Medizinrecht

Vertragsärztliche Versorgung – Krankenversicherung in anderem EU-Staat – Abrechnungsprüfung durch Kassenärztliche Vereinigungen und die Krankenkassen

Aktenzeichen  B 6 KA 10/20 R

Datum:
26.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:260521UB6KA1020R0
Normen:
§ 106a Abs 2 SGB 5 vom 14.11.2003
§ 106a Abs 3 SGB 5 vom 14.11.2003
§ 106a Abs 4 SGB 5 vom 14.11.2003
§ 106d SGB 5 vom 16.07.2015
§ 82 Abs 1 SGB 5
Art 17 EGV 883/2004
Art 18 EGV 883/2004
Art 19 EGV 883/2004
Anl 20 § 2 BMV-Ä
Anl 20 § 3 BMV-Ä
Spruchkörper:
6. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Sozialgericht für das Saarland, 29. Mai 2018, Az: S 2 KA 8/16, Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Saarland, 24. Juni 2020, Az: L 3 KA 2/18, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 24. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten um die sachlich-rechnerische Richtigstellung von Behandlungsfällen, die Abrechnungen auf der Grundlage der Verordnung Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (im Folgenden: VO 883/2004) betreffen.
2
Mit Schreiben vom 10.6.2015 forderte die klagende Krankenkasse die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) zur Korrektur der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen für die Quartale 4/2012 bis 2/2014 zum Ausgleich von Kosten auf, die ihr dadurch entstanden seien, dass Leistungen für im Ausland versicherte Personen im Rahmen der VO (EG) 883/2004 bzw im Rahmen von bilateralen Sozialversicherungsabkommen (SVA) abgerechnet wurden, obwohl die betreffenden Patienten bei der Klägerin gesetzlich krankenversichert gewesen seien (von der Klägerin als “SVA IX”-Fälle bezeichnet). Zudem seien Fälle betroffen, in denen die erforderliche Dokumentation des Anspruchsnachweises – hier der europäischen Krankenversicherungskarte oder der provisorischen Ersatzbescheinigung – nicht erfolgt sei (von der Klägerin als “SVA I”-Fälle bezeichnet). Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass die Klägerin eine Korrektur der Abrechnung von Leistungen sonstiger Kostenträger begehre. Diese sonstigen Kostenträger gehörten nicht zu den gesetzlichen Krankenkassen iS des § 4 SGB V. Dementsprechend könnte kein Antrag nach § 106a SGB V (in der hier noch maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung aF; nunmehr § 106d SGB V in der ab 1.1.2017 geltenden Fassung des GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes vom 16.7.2015, BGBl I 1211) auf sachlich-rechnerische Berichtigung gestellt werden (Bescheid vom 3.9.2015, Widerspruchsbescheid vom 9.12.2015).
3
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben und diese – zur Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen – auf siebzehn Behandlungsfälle (hiervon fünfzehn “SVA IX”-Fälle und zwei “SVA I”-Fälle) aus den Quartalen 4/2012, 3/2013, 4/2013 und 2/2014 beschränkt. Das SG hat die Beklagte verpflichtet, über den Antrag der Klägerin hinsichtlich der Fallgruppe der eigenen Versicherten (“SVA IX”-Fälle) auf der Grundlage von § 106a Abs 3 SGB V aF neu zu entscheiden und hinsichtlich der weiteren Fallgruppe des fehlenden Anspruchsnachweises (“SVA I”-Fälle) auf der Grundlage von § 106a Abs 2 und 4 SGB V aF eine gezielte Prüfung vorzunehmen (Urteil vom 29.5.2018). Die Regelung des § 106a Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB V aF greife auch dann, wenn der Arzt einen falschen Kostenträger angegeben habe. Denn nach dieser Vorschrift hätten die gesetzlichen Krankenkassen die Abrechnungen hinsichtlich des Bestehens und des Umfangs ihrer Leistungspflicht zu prüfen. Hierzu gehöre auch die Klärung, ob der Versicherte, für den die Leistungen zu Lasten der Krankenkasse abgerechnet würden, dem Grunde nach einen Leistungsanspruch habe und zudem in welchem Umfang er diesen Leistungsanspruch habe. Hierunter falle die vorliegende Konstellation, in der die Klägerin zur Erstattung von extrabudgetären Leistungen herangezogen worden sei, aber selbst bereits eine Leistungspflicht aus einem regulären Krankenversicherungspflichtverhältnis festgestellt habe.
4
Die Auffassung der Beklagten, dass hier die vertragsärztliche Versorgung nicht betroffen sei und daher § 106a SGB V aF keine Anwendung finden könne, überzeuge nicht. Die einschlägigen Regelungen in § 106a Abs 1 SGB V aF, § 1 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) und § 1 der Anlage 20 zum BMV-Ä beinhalteten gerade Regelungen zur “vertragsärztlichen Versorgung” bzw zur Tätigkeit eines “Vertragsarztes”. Die Beklagte habe daher die streitgegenständlichen Abrechnungen im von der Klägerin geforderten Umfang sachlich-rechnerisch richtigzustellen. Auch hinsichtlich der Fälle, in denen es an der Dokumentation des Anspruchsnachweises mangele, habe die Klägerin einen Anspruch auf Prüfung und Neubescheidung ihres Antrags. Dies folge aus § 106a Abs 4 Satz 1 SGB V aF.
5
Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 24.6.2020). Nach § 106a Abs 2 und 3 SGB V aF erfolge eine Prüfung der “Abrechnungen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen”. Die – hier zu beurteilende – Fallgruppe der Angabe eines falschen Kostenträgers sei mit Inkrafttreten des § 106a Abs 3 SGB V aF ohne Zweifel der sachlich-rechnerischen Richtigstellung zugeordnet. Die Anwendung von § 48 Abs 3 BMV-Ä – Feststellung eines sonstigen Schadens – sei daneben ausgeschlossen, weil der Gesetzgeber mit der Normierung des § 106a SGB V aF und dessen Ergänzung durch untergesetzliche Normen auf der Grundlage von § 106a Abs 5 und 6 SGB V aF ein Regelungsgefüge statuiert habe, welches für konkurrierende bundesmantelvertragliche Vorschriften grundsätzlich keinen Raum lasse. Dass es sich bei der Prüfung der von der Klägerin als “SVA IX” bzw “SVA I” bezeichneten Fallgestaltungen um Angelegenheiten handele, die dem Bereich der sachlich-rechnerischen Richtigstellung unterfielen, habe das SG bereits zutreffend dargelegt.
6
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision eine Verletzung von § 106a SGB V aF. Zu Unrecht habe das LSG angenommen, dass diese Vorschrift auch in Behandlungsfällen mit Zuständigkeit von sogenannten sonstigen Kostenträgern anwendbar sei. Eine sachlich-rechnerische Richtigstellung finde nach § 106a SGB V aF vielmehr nur im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung statt. Die Fallgruppe der sonstigen Kostenträger, worunter die streitigen Abrechnungen fielen, würde hiervon nicht erfasst. Denn der Leistungsanspruch resultiere nicht aus dem SGB V. Kostenträger sei hier nicht die inländische deutsche Krankenkasse, sondern der ausländische Kostenträger, der seinerseits der aushelfenden deutschen Krankenkasse die Kosten erstatte. Die Klägerin zahle für diese Behandlungsfälle keine morbiditätsbedingte Gesamtvergütung und diese unterfielen weder der Honorarverteilung noch den Arznei- oder Heilmittelbudgets. Auch Prüfungen der Wirtschaftlichkeit und der Plausibilität würden nur für GKV-Versicherte, nicht aber für sonstige Kostenträger durchgeführt. Es existiere auch eine gesamtvertragliche Rechtsgrundlage, die sachlich-rechnerische Richtigstellungen ohne Rückgriff auf § 106a SGB V aF ermögliche.
7
Die Beklagte beantragt,die Urteile des LSG für das Saarland vom 24.6.2020 und des SG für das Saarland vom 29.5.2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8
Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.
9
Streitgegenstand sei allein die sachlich-rechnerische Richtigstellung von Abrechnungen nach der VO (EG) 883/2004. Soweit die Beklagte generell von Fällen “sonstiger Kostenträger” spreche, sei dies irreführend, da unter diesen Begriff zB auch Abrechnungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie Abrechnungen des Sozialamtes oder der Polizeikassen gefasst würden, die tatsächlich nicht der vertragsärztlichen Versorgung zuzuordnen seien. Dagegen sei die Abrechnung von Leistungen im Rahmen der VO (EG) 883/2004 (bzw nach bilateralen SVA) eindeutig der vertragsärztlichen Versorgung zuzurechnen. Dies folge bereits aus § 3 Abs 2 der Anlage 20 zum BMV-Ä, wo formuliert sei: “Die Abrechnung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung erfolgt nach den Regelungen des Ersatzverfahrens nach Anhang 1 der Anlage 4a zum BMV-Ä bei Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung…”. Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KÄBV) weise dementsprechend in ihrem “Merkblatt über die vertragsärztliche Versorgung von Personen, die im Ausland krankenversichert sind” (Stand 1.7.2017) darauf hin, dass die für im Ausland versicherte Personen bei einem Aufenthalt in Deutschland erbrachten ärztlichen Behandlungen zur vertragsärztlichen Versorgung gehörten.
10
Eine Prüfung nach § 48 BMV-Ä oder nach gesamtvertraglichen Berichtigungsregelungen komme nicht in Betracht. Das BSG habe bereits klargestellt (Hinweis auf Urteil vom 23.3.2016 – B 6 KA 8/15 R – SozR 4-2500 § 106a Nr 15), dass mit Inkrafttreten des § 106a Abs 3 SGB V aF die Fallgruppe der Angabe eines falschen Kostenträgers unzweifelhaft der sachlich-rechnerischen Richtigstellung zuzuordnen sei und nicht mehr unter den Begriff des “sonstigen Schadens” subsumiert werden könne. Eine rechtmäßige gesamtvertragliche Rechtsgrundlage für die Prüfung der “SVA-Abrechnungen” ohne Rückgriff auf die Vorschriften der Abrechnungsprüfung gemäß § 106a SGB V aF sei auch weder existent noch sei eine entsprechende Vereinbarung möglich. Mit Inkrafttreten von § 106a SGB V aF sei die Kompetenz der Gesamtvertragspartner zur Vereinbarung von Verfahren zur Abrechnungsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung entfallen.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben