Medizinrecht

Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest zur prophylaktischen Anwendung nach primärer CMV-Infektion einer Schwangeren zum Schutz des Ungeborenen.

Aktenzeichen  L 4 KR 318/18

Datum:
25.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 47565
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 2 Abs. 2
SGB V § 2 Abs. 1a, § 13 Abs. 3, § 27, § 31 Abs. 1 S. 1, § 35c

 

Leitsatz

1. Es besteht kein Sachleistungsanspruch auf Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest zur prophylaktischen Anwendung nach primärer CMV-Infektion einer Schwangeren zum Schutz des Ungeborenen. (Rn. 43 – 44)
2. Ein Off-label-Use scheidet aus; es fehlt an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. (Rn. 46 – 49)
3. Die drohende CMV-Infektion des Fötus stellt ein behandlungsbedürftiges Erkrankungsrisiko dar und ist damit als eine Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1a SGB V anzusehen. (Rn. 58)
4. Die CMV-Infektion der Mutter kann nicht als lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V angesehen werden. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass sich die mit der CMV-Infektion der Mutter verbundenen Gefahren für den Fötus verwirklichen, ist hierfür zu gering. (Rn. 59 – 70)
5. Zur Studienlage und statistischen Wahrscheinlichkeit im Jahre 2015. (Rn. 73)
6. Eine Ausweitung der Ansprüche von Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die arzneimittelrechtlichen Standards nicht genügen, muss auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (BSG-Rechtsprechung). (Rn. 75)

Verfahrensgang

S 7 KR 1723/15 2018-03-21 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. März 2018 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.Dezember 2015 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und in der Sache auch begründet.
Das Sozialgericht München hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit Cytotect CP O zu versorgen. Diese hat daher keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihr durch die Cytotect-Therapie entstanden sind.
Als Anspruchsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch kommt allein § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, dem Versicherten die Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Vorliegend hat die Beklagte die Versorgung der Klägerin mit Cytotect nicht zu Unrecht abgelehnt, da ein entsprechender Sachleistungsanspruch der Klägerin nicht bestand.
1. Ein Leistungsanspruch gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V scheidet aus, da das streitgegenständliche Fertigarzneimittel Cytotect CP O in Deutschland bzw. in der EU nicht zur prophylaktischen Anwendung nach primärer CMV-Infektion einer Schwangeren zum Schutz des Ungeborenen zugelassen ist. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung besteht nur für die Prophylaxe klinischer Manifestationen einer Zytomegalievirusinfektion bei Patienten im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie, insbesondere nach Organtransplantationen.
2. Die Klägerin hatte auch keinen Anspruch auf Versorgung mit Cytotect im Rahmen eines Off-Label-Use. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des GBA und im Falle von klinischen Studien regelt, liegt nichts vor. Aber auch nach den vom BSG entwickelten Grundsätzen für einen Off-Label-Use konnte die Klägerin die Versorgung mit Cytotect nicht verlangen. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es
1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht,
2. keine andere Therapie verfügbar ist und
3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.
Von hinreichenden Erfolgsaussichten aufgrund der Datenlage ist nach der Rechtsprechung des BSG nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 26.09.2006, B 1 KR 1/06 R).
Wie vom SG insoweit zutreffend ausgeführt, fehlt es vorliegend an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Abzustellen ist insoweit auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. BSG, Urteil vom 03. Juli 2012, B 1 KR 25/11 R). Im Jahr 2015 lag eine abgeschlossene veröffentlichte Studie zum Einsatz von CMV-Hyperimmunglobulin zur präventiven oder therapeutischen Anwendung im Rahmen einer primären CMV-Infektion in der Schwangerschaft in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III nicht vor. Ebenso wenig bestand in einschlägigen Fachkreisen aufgrund zuverlässiger, wissenschaftlicher Aussagen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen eines Einsatzes von CMV-Hyperimmunglobulin in dem neuen Anwendungsgebiet.
Die von der Beklagten zuletzt erwähnte amerikanische Phase-3-Studie zur Häufigkeit von kongenitaler CMV-Infektion und perinataler Mortalität bei Gabe von CMV-Hyperimmunglobulin wurde erst 2021 veröffentlicht und hat daher außer Betracht zu bleiben. Sie konnte im Übrigen einen Nutzen des Einsatzes von CMV-Hyperimmunglobulin zur präventiven oder therapeutischen Anwendung im Rahmen einer primären CMV-Infektion in der Schwangerschaft nicht bestätigen.
3. Ein Leistungsanspruch der Klägerin bestand auch nicht nach den Grundsätzen grundrechtsorientierter Leistungsauslegung bzw. nach der Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V. Danach müssen folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein:
1. Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vor.
2. In Bezug auf diese Krankheit steht eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.
3. Es besteht eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht alle erfüllt.
a) Nach Überzeugung des Senats lag bereits eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung nicht vor.
Hierbei ist zunächst zu prüfen, ob überhaupt eine (behandlungsbedürftige) Krankheit im Rechtssinne vorlag. Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder – zugleich oder allein – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG, Urteil vom 19.02.2003, B 1 KR 1/02 R). Als regelwidrig ist ein Körper- oder Geisteszustand anzusehen, der von der durch das Leitbild eines gesunden Menschen geprägten Norm abweicht (BSG, Urteil vom 28.09.2010, B 1 KR 5/10 R). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu, erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird. Vorliegend war die Klägerin durch die CMV-Infektion nicht in belangvoller Weise in ihren Körperfunktionen beeinträchtigt. Ihr ungeborenes Kind wiederum war (noch) nicht mit dem CMV-Virus infiziert – dies war jedenfalls die Prämisse der eingeleiteten Behandlung, mit der eine maternofetale Transmission gerade verhindert werden sollte.
Das Vorliegen einer Krankheit im Rechtssinne ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber auch im Falle eines bloßen Krankheitsrisikos bejaht worden. Beim Erkrankungsrisiko führt das Risiko des Entstehens einer Krankheit, sofern es Behandlungsbedürftigkeit begründet, dazu, dass bereits in dem risikobegründenden Zustand eine Regelwidrigkeit mit Krankheitswert gesehen wird (BSG, Urteil vom 18.11.1969, 3 RK 75/66; Urteil vom 20.10.1972, 3 RK 93/71; Urteil vom 23.02.1973, 3 RK 82/72). Letztlich wird ein Erkrankungsrisiko wegen seiner Behandlungsfähigkeit aufgrund einer wertenden Betrachtung als behandlungsbedürftige Krankheit im Rechtssinne erachtet, weil die mit dem Erkrankungsrisiko einhergehende Ungewissheit es für den Betroffenen unzumutbar und für die Versichertengemeinschaft nicht verantwortbar macht, den tatsächlichen Eintritt der Funktionsstörung, d.h. der Krankheit im engeren Sinn, abzuwarten (vgl. Hauck, Erkrankungsrisiko als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicher…, NJW 2016, 2695, 2699; ebenso Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.09.2017, 5 C 10/16).
Hier stellte die CMV-Infektion für die schwangere Klägerin selbst kein relevantes Krankheitsrisiko dar, sie barg jedoch eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben ihres ungeborenen Kindes. Dieses war zwar (noch) nicht infiziert. Es bestand aber das Risiko einer maternofetalen CMV-Transmission und eine daraus resultierende Gefahr einer Schädigung des Fötus oder eines Aborts. Durch die prophylaktische Gabe von CMV-Hyperimmunglobulin sollte die Wahrscheinlichkeit einer Transmission des Zytomegalievirus auf den Fötus verringert werden. Da eine Schädigung der Leibesfrucht einer Erkrankung der Mutter gleichsteht und die Klägerin und ihr ungeborenes Kind daher als Einheit zu betrachten sind (vgl. BSG, Urteil vom 24.01.1990, 3 RK 18/88), ist es nach Auffassung des Senats geboten, die drohende CMV-Infektion des Fötus als behandlungsbedürftiges Erkrankungsrisiko und damit als Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1a SGB V zu anzusehen – dies trotz des Umstandes, dass die Behandlungsfähigkeit des Erkrankungsrisikos hier durchaus fraglich bzw. umstritten ist.
Nach Überzeugung des Senats handelte es sich jedoch weder um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung noch um eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung.
Lebensbedrohend ist eine Krankheit, wenn der Tod durch diese nach allgemeiner Erkenntnis oder der Beurteilung im konkreten Einzelfall innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums wahrscheinlich verursacht wird (GBegr., BT-Drucks. 17/6906, S. 53). Das BSG spricht im Urteil vom 14.12.2006 (B 1 KR 12/06 R, Rn 20) von „großer“ Wahrscheinlichkeit“.
Eine Krankheit ist regelmäßig tödlich, wenn durch diese die Todesgefahr nach generellen, statistisch hinreichend gesicherten medizinischen Erfahrungen zwar nicht in allen Fällen, aber annähernd ausnahmslos besteht. Regelmäßig tödlich ist eine Krankheit auch dann, wenn der Patient noch nicht in akuter Lebensgefahr ist, sondern die Krankheit erst in einigen Jahren zum Tod führt (BVerfG, Beschluss vom 06.02.2007 – 1 BvR 3101/06) bzw. sie generell mit einer erheblich verkürzten Lebenserwartung einhergeht (BVerfG, Beschluss vom 26.03.2014, 1 BvR 2415/13, Rn. 15).
Wertungsmäßig vergleichbar schwer ist eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung wie der Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion; dabei muss der Verlust in absehbarer Zeit, das heißt innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums, mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BSG, Urteil vom 28.02.2008 – B 1 KR 16/07 R – Rn. 32; Becker/Kingreen/ Scholz, 6. Aufl. 2018, SGB V § 2 Rn. 7).
Im vorliegenden Fall bestand für das ungeborene Kind der Klägerin ohne Zweifel eine bedrohliche Situation, denn es bestand die konkrete Gefahr einer CMV-Infektion auch des Fötus und daraus resultierend die weitere Gefahr, dass der Fötus aufgrund der CMV-Infektion versterben (Abort oder postnatales Versterben) oder eine schwere organische Schädigung erleiden würde. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind, sich im Mutterleib mit dem Zytomegalievirus zu infizieren, wenn sich die Mutter damit erstmals prä- oder perikonzeptionell bzw. im ersten Trimenon der Schwangerschaft infiziert hat, beträgt nach den Ausführungen des Sachverständigen H, der insoweit auf eine Studie von Enders et al. aus dem Jahr 2011 verweist (intrauterine transmission and clinical outcome of 248 pregnancies with primary cytomegalovirus infection in relation to gestational age), etwa 30%. Auch der MDK geht in seinem Gutachten vom 14.07.2020 davon aus, dass die Transmissionsrate nach primärer CMV-Infektion im ersten Schwangerschaftsdrittel bei rund 30% liegt. Damit bestand ohne Zweifel ein hohes Infektionsrisiko für das ungeborene Kind der Klägerin. Gleichwohl war es überwiegend wahrscheinlich, dass sich das Kind nicht infizieren würde.
Eine Infektion des Fötus wiederum war nach damaliger (und heutiger) Studienlage nicht gleichbedeutend mit einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behinderung oder gar einem Versterben des Kindes. Die Gefahr des Aborts, einem postnatalen Versterben oder einer schweren Schädigung des Fötus im Falle einer Infektion war zwar beträchtlich. Nach der Datenlage war es aber überwiegend wahrscheinlich, dass das ungeborene Kind der Klägerin – sollte es sich infizieren – keine bleibenden Schäden aufgrund der CMV-Infektion davontragen würde.
Nach den übereinstimmenden Angaben im Gutachten von H vom 19.12.2016 und in der MDK-Grundsatzstellungnahme vom 20.07.2020 sind etwa 85 bis 90% der CMVinfizierten Lebendgeborenen bei Geburt asymptomatisch, das heißt sie werden ohne feststellbare Anzeichen für eine Erkrankung geboren. Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf alle kongenitalen CMV-Infektionen, unabhängig vom Zeitpunkt der erfolgten Transmission. Lipitz et al. beobachteten in einer Studie, auf die H in seinem Gutachten verweist, bei einer Infektion im ersten Trimenon bei 20% der Schwangerschaften einen symptomatischen nachgeburtlichen Verlauf (Lipitz et al., 2013, Risk of cytomegalovirus – associated sequelae in relation to time of infection and findings on prenatal imaging). Auf Grundlage dieser Daten war demnach im Falle der Klägerin davon auszugehen, dass ihr ungeborenes Kind – sollte es zu einer maternofetalen Transmission kommen – mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% symptomatisch auf die Welt kommt. Das Risiko, dass sich der Fötus der Klägerin infizieren und überdies bei der Geburt Symptome einer CMV-Infektion aufweisen würde, lag damit statistisch insgesamt bei etwa 6%.
Die möglichen Schädigungen, die bei einer kongenitalen CMV-Infektion eines symptomatisch Neugeborenen vorliegen bzw. sich entwickeln können, sind vielfältig und häufig sehr schwerwiegend. Bei 53% der symptomatisch geborenen Kinder liegt eine Mikrozephalie vor, 50% weisen eine Wachstumsretardierung auf, 49% eine Zerebralparese, 37% eine Intelligenzminderung und bei 20% der Kinder besteht eine Schädigung des Sehnervs, um nur einige der möglichen schwerwiegenden Gesundheitsstörungen zu benennen. Es können auch weniger schwerwiegende Symptome vorliegen wie etwa eine Gelbsucht (76%) oder Petechien (76%). Der Schweregrad der kindlichen Gesundheitsstörung ist bei einem perikonzeptionellen maternalen Erwerb der Primärinfektion, wie dies bei der Klägerin der Fall ist, am größten. Die perinatale Mortalität der bei Geburt symptomatischen Neugeborenen mit kongenitaler CMV-Infektion liegt älteren Publikationen zufolge bei 5-10% (Dollard 2007; Walker 2013), so die Grundsatzstellungnahme des MDK.
Aber auch bei etwa 8 bis 15% der asymptomatisch geborenen Kinder, die im Mutterleib mit dem Zytomegalievirus infiziert werden, kommt es im postnatalen Verlauf zu Folgeschäden mit unterschiedlichem Schweregrad. Nach den Angaben von H im Gutachten vom 20.07.2016 entwickeln etwa 10% der asymptomatisch geborenen Kinder eine Hörstörung (ein- oder beidseitige Innenohrschwerhörigkeit). In ca. 3% der Fälle wird eine Beeinträchtigung der neurokognitiven Entwicklung gelegentlich erst beim Schuleintritt festgestellt. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen lag vorliegend die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind der Klägerin sich infizieren und bei der Geburt asymptomatisch sein würde, statistisch bei etwa bei 24%. Das Risiko, dass der Fötus sich infizieren, bei der Geburt asymptomatisch sein und im postnatalen Verlauf Folgeschäden entwickeln würde, betrug demnach (im schlechtesten Fall) statistisch insgesamt etwa 3,6%.
Die natürliche Todesrate durch Abort oder Versterben in der Neonatalphase bei einer CMV-Primärinfektion der Schwangeren mit maternofetaler Transmission wird von H im Gutachten vom 20.07.2016 bei etwa 4% angesetzt. Demgegenüber wird in der Leitlinie Labordiagnostik 2014, die von H maßgeblich mitverfasst worden ist, das Risiko allein eines Aborts bei einer Primärinfektion im ersten Trimenon mit 20% angegeben. Legt man die zuletzt genannte Zahl zugrunde, lag im Falle der Klägerin das Risiko, dass sich der Fötus infizieren und es aufgrund der maternofetalen Transmission zu einem Abort kommen würde, statistisch insgesamt bei etwa 6%.
Auch wenn die eben dargelegten (statistisch hochgerechneten) Risiken, denen das ungeborene Kind der Klägerin ausgesetzt war, erheblich waren, kann die CMV-Infektion der Klägerin nach Auffassung des Senats nicht als lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V angesehen werden. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass sich die mit der CMV-Infektion der Mutter verbundenen Gefahren für den Fötus auch verwirklichen, war hierfür zu gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die CMV-Infektion keinen schweren Schaden erleiden würde (sie lag statistisch etwa bei 84%), war deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen CMVbedingten Schädigung.
Die Erkrankung bzw. das vorliegende Erkrankungsrisiko war nicht lebensbedrohend oder regelmäßig tödlich im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V, weil der Tod des erwarteten Kindes der Klägerin durch deren CMV-Infektion zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich war. Ebenso wenig lag eine wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im Sinne von § 2 Abs. 1a SGB V vor, da es zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich war, dass das ungeborene Kind der Klägerin aufgrund der CMV-Infektion seiner Mutter eine auf Dauer die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung wie den Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion erleiden würde. Nach Überzeugung des Senats lag deshalb eine derart extreme notstandsähnliche Situation, wie sie für einen Leistungsanspruch nach § 2 Abs. 1a SGB V erforderlich ist, nicht vor.
b) Außer Frage steht, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Prävention einer Infektion des Fötus mit dem Zytomegalievirus nicht zur Verfügung stand.
c) Aber auch die weitere Voraussetzung einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf war zur Überzeugung des Senats nicht gegeben. Die Anforderungen an derartige ernsthafte Hinweise sind im Lichte des Nikolausbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts umso geringer, je schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation des Betroffenen im konkreten Fall ist (Gesetzesbegründung BR-Drs. 456/11 Seite 74; BSG, Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R, Rn. 40 sowie Urteil vom 02.09.2014, B 1 KR 4/13 R, Rn. 17)
Im vorliegenden Fall war die Situation der Klägerin – wie dargelegt – durchaus nicht hoffnungslos. Aufgrund der seinerzeit vorhandenen wissenschaftlichen Daten zum Risiko einer maternofetalen CMV-Transmission und einer daraus resultierenden Schädigung des Ungeborenen bestand vielmehr die begründete Hoffnung, dass die Klägerin ein gesundes Kind zur Welt bringen würde. In Anbetracht dieser Situation war der von H festgestellte „Trend“ zur Reduktion der maternofetalen CMV-Transmission sowie zur Reduktion der Krankheitslast des Neugeborenen durch den zulassungsübergreifenden Einsatz von Cytotect nach Auffassung des Senats nicht ausreichend, um im vorliegenden Fall eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf zu begründen. Die begehrte Behandlung mit dem Arzneimittel hatte in der Studie von Revello im Jahr 2014 nicht zu einem statistisch signifikanten Behandlungserfolg geführt. Der fehlende Wirksamkeitsnachweis, so H in seinem Gutachten vom 19.12.2016, führe dazu, dass die streitgegenständliche Behandlungsmethode nicht routinemäßig zur Prävention der kongenitalen Infektion mit einem Zytomegalievirus eingesetzt werden sollte. In der Revello-Studie selbst wird die conclusio mitgeteilt, dass die Behandlung mit CMV-Hyperimmunglobulin den Verlauf der Primärinfektion in der Schwangerschaft nicht wesentlich verändert.
In diesem Zusammenhang sind auch die potentiellen Gefahren dieser Behandlung zu berücksichtigen. In der Fachinformation zu Cytotect CP O wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Unbedenklichkeit dieses Arzneimittels bei der Anwendung während der Schwangerschaft nicht in kontrollierten klinischen Studien untersucht worden sei. Im MDK-Grundsatzgutachten heißt es zu dieser Problematik, dass die bislang vorliegenden Erkenntnisse über Risiken und Nebenwirkungen von CMV-Hyperimmunglobulin bei Verabreichung in der Schwangerschaft zum Teil widersprüchlich seien.
Das BSG hat mit Blick auf das Arzneimittelrecht zu Recht hervorgehoben, dass die Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V den Schutzzweck des Arzneimittelzulassungsrechts nicht konterkarieren darf (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R, Rn. 19). Das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis dürfe, so das BSG, durch eine vermeintlich „großzügige“, im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden. Ein solches Vorgehen wäre sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zulasten der übrigen Versicherten verbunden. Solche Auswirkungen dürften der Gemeinschaft der Versicherten nicht aufgebürdet werden, die die Behandlung – typischerweise unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise – finanziere. Eine Ausweitung der Ansprüche der Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, müsse mithin auf eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 20; BSG, Urteil vom 19. 10. 2004 – B 1 KR 27/02 R).
Ein Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V scheidet damit aus. Gleichzeitig gebietet auch Art. 2 Abs. 2 GG keinen weitergehenden Schutzanspruch.
Damit kommt es auf die Frage, ob die Klägerin den sogenannten Beschaffungsweg eingehalten hat, nicht mehr an.
Der Berufung der Beklagten war daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben