Medizinrecht

Vertrags(zahn)arztangelegenheiten

Aktenzeichen  S 38 KA 280/18

Datum:
15.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35007
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 2 Abs. 1a, § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 31 Abs. 1 S. 1, § 35c

 

Leitsatz

1. Anders als bei den zum off label use entwickelten allgemeinen Grundsätzen wird bei einer grundrechtsorientierten Auslegung nicht gefordert, dass aufgrund einer Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kumulativ oder palliativ) erzielt werden kann. Dies bedeutet, dass es keiner klinischen Studie bedarf. (Rn. 23)
2. Ein nicht gestellter Kostenübernahmeantrag nach § 2 Abs. 1a S. 2 SGB V schließt die Annahme eines off label use nicht aus. Die Antragstellung dient lediglich der Vorabklärung vor Beginn der Behandlung, wenn der Versicherte oder der Leistungserbringer dies beantragen (§ 2 Abs. 1a S. 2 SGB V). (Rn. 25)
3. In einem so sensiblen Bereich wie der onkologischen Versorgung ist tunlichst ein Therapiewechsel während laufender Therapie zu vermeiden. (Rn. 26)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Beigeladenen zu 1).

Gründe

Die Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Der sehr ausführliche Bescheid des Beklagten, in dem dieser sich mit sämtlichen Aspekten des off label use auseinandergesetzt hat, ist als rechtmäßig anzusehen. Denn der zunächst von der Prüfungsstelle ausgesprochene Regress in Höhe von 136.323,91 € war nach Widerspruchseinlegung durch die Gemeinschaftspraxis aufzuheben.
Streitgegenständlich ist die Verordnung von Ipiliumab und Novilumab als Kombinationstherapie in der Form (Dosierung, Frequenz und Sequenz), wie sie abweichend von der späteren Zulassung im Mai 2016 von der Gemeinschaftspraxis ab 03.03.2016 bei der Patientin Anwendung fand. Zum Zeitpunkt der Verordnung war der Zulassungsantrag bereits gestellt.
Die Leistungspflicht der Klägerin besteht zunächst für Arzneimittel, die verkehrsfähig und arzneimittelrechtlich zugelassen sind (§§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V). Da die Verordnung in den zulassungsrelevanten Kriterien (Dosierung, Sequenz und Frequenz) von der arzneimittelrechtlichen Zulassung abweicht, besteht eine Leistungspflicht nach dem Gesetz nicht.
Die Leistungspflicht der Klägerin ergibt sich auch nicht aus § 35c SGB V („zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln“) als gesetzlich geregelte Form eines off Label use. Die Anwendung von § 35c SGB V setzt voraus, dass es hierzu entsprechende Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses gibt (§ 35c Abs. 1 SGB V) oder klinischen Studien vorliegen, sofern hierdurch eine therapierelevante Verbesserung der Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung im Vergleich zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten zu erwarten ist, damit verbundene Mehrkosten in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten medizinischen Zusatznutzen stehen, die Behandlung durch einen Arzt erfolgt, der an einer vertragsärztlichen Versorgung oder an der ambulanten Versorgung … teilnimmt, und der Gemeinsame Bundesausschuss der Arzneimittelverordnung nicht widerspricht. Beide Voraussetzungen liegen im streitgegenständlich Fall nicht vor.
Deshalb ist der off label use nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zu prüfen. Diese Voraussetzungen sind jedoch ebenfalls nicht erfüllt. Ein off label use kommt danach in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kumulativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl zum Beispiel BSGE 97,112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, Rn. 17 f). Die letztgenannte Voraussetzung liegt nicht vor. Denn es fehlt an einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Die Datenlage muss ihren Niederschlag finden in Forschungsergebnissen, die in einer Studie der Phase III veröffentlicht sind und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Eine Phase III Studie ist zwar vorhanden, was die Kombinationstherapie grundsätzlich betrifft, aber nicht zu der von der beigeladenen Gemeinschaftspraxis verwendeten konkreten Kombination (Dosierung, Frequenz und Sequenz).
In Betracht kommt deshalb eine Leistungspflicht der Klägerin aufgrund der grundrechtsorientierten Leistungsauslegung, die zunächst vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005, Az BvR 347/98) entwickelt und vom Gesetzgeber in § 2 Abs. 1a SGB V, eingefügt durch Gesetz vom 22.12.2011 (BGBl I S. 2983) kodifiziert wurde. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von Abs. 1 S. 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 13.12.2016, Az B 1 KR 10/16 R) hat allerdings betont, dass das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis durch eine vermeintlich „großzügige“, im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden dürfe. Ein solches Vorgehen wäre nämlich sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen Versicherten behaftet, als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zulasten der übrigen Versicherten verbunden. Es sei die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimittel zu gewährleisten. Des Weiteren führt das Bundessozialgericht in der genannten Entscheidung wie folgt aus:
„Um den gesetzlich geregelten Schutzmechanismus von Leben und Gesundheit der Versicherten nicht auszuhebeln, hat der erkennende Senat bei der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts für Arzneimittel deshalb gefordert, dass die zuständige Behörde für das betroffene Mittel arzneimittelrechtlich weder die Zulassung förmlich abgelehnt, noch gemäß § 30 AMG zurückgenommen, widerrufen oder ruhend gestellt hatte.“
Anders als bei den zum off label use entwickelten allgemeinen Grundsätzen wird bei einer grundrechtsorientierten Auslegung nicht gefordert, dass aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kumulativ oder palliativ) erzielt werden kann. Dies bedeutet, dass es keiner klinischen Studie bedarf. Ansonsten hätte eine grundrechtsorientierte Auslegung gegenüber den allgemein entwickelten Grundsätzen für einen off label use keine eigenständige Bedeutung.
Ein im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Zulassung ablehnendes Gutachten liegt hier nicht vor, sodass hierdurch eine Leistungspflicht der Kläger nicht ausgeschlossen ist.
Es trifft zu, dass ein Kostenübernahmeantrag an die klagende Krankenkasse nicht gestellt wurde. Dies schließt jedoch die Annahme eines off label use nicht aus. Die Antragstellung dient lediglich der Vorabklärung vor Beginn der Behandlung, wenn der Versicherte oder der Leistungserbringer dies beantragen (§ 2 Abs. 1a S. 2 SGB V).
Zu erwägen wäre, ob für die beigeladene Gemeinschaftspraxis eine Verpflichtung bestanden hätte, nach und entsprechend der arzneimittelrechtlichen Zulassung ab Mai 2016 die von ihr angewandte Kombinationstherapie anzupassen. Für die mit einem Arzt fachkundig besetzte Kammer ist es nachvollziehbar und plausibel, dass gerade in einem so sensiblen Bereich wie der onkologischen Versorgung tunlichst ein Therapiewechsel, auch wenn dieser beschränkt ist auf die Dosierung, die Frequenz und Sequenz, zu vermeiden; dies insbesondere dann, wenn sich – wie hierdurch die konkrete Gabe der Kombinationstherapie ein Erfolg abgezeichnet hat.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 waren aus Billigkeitsgründen der Klägerin nach § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben