Medizinrecht

Vertragsärztliche Versorgung – Arzneimittelregress – Verordnungsfähigkeit von Tandemact

Aktenzeichen  L 12 KA 107/14

Datum:
2.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AM RL § 10 Abs. 2
SGB V SGB V § 31 Abs. 1 S. 4, § 106 Abs. 5 S. 8

 

Leitsatz

1. Zur Verordnungsfähigkeit von Tandemact zur Behandlung von Typ 2 Diabetes mellitus Patienten (amtlicher Leitsatz)
2. Ein Vorverfahren vor dem Beschwerdeausschuss ist auch dann ausgeschlossen, wenn Gegenstand des Regresses Arzneimittel sind, deren Verordnung grundsätzlich durch das Gesetz oder die Arzneimittelrichtlinien ausgeschlossen ist, die aber in Ausnahmefällen mit Begründung verordnet werden dürfen (vgl. BSG, Urteil vom 02.07.2014, B 6 KA 25/13 R). (amtlicher Leitsatz)
3 Zur Begründung einer Ausnahmeindikation iSd § 31 Abs. 1 S. 4 SGB V reicht ein Verweis auf die Therapieentscheidung des Arztes nicht aus. (redaktioneller Leitsatz)
4 Ein Vorverfahren vor dem Beschwerdeausschuss ist auch ausgeschlossen, wenn Gegenstand eines Arzneimittelregresses die Verordnung im Ausnahmefalle ist. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 38 KA 631/13 2014-04-30 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 30.04.2014, S 38 KA 631/13, wird zurückgewiesen.
II.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die nach §§ 143, 144 Abs. 3, 151 statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat eine ausnahmsweise zulässige Verordnung von Tandemact für die Patientin K.R. nicht ausreichend dargelegt.
Die auch noch in der Berufungsinstanz vom Klägerbevollmächtigten vertretene Argumentation, der Ausschluss des Vorverfahrens nach § 106 Abs. 5 Satz 8 SGB V sei eine unzulässige Verkürzung des Rechtsweges und daher rechtswidrig, geht fehl. Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 2.7.2014, B 6 KA 25/13 R entschieden, dass ein Vorverfahren vor dem Beschwerdeausschuss auch dann ausgeschlossen ist, wenn Gegenstand des Regresses Arzneimittel sind, deren Verordnung grundsätzlich durch das Gesetz oder die Arzneimittelrichtlinien ausgeschlossen ist, die aber in Ausnahmefällen mit Begründung verordnet werden dürfen. Zur Begründung hat das BSG ausgeführt, würde allein der Umstand, dass eine Ausnahme von einem generellen gesetzlichen oder gesetzlich ermöglichten Verordnungsausschluss in Betracht kommen oder dass sich der Arzt auch nur hierauf berufe, die Anwendung des § 106 Abs. 5 Satz 8 SGB V ausschließen, verbliebe kaum ein sinnvoller Anwendungsbereich für diese Sonderregelung. Dies entspreche nicht der Intention des Gesetzgebers. In der großen Mehrzahl der Konstellationen, für die der Gesetzgeber die Anrufung des Beschwerdeausschusses aus Gründen der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens gerade ausschließen wollte, sind Ausnahmen unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Die im Gesetz oder in der AM-RL vorgesehene Möglichkeit einer ausnahmsweisen Verordnung allein hat auch nicht zur Folge, dass die Entscheidung der Prüfungsstelle nicht mehr auf einen vergleichsweise leicht zu ermittelnden Sachverhalt – nämlich das Eingreifen eines explizit normierten Verordnungsausschlusses – bezogen ist. In der Regel sind auch die tatbestandlichen Voraussetzungen für den besonderen Ausnahmefalls normiert und den Diagnosen, dem Alter des Versicherten und der gegebenenfalls erforderlichen Begründung des Arztes kann die Prüfungsstelle in den typischen Fallkonstellation ohne größeren Aufwand entnehmen, ob ein Regress gerechtfertigt ist (BSG, a. a. O., RdNr. 22 ff.). Dies gilt auch dann, wenn der Ermittlungsaufwand und die notwendige medizinische Fachkunde dem entsprechen, was auch bei einem offlabeluse anfällt, für den das Bundessozialgericht das Eingreifen der Ausschlussregelung des § 106 Abs. 5 Satz 8 SGB V verneint hat. Denn der Gesetzgeber ist berechtigt, den Rechtsmittel bzw. Rechtsbehelfszug nach dem typischen Fall auszurichten. Die Beteiligten müssen wissen, ob gegen die Entscheidung der Prüfungsstelle unmittelbar Klage zu erheben ist oder ob es zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens in zweiter Instanz kommt.
Die Argumentation des Klägerbevollmächtigten ist daher überholt. Die Klage war – wie das SG zutreffend festgestellt hat – auch ohne Durchführung eines Verwaltungsverfahrens in zweiter Instanz zulässig.
Der streitgegenständliche Prüfbescheid ist aber auch materiell-rechtlich nicht zu beanstanden. Zu Recht hat die Beigeladene zu 2) zunächst die Verordnung des Arzneimittels Tandemact zum Anlass genommen, eine Prüfung auf einen evtl. Verstoß gegen den Verordnungsausschluss gemäß § 16 Abs. 1 und Abs. 3 sowie Anlage III Nr. 49 AM-RL einzuleiten. Der Ausschlusstatbestand für Glitazone, zu denen auch Pioglitazone gehört, greift hier grundsätzlich ein.
Die Klägerin beruft sich hinsichtlich der Verordnung vom 27.05.2011 auch nicht mit Erfolg auf ihre Verordnungsbefugnis nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V. Danach kann der Vertragsarzt Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen.
Einen solchen medizinisch begründeten Einzelfall, in dem abweichend vom grundsätzlichen Verordnungsausschluss die Verschreibung des Kombipräparates ausnahmsweise gerechtfertigt ist, hat die Klägerin weder im Verwaltungsverfahren noch im Gerichtsverfahren nachvollziehbar dargelegt. Ihrer Begründungspflicht ist sie daher nicht nachgekommen.
Das Vorliegen einer Ausnahmeindikation im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V ist mit der Begründungspflicht untrennbar verknüpft. Als Ausnahmeindikation können im Prüfungsverfahren und ggf. vor Gericht nur Umstände berücksichtigt werden, die von der Begründung umfasst sind.
Aus dem Begründungserfordernis des § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V resultiert für den Arzt eine Dokumentationsobliegenheit. Zu dokumentieren sind die Umstände, aus denen der Arzt den Schluss zieht, dass die für den Verordnungsausschluss aufgrund der Arzneimittel-Richtlinie tragenden Erwägungen im konkreten Einzelfall nicht eingreifen. Gemäß § 10 Abs. 2 AM-RL erfolgt die Dokumentation im Sinne von § 10 (Muster-)Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte. Im Regelfall genügen die Angabe der Indikation und gegebenenfalls die Benennung der Ausschlusskriterien für die Anwendung wirtschaftlicher Therapiealternativen, soweit sich aus den Bestimmungen der Richtlinie nichts anderes ergibt. Das BSG hat in seinen Urteilen vom 02.07.2014, Az. B 6 KA 25/13 R und B 6 KA 26/13 R, die Auffassung des SG Dresden gebilligt, dass es für die Begründung einer Ausnahmeindikation im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V auf die Dokumentation in den Patientenunterlagen ankommt. Die Begründung muss im zeitlichen Zusammenhang mit der Therapieentscheidung dokumentiert sein; anderenfalls liefe das Begründungserfordernis leer. Wann eine Verordnung ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann, hängt in den Fällen des § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V von den Gründen des jeweiligen Ausschlusses von der Leistungspflicht ab. Zu dokumentieren sind deshalb die Umstände, die im Einzelfall eine relevante Abweichung von der dem Ausschlusstatbestand zugrunde liegenden typischen Konstellation belegen und erkennen lassen, dass die für den Ausschluss aus der Leistungspflicht maßgebenden Gründe im Einzelfall nicht eingreifen. Die Begründung muss sich insbesondere auf die Auswahl des grundsätzlich ausgeschlossenen Arzneimittels unter den in Betracht kommenden Behandlungsalternativen erstrecken, wenn auch verordnungsfähige oder von vornherein nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel in Betracht kommen.
Dieser Begründungspflicht ist die Klägerin in keinster Weise nachgekommen. Im Verwaltungsverfahren hat sie lediglich auf die Therapieentscheidung des Arztes verwiesen. Dass diese Argumentation auch nicht ansatzweise der Begründung einer Ausnahmeindikation entspricht, versteht sich von selbst und wird letztlich auch von der Klägerin nicht ernsthaft bestritten. Streitig ist nur, ob die im Gerichtsverfahren vorgelegten Unterlagen eine Ausnahmeindikation ausreichend begründen. Zur festen Überzeugung des mit einem Arzt fachkundig besetzten Senats reichen die von der Klägerin vorgelegten Verordnungs- und Laborbögen nicht, um eine Ausnahmeindikation ausreichend zu begründen. Es wurden keine Therapiealternativen aufgezeigt und die mit klägerischem Schriftsatz vom 1.7.2014 angekündigten Patientenunterlagen mit Dokumentationen ebenfalls nicht vorgelegt. Die Klägerin, die sich zum Zeitpunkt der Verordnung des Verordnungsausschlusses nicht bewusst war, hat zur Untermauerung ihres Vortrages bezüglich der Indikation zur Therapie mit Pioglitazon lediglich auf die Stellungnahme des „Vorstands der sächsischen Gesellschaft für Stoffwechselerkrankungen und Endokrinologie“ verwiesen, ohne darauf einzugehen, inwieweit und welche der dort genannten Indikationen bei der betroffenen Patientin vorgelegen haben. Eine ausreichende Dokumentation ist darin nicht zu sehen.
Da die Klägerin damit auch im Gerichtsverfahren keine ausreichende Dokumentation der Ausnahmeindikation nachgewiesen hat, kommt es auf die Rechtsfrage, ob die Klägerin mit ihrem Vortrag im Gerichtsverfahren präkludiert war, nicht an. Insofern neigt der Senat jedoch der Auffassung zu, eine Präklusion in Fällen der alleinigen Entscheidung der Prüfstelle bei Verordnungsausschlüssen nach AM-RL nicht anzunehmen.
Die Argumentation des Klägerbevollmächtigten, die Klägerin hätte vor Verhängung des Regresses beraten werden müsse, trifft nicht zu. Hier wird auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts München verwiesen, denen sich der Senat anschließt, § 153 Abs. 2 SGG.
Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 2 VwGO.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht erkennbar (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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