG, Urt. v. 11.09.2018 – Az.: B 1 KR 36/17 R; Urt. v. 30.09.2009 – Az.: B 1 KR 5/09 R; Bay LSG, Urt. v. 14.07.2015 -Az.: L 5 KR 153/14). (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 07.04.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2010 und der Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 16.433,25 Euro, die der verstorbenen Mutter der Klägerin entstanden sind durch die Behandlung mit dem Medikament Avastin.
Die angefochtenen Bescheide sind rechtlich nicht zu beanstanden und der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch besteht nicht, da für das Gericht feststeht, dass die Klägerin keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten für die Behandlung der Versicherten mit dem Medikament Avastin hat.
2. Der begehrte Kostenerstattungsanspruch für die bei der verstorbenen Mutter der Klägerin durchgeführte Behandlung mit dem Medikament Avastin ist nicht nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V gegeben.
Gemäß § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V besteht ein Kostenerstattungsanspruch in der entstandenen Höhe, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war.
Ein Anspruch auf Kostenerstattung ist nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V nur gegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Bestehen eines Primär- bzw. Naturalleistungsanspruchs des Versicherten (vgl. unten) und dessen rechtswidrige Nichterfüllung, Ablehnung der Naturalleistung durch die Krankenkasse, Selbstbeschaffung der entsprechenden Leistung durch den Versicherten, Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung, Notwendigkeit der selbst beschafften Leistung und (rechtlich wirksame) Kostenbelastung durch die Selbstbeschaffung (zum Ganzen BSG SozR 4 – 2500 § 13 Nr. 20, RdNr. 25).
Die Versicherte hatte keinen materiellen Anspruch auf eine Versorgung mit dem Arzneimittel Avastin als Sachleistung auf Grundlage des von Klägerseite geltend gemachten „Compassionate Use“ (vgl. unten a), der Regelungen des SGB V zur Arzneimittelversorgung (vgl. unten b), des von der Rechtsprechung entwickelten off-label-use (vgl. unten c) und des verfassungsrechtlich begründeten Anspruchs (vgl. unten d).
a. Mit dem 14. Änderungsgesetz zum Arzneimittelgesetz (AMG) wurde 2005 der so genannte „Compassionateuse“ (Anwendung aus Mitgefühl) der seit 2004 bestehenden europäischen Regelung in das deutsche AMG aufgenommen und durch das „Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ 2009 modifiziert. Mit der „Verordnung über das Inverkehrbringen von Arzneimitteln ohne Genehmigung oder ohne Zulassung in Härtefällen“ (Arzneimittel-Härtefall-Verordnung-AMHV) werden die Umsetzungsvoraussetzungen für ein „Compassionateuse“- Programm für Deutschland präzisiert.
Im vorliegenden Fall scheitert ein Anspruch der Klägerin auf Kostenübernahme, denn Avastin wurde zu keinem Zeitpunkt über die Arzneimittel-Härtefall-Verordnung zur Verfügung gestellt und nach § 21 Abs. 6 AMG sind Arzneimittel in Härtefallprogrammen kostenlos durch den pharmazeutischen Unternehmer zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet, dass eine Kostenübernahme durch die Beklagte als Gesetzlicher Krankenversicherung rechtlich ausgeschlossen ist.
b. Grundsätzlich schuldet die Beklagte als gesetzliche Krankenversicherung der Versicherten nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V die Versorgung mit den notwendigen, zweckmäßigen (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) Medikamenten bzw. bei unrechtmäßiger Nichtgewährung den entsprechenden Kostenersatz nach § 13 Abs. 3 SGB V oder eine entsprechende Kostenfreistellung. Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht zu gewähren, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt. Die Beklagte schuldet also nur die Versorgung mit Arzneimitteln, die für das jeweilige Indikationsgebiet eine arzneimittelrechtliche Zulassung besitzen (BSG, Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R).
Für die bei der Versicherten vorliegende Indikation war Avastin zum Zeitpunkt der Behandlung nicht zugelassen.
c. Ein off-​label-​use zu Lasten der GKV kommt nur in Betracht (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 15/07 R, vom 26.09.2006 – B 1 KR 1/06 R und 19.03.2006 – B1 KR 37/00 R), wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Von hinreichenden Erfolgsaussichten kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Ein off-​label-​use scheidet im konkreten Fall aus, da keine Datenlage vorlag aufgrund derer die begründete Aussicht bestand, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Behandlung mit einem nicht zugelassenen Medikament kommt es auf den Zeitpunkt der Behandlung an. Daher sind spätere Studienergebnisse bei der rechtlichen Beurteilung hier nicht heranzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 11.09.2018 – Az.: B 1 KR 36/17 R; Urteil vom 30.09.2009 – Az.: B 1 KR 5/09 R; Bay LSG, Urteil vom 14.07.2015 -Az.: L 5 KR 153/14).
Zwar hat die Klägerin mit außergerichtlichem Schreiben vom 28.08.2017 die Phase IIIStudie aus dem Jahr 2014 vorgelegt und nachfolgend erfolgte die Zulassungserweiterung, sodass Avastin zur Behandlung der Erkrankung der Versicherten aktuell arzneimittelrechtlich zugelassen ist. Aber diese späteren Entwicklungen und Erkenntnisse bleiben für den hier zu entscheidenden Fall außer Betracht.
Im vorliegenden Fall sind sämtliche MDK-Gutachter in ihren Gutachten vom 30.03.2010, 06.05.2010, 01.07.2010, 30.07.2010, 20.08.2012, 11.05.2017 und 13.06.2017 und die Herstellerfirma R. AG in ihren Auskünften vom 11.08.2011, 30.07.2012 und 19.06.2015 übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Therapie der Versicherten im Jahr 2010 keine Phase III-Studie vorlag.
d. Einen weiteren Ausnahmetatbestand hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) geschaffen. Danach kann der Versicherte, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, nicht von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode ausgeschlossen werden, weil deren therapeutischer Nutzen noch nicht ausreichend gesichert sei. Allerdings müsse die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen.
Die verfassungsrechtliche Konkretisierung der Leistungsansprüche von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung bei lebensbedrohenden, tödlich verlaufenden Erkrankungen entsprechend der Rechtsprechung des BVerfG gilt sinngemäß auch für die Versorgung mit Arzneimitteln (BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R). Um die Notwendigkeit der Krankenbehandlung i.S.v. §§ 27, 31 SGB V mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel trotz der Anforderungen des § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V über die bisherige BSG-Rechtsprechung hinaus bejahen zu können, müssen daher neben der nach dem BVerfG erforderlichen Krankheitssituation und den allgemeinen krankenversicherungsrechtlichen Erfordernissen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
1. Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen.
2. Unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes überwiegt bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen.
3. Die – in erster Linie fachärztliche – Behandlung muss auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden.
Mittlerweile hat diese Rechtsprechung ihren Niederschlag in der gesetzlichen Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V gefunden.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 bzw. § 2 Abs. 1a SGB V scheiden als Anspruchsgrundlage aus, da schulmedizinische Behandlungsmethoden zur Behandlung der Versicherten vorlagen.
Die sozialmedizinischen Gutachten des MDK Bayern vom 30.03.2010, 06.05.2010, 01.07.2010, 30.07.2010, 20.08.2012, 11.05.2017 und 13.06.2017 kamen zum Ergebnis, dass daneben weitere Therapien zur Verfügung standen. Insbesondere geht auch die die Klägerin behandelnde Uniklinik E. in ihrer Stellungnahme vom 23.05.2017 davon aus, dass zugelassene Alternativtherapien zur Verfügung standen: „Selbstverständlich hätten zu diesem Zeitpunkt weitere Therapien zur Verfügung gestanden, wie eine Monotherapie mit Caelyx, mit Topotecan, Gemeitabin oder Treosulfan.“
Die Klage war daher insgesamt abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183,193 SGG.


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