Aktenzeichen B 13 R 9/19 R
§ 1 Abs 2 ZRBG
§ 2 Abs 1 ZRBG
§ 2 Abs 2 ZRBG
§ 3 Abs 1 S 1 ZRBG
ZRBGÄndG 1
§ 1 BEG
§ 43 Abs 2 BEG
§ 43 Abs 3 BEG
§ 35 S 1 SGB 6
§ 50 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 6
§ 51 Abs 1 SGB 6
§ 51 Abs 4 SGB 6
§ 55 Abs 1 SGB 6
§ 235 Abs 1 SGB 6
§ 235 Abs 2 S 1 SGB 6
§ 250 Abs 1 Nr 4 SGB 6
§ 11 Abs 1 S 1 Nr 1 EVZStiftG
Leitsatz
1. Der weite Ghettobegriff des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) erfasst im Kern abgrenzbare Orte, die Juden und anderen Gruppen von Verfolgten innerhalb des nationalsozialistischen Einflussbereichs zwangsweise zum Wohnen und regelmäßigen Aufenthalt zugewiesen wurden und an denen eine entgeltliche Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gleichwohl noch möglich war.
2. Der Beschäftigung in einem Ghetto gleichzustellen sind Beschäftigungen, die Verfolgte ausübten, während sie einem das Verlassen des räumlichen Lebensbereichs nach freiem Belieben nahezu ausschließenden Aufenthaltszwang unterlagen, der deutlich über Verfolgungssituationen hinausging, denen die gesamte, insbesondere jüdische Bevölkerung ausgesetzt war.
3. Trotz seiner Verankerung im Rentenrecht ist das ZRBG materiell-rechtlich als eine dieses überformende Entschädigungsregelung zu betrachten.
Verfahrensgang
vorgehend SG Lübeck, 20. Oktober 2016, Az: S 48 R 173/12, Gerichtsbescheidvorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 13. November 2018, Az: L 7 R 175/16, Urteil
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. November 2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor dieses Urteils wie folgt gefasst wird:
“Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Dezember 2011 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Juli 1997 eine Regelaltersrente zu zahlen.”
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto (ZRBG). Umstritten ist insbesondere, ob sich der Kläger von Januar 1940 bis März 1942 in einem Ghetto aufhielt.
2
Der 1929 geborene Kläger war als Jude Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und ist als Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Er lebte im streitigen Zeitraum mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in seinem polnischen Geburtsort S. (damals: H.-K. bzw R.) nahe der Stadt Mielec (Distrikt Krakau des sog Generalgouvernements), welcher im September 1939 von deutschen Truppen besetzt wurde. In der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 putzte er Wohnungen, verrichtete Reinigungsarbeiten auf dem Gelände des deutschen Militärs und wusch Militär-Lkw, wofür er Extraportionen zu Essen erhielt. Die gesamte jüdische Bevölkerung von Mielec und Umgebung, darunter auch die von S., wurde zwischen dem 9. und 13.3.1942 erschossen, zur Vernichtung deportiert oder in Zwangsarbeitslager verbracht. Der Kläger wurde in das Zwangsarbeitslager B. gezwungen, wo er bis Anfang 1943 verblieb. Anschließend wurde er in das Zwangsarbeitslager H.-C. überführt und war 1943/1944 im Konzentrationslager Mielec sowie 1944/1945 im Konzentrationslager F. interniert. Nach der Befreiung wanderte er 1945 zunächst nach Großbritannien aus. Seit 1949 lebt er in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA), deren Staatsbürgerschaft er besitzt.
3
Am 16.3.2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten aus Beschäftigung in einem Ghetto, die die Beklagte ablehnte (Bescheid vom 1.7.2011, Widerspruchsbescheid vom 7.12.2011). Die daraufhin erhobene Klage hat das SG abgewiesen. Hierbei hat es sich auf ein von ihm beauftragtes Gutachten des Professors für Osteuropäische Geschichte Prof. Dr. G. zur Situation in S. und Mielec im Zweiten Weltkrieg gestützt, wonach sich in S. kein Ghetto befunden habe und dort im streitigen Zeitraum auch keine Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung erfolgt sei (Gerichtsbescheid vom 20.10.2016).
4
Auf die Berufung des Klägers hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG sowie die Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Altersrente nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Zeit von Januar 1940 bis März 1942 sei als Beitragszeit für die Verrichtung einer freiwilligen entgeltlichen Beschäftigung während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto zu berücksichtigen. Unter Anlehnung an die Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen (zB Urteile vom 15.12.2006 – L 13 RJ 112/04 – und vom 13.2.2008 – L 8 R 153/06) sei davon auszugehen, dass das Ghetto im historisch verstandenen Sinne gekennzeichnet sei durch Absonderung, Internierung und Konzentration. Letztere sei ua anzunehmen, wenn die jüdische Bevölkerung sich in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk habe aufhalten müssen. Dies sei zwar vorliegend nicht der Fall gewesen, denn die jüdische Bevölkerung in S. sei in ihren angestammten Wohnhäusern verblieben. Gleichwohl sei von einem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto im Sinne des ZRBG auszugehen. Denn Zweck dieses Gesetzes sei es eine Beschäftigung, die nicht Zwangsarbeit gewesen, aber unter weitgehender Einschränkung der Freizügigkeit ausgeübt worden sei, rentenrechtlich zu berücksichtigen. Entscheidend sei das Maß der tatsächlichen faktischen Einschränkung der Freizügigkeit. Hieraus folge ein weites Verständnis des Begriffs der Konzentration. Er umfasse in kleinen ländlichen Gemeinden auch den Verbleib der jüdischen Bevölkerung in ihren Häusern, umgeben von nichtjüdischen Einwohnern, wenn die gesamte Lebensführung der Juden auf ihre Häuser beschränkt gewesen sei (Urteil vom 13.11.2018).
5
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte einen Verstoß gegen § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG. Die Auslegung des Ghetto-Begriffs durch das LSG überschreite die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Die bisherige Rechtsprechung habe für die Anerkennung eines Ghettos eine Konzentration der jüdischen Bevölkerung in irgendeiner Form gefordert. Dies folge bereits aus dem Wortlaut des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG, wonach ein einzelnes Haus kein Ghetto sein könne, sowie dem rechtssystematischen Zusammenhang zwischen BEG und ZRBG. Zugewiesene einzelne Häuser mit dem Verbot, diese zu verlassen, würden einen grundsätzlich anderen Verfolgungscharakter aufweisen, der eher dem eines Lagers oder ähnlichen NS-Haftstätten gleiche. Eine Abgrenzung zwischen Ghettos und verschiedenen Abstufungstypen nationalsozialistischer Lager wäre im Falle einer Anerkennung von Hausarrest in sog Sternhäusern nicht mehr möglich. Der Verzicht auf das Kriterium der Konzentration führe dazu, dass der Begriff des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto konturlos werde und seine eigenständige Bedeutung verliere. Praktisch in jeder Ortschaft in den von NS-Deutschland kontrollierten oder beeinflussten Ländern und Regionen West-, Mittel- und Osteuropas hätten freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen bestanden, die Teil einer Ghettoisierung sein könnten. Schließlich führe die Argumentation des LSG zu einer Auflösung der Verknüpfung der räumlich begrenzten Anwendung auf Ghettos als speziell konzentrierte Wohnbezirke mit dem gerade im Hinblick hierauf entwickelten erweiterten Beschäftigungs- bzw Entgeltbegriff und stehe damit im Widerspruch zum Zweck des ZRBG und zur Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf die Urteile vom 2.6.2009 – B 13 R 139/08 R und B 13 R 81/08 R – sowie Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R). Die Erweiterung des Entgeltbegriffs könne nicht isoliert betrachtet werden, sondern ergebe sich aus den besonderen Lebensverhältnissen im Ghetto als abgegrenztem, isoliertem wie konzentriertem geographischen Raum.
6
Die Beklagte beantragt,das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. November 2018 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 20. Oktober 2016 zurückzuweisen.
7
Der Kläger beantragt,die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
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Er hält die Urteilsbegründung des LSG für zutreffend und betont seine damalige einem Ghettoaufenthalt vergleichbare Lebenssituation. Ergänzend verweist er auf die Ghettohäuser in Budapest, die unstreitig Ghettos im Sinne des ZRBG seien.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet und daher mit der aus dem Tenor erkennbaren Maßgabe zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
10
Zu Recht hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung einer Regelaltersrente an den Kläger verurteilt. Unabhängig von einem grundsätzlich gebotenen weiten Ghettobegriff ergibt sich der Rentenanspruch des Klägers daraus, dass die von ihm während des streitigen Zeitraums ausgeübten Beschäftigungen unter Berücksichtigung neuerer historischer Erkenntnisse im Wege der Analogie Beschäftigungen während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto gleichzustellen sind. Das im Tenor des LSG bezüglich der Jahreszahl fehlerhaft angegebene Datum des Widerspruchsbescheides war von Amts wegen zu berichtigen und der Tenor klarstellend neu zu fassen.
11
Der Kläger hat gemäß §§ 35 Satz 1, 235 Abs 1, Abs 2 Satz 1 SGB VI ab dem 1.7.1997 einen Anspruch auf eine Regelaltersrente. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt. Gemäß §§ 50 Abs 1 Nr 1, 51 Abs 1 SGB VI werden auf die allgemeine Wartezeit Kalendermonate mit Beitragszeiten und nach § 51 Abs 4 SGB VI solche mit Ersatzzeiten angerechnet. Nach § 55 Abs 1 SGB VI sind Beitragszeiten Zeiten, für die nach Bundesrecht Beiträge gezahlt worden sind oder aber als gezahlt gelten. Zwar hat der Kläger keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung geleistet. Allerdings gelten für die Zeit von Januar 1940 bis März 1942 nach § 2 Abs 1 ZRBG (idF dieses Gesetzes durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto vom 15.7.2014, BGBl I 952) Beiträge als gezahlt. Zusammen mit den Ersatzzeiten nach § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI wird – wie die Beklagte ausdrücklich zu Protokoll der mündlichen Verhandlung erklärt hat – damit die allgemeine Wartezeit erfüllt.
12
Zu Recht hat das LSG Ghetto-Beitragszeiten (§ 2 Abs 1 ZRBG) des Klägers im zugesprochenen Umfang festgestellt. Auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die die Revisionsklägerin nicht angegriffen hat und die daher für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), erfüllt der Kläger im Zeitraum von Januar 1940 bis März 1942 die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG. Nach dieser Vorschrift gilt das ZRBG
für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn
1. die Beschäftigung
a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,
b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und
2. das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag,
soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird.
13
Die Voraussetzungen der Feststellung von Ghetto-Beitragszeiten werden vorliegend erfüllt. Die Lebensumstände des Klägers in der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 sind dem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto zumindest gleichzustellen.
14
Der Begriff des Ghettos iS des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG ist gesetzlich nicht definiert und daher durch Auslegung zu konkretisieren. Dabei gebieten der Gesetzeszweck und die hiermit verbundene entschädigungsrechtliche Überlagerung des Rentenversicherungsrechts ein weites, hier jedoch vom Senat nicht abschließend zu bestimmendes Begriffsverständnis (hierzu I.). Vor dem Hintergrund neuerer geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse, die der Gesetzgeber bei der Schaffung des ZRBG noch nicht umfassend in den Blick nehmen konnte, ist zudem im Wege der Analogie die Gleichstellung von Beschäftigungen geboten, die von Verfolgten aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt wurden, während sie zwangsweise unter räumlichen Freiheitsbeschränkungen leben mussten, die mit dem Aufenthalt in einem Ghetto vergleichbar waren (hierzu II.). Ausgehend hiervon kann dahinstehen, ob der Kläger nach den vom LSG festgestellten Tatsachen im streitigen Zeitraum in einem Ghetto iS des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG gelebt hat, denn jedenfalls lebte er unter Umständen, die dem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto gleichstehen (hierzu III.). Auch die weiteren Voraussetzungen nach § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG liegen vor (hierzu IV.). Aufgrund dieser Ghetto-Beitragszeiten ergibt sich für den Kläger der Anspruch auf eine in die USA zu zahlende Regelaltersrente (hierzu V.).
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I. Der Begriff “Ghetto” iS von § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG ist weit auszulegen. Weder ist er gesetzlich definiert, noch gibt es einen festumrissenen Sprachgebrauch (hierzu 1.). Für eine weite Auslegung sprechen die Gesetzeshistorie (hierzu 2.) sowie der Gesetzeszweck (hierzu 3.). Auch die mit dem ZRBG bewirkte entschädigungsrechtliche Überlagerung des Rentenversicherungsrechts gibt Anlass zu einer derartigen Auslegung (hierzu 4.), ohne dass dem andere systematische Gesichtspunkte entgegenstehen (hierzu 5.).
16
1. Der Begriff des Ghettos in § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG ist hinsichtlich des Wortlauts auslegungsoffen. Es gibt keine gesetzliche Definition, weder im ZRBG noch in weiteren in diesem Kontext zu betrachtenden Normen (hierzu a). Auch findet sich insoweit kein ausreichend verfestigter und konkretisierter juristischer Sprachgebrauch (hierzu b). Ein solcher ergibt sich weder aus der Rechtsprechung des BSG zum ZRBG (hierzu b.aa.) noch derjenigen zum Entschädigungsrecht (hierzu b.bb.). Gleiches gilt für das allgemeine (hierzu c) und das historische Begriffsverständnis (hierzu d).
17
a) Der Begriff “Ghetto” iS des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG ist gesetzlich nicht definiert. Das ZRBG beinhaltet keine Erläuterung dieses Begriffs und verweist zu diesem Zweck auch nicht auf die Begriffsbestimmung eines anderen Gesetzes. Weitere in diesem Kontext zu betrachtende Normen enthalten ebenfalls keine Definition.
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Dies gilt zunächst für das BEG. Nach der beispielhaften Aufzählung des § 43 Abs 2 BEG gilt als entschädigungsbegründende Freiheitsentziehung neben polizeilicher oder militärischer Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft und Konzentrationslagerhaft auch der “Zwangsaufenthalt in einem Ghetto” (so bereits § 43 Abs 2 BEG idF des Art 1 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesergänzungsgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 29.6.1956, BGBl I 559). Einer solchen Freiheitsentziehung gleichgestellt wird durch § 43 Abs 3 BEG ua das Leben “unter haftähnlichen Bedingungen”. Eine fast wortgleiche Aufzählung wie § 43 Abs 2 BEG enthielt zuvor § 16 Abs 2 Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG 1953 vom 18.9.1953, BGBl I 1387). Allerdings wurde dort statt “Zwangsaufenthalt in einem Ghetto” der Terminus “Ghettoeinweisung” verwendet. § 15 Abs 2 des zuvor in der amerikanischen Besatzungszone geltenden sog Entschädigungsgesetzes (Gesetz Nr 951 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts vom 16.8.1949, RegBl WB 1949, 187) verwendete stattdessen den Ausdruck “Ghettohaft”. Eine Legaldefinition des Ghetto-Begriffs findet sich in keinem dieser Gesetze.
19
Neben dem BEG und dem ZRBG wird der Begriff “Ghetto” im gesetzesförmigen Bundesrecht nur noch in § 11 Abs 1 Nr 1 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” (EVZStiftG vom 2.8.2000, BGBl I 1797) genannt. Danach ist leistungsberechtigt nach dem EVZStiftG, wer in einem Konzentrationslager iS von § 43 Abs 2 BEG oder in einer anderen Haftstätte außerhalb des Gebietes der heutigen Republik Österreich oder einem Ghetto unter vergleichbaren Bedingungen inhaftiert war und zur Arbeit gezwungen wurde. Eine Definition des Ghetto-Begriffs enthält dieses Gesetz ebenso wenig wie die veröffentlichte Rechtsprechung hierzu.
20
Schließlich findet sich auch in der untergesetzlichen, aber im hier relevanten Kontext der Entschädigungsleistungen für Arbeit in einem Ghetto ergangenen sog Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war, aktuell idF vom 12.7.2017, BAnz AT 14.7.2017 B1) keine Konkretisierung des Ghetto-Begriffs. Vielmehr knüpft § 1 Anerkennungsrichtlinie hinsichtlich des Kreises der Leistungsberechtigten an die Formulierung des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG an. Denn eine Anerkennungsleistung können unter weiteren Voraussetzungen Verfolgte iS von § 1 BEG erhalten, “die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag”. Auch hier wird der Ghetto-Begriff nicht erläutert, sondern vorausgesetzt. Allerdings wird hiermit die für das ZRBG erst später durch das ZRBG-ÄnderungsG vorgenommene Erweiterung des räumlichen Anwendungsbereichs auf den nationalsozialistischen Einflussbereich vorweggenommen.
21
b) Ein ausreichend verfestigter und konkretisierter juristischer Sprachgebrauch bezüglich des Begriffs “Ghetto” ist jedenfalls für den Kontext des ZRBG ebenso wenig feststellbar. Allenfalls kann aus der Rechtsprechung des BSG zum ZRBG (hierzu aa) und der Rechtsprechung zum Entschädigungsrecht (hierzu bb) abgeleitet werden, dass unter “Ghetto” im Kontext der nationalsozialistischen Verfolgung insbesondere ein “zugewiesener – in der Regel von Juden bewohnter – Wohnbezirk” verstanden wird. Konkretere Begriffsbestimmungen finden sich jedoch nicht.
22
aa) Die Rechtsprechung des BSG zum ZRBG hat den Begriff “Ghetto” bisher nicht abschließend bestimmt.
23
Allein der für die Angelegenheiten der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr zuständige 4. Senat des BSG hat im Rahmen einer Zurückverweisung den Begriff des Ghettos als einen “zugewiesenen – in der Regel von Juden bewohnten – Wohnbezirk (“Ghetto”)” bzw “zugewiesenen Wohnbezirk (‘Ghetto’)” definiert (BSG Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 84 bzw 85, betreffend das Ghetto Moghilev). Soweit der 4. Senat unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des BSG zu § 43 Abs 2 BEG (BSG Urteil vom 21.5.1974 – 1 RA 63/73 – SozR 2200 § 1251 Nr 5, juris RdNr 25) gefordert hat, dass die “Aufenthaltsbeschränkung auf diesen Wohnbezirk durch die Androhung schwerster Strafen oder durch Gewaltmaßnahmen … erzwungen wurde” (BSG Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 85), betrifft dies nicht den Begriff des Ghettos als solchen, sondern das weitere in § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG genannte Tatbestandsmerkmal des zwangsweisen Aufenthalts (in einem Ghetto).
24
Das BSG hat in mehreren Urteilen einen Anspruch auf Rente unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG angenommen, ohne die Ghetto-Eigenschaft des jeweiligen Aufenthaltsorts zu hinterfragen. Dies betraf das Ghetto Drohiczyn (BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8), das Ghetto Krakau (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7), das Ghetto Łódź (BSG Urteil vom 3.5.2005 – B 13 RJ 34/04 R – BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1), das Ghetto Minsk (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 85/08 R – juris) und das Ghetto Stacharowice (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 139/08 R – BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5). Allerdings hat das BSG in den Urteilen zu den Ghettos Drohiczyn und Krakau betont, der Gesetzgeber habe mit dem ZRBG eine unterschiedslose Regelung unabhängig von lokal anwendbarem Recht, Ghetto-Größe und -Struktur geschaffen, obwohl er davon ausgehen musste, dass die von der ursprünglichen Rechtsprechung (sog Ghetto-Rechtsprechung von 1997, hierzu sogleich) aufgestellten Kriterien nur in ganz wenigen Ghettos anzuwenden sein würden (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 28; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 28).
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Auch in den weiteren Urteilen des BSG zu Fragen im Zusammenhang mit der Gewährung von Renten unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG aufgrund des Aufenthalts in einem Ghetto hat sich das BSG nicht zum Inhalt dieses Begriffs geäußert. Es kam in diesen Fällen jedoch für die jeweilige Entscheidung auch nicht auf dieses Tatbestandsmerkmal an. Erwähnt werden in diesen Urteilen das Ghetto Bendzin (BSG Urteil vom 20.7.2005 – B 13 RJ 37/04 R – juris), die Ghettos Budapest und Koeszeg (BSG Urteil vom 16.5.2019 – B 13 R 37/17 R – SozR 4-1200 § 59 Nr 2), das Ghetto Kopaigorod (BSG Urteil vom 30.4.2012 – B 12 R 12/11 R –
SozR 4-5075 § 3 Nr 3; BSG Urteil vom 19.5.2009 – B 5 R 26/06 R – juris), Ghetto Krakau (BSG Urteil vom 19.5.2009 – B 5 R 14/08 R – BSGE 103, 161 = SozR 4-2600 § 250 Nr 6), Ghetto Krasnik (BSG Urteil vom 10.12.2013 – B 13 R 63/11 R – juris), Ghetto Łódź (BSG Urteil vom 19.4.2011 – B 13 R 20/10 R – SozR 4-6480 Art 27 Nr 1; BSG Urteil vom 19.5.2009 – B 5 R 96/07 R), Ghetto Lublin (BSG Urteil vom 20.7.2005 – B 13 RJ 23/04 R – SozR 4-1500 § 96 Nr 3), Ghetto Ostrowiec (BSG Urteil vom 7.2.2012 – B 13 R 40/11 R – BSGE 110, 97 = SozR 4-5075 § 3 Nr 2), Ghetto Radom (BSG Urteil vom 8.2.2012 – B 5 R 38/11 R – SozR 4-5075 § 3 Nr 1), Ghetto Shargorod (BSG Urteil vom 26.7.2007 – B 13 R 28/06 R – BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4), Ghetto Theresienstadt (BSG Urteil vom 12.2.2009 – B 5 R 70/06 R – SozR 4-5075 § 1 Nr 6) und Ghetto Warschau (BSG Urteil vom 10.7.2012 – B 13 R 17/11 R – BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9; BSG Urteil vom 10.12.2013 – B 13 R 53/11 R – juris; BSG Urteil vom 7.10.2004 – B 13 RJ 59/03 R – BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr 1).
26
Schließlich enthält auch die sog Ghetto-Rechtsprechung des BSG, die den Anlass für die Schaffung des ZRBG bildete (BT-Drucks 14/8583 S 1, 6; vgl BSG Urteil vom 7.10.2004 – B 13 RJ 59/03 R – BSGE 93, 214 = SozR 4-5050 § 15 Nr 1, juris RdNr 50; BSG Urteil vom 20.7.2005 – B 13 RJ 37/04 R – juris RdNr 29), keine abstrakte Umschreibung des Ghetto-Begriffs. Nur deskriptiv hat der 5. Senat im Urteil vom 18.6.1997 zum Ghetto Łódź in Bezug auf die Frage des Vorliegens von Beschäftigung im rentenversicherungsrechtlichen Sinne ausgeführt, Freiwilligkeit sei nicht allein deshalb zu negieren, “weil die Arbeitsleistung in einem räumlich begrenzten Bereich erbracht worden ist, dessen Verlassen den Bewohnern wegen drastischer Strafandrohungen praktisch unmöglich war” (BSG Urteil vom 18.6.1997 – 5 RJ 66/95 – BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15, juris RdNr 20). Darüber hinaus betraf diese Rechtsprechung auch Tätigkeiten während des Aufenthalts im noch nicht geschlossenen jüdischen Wohnbezirk (“Ghetto”) Krenau (BSG Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 61/98 R – SozR 3-5070 § 14 Nr 2) sowie im Ghetto Reichshof (BSG Urteil vom 23.8.2001 – B 13 RJ 59/00 R – SozR 3-2200 § 1248 Nr 17).
27
bb) Der entschädigungsrechtlichen Rechtsprechung können ebenfalls keine für das Begriffsverständnis wesentlich weiterführenden Erkenntnisse entnommen werden.
28
Auch hier fehlt neben einer gesetzlichen (hierzu oben I.1.a) eine höchstrichterliche Definition des Ghetto-Begriffs. Nur aus einer Parenthese in einem Urteil des BGH vom 3.7.1957 (IV ZR 125/57 – RwZ 1957, 328, juris RdNr 14) ergibt sich nicht tragend, dass kennzeichnend für haftähnliche Bedingungen iS des § 43 Abs 3 BEG – auch in einem Ghetto – das Getrenntleben von den nicht verfolgten Bewohnern eines Ortes, ohne Gelegenheit zum Umgang mit diesen, gewesen sein soll (vgl auch BGH Urteil vom 9.3.1966 – IV ZR 100/65 – RzW 1966, 332, juris RdNr 20). Nicht der Ghetto-Begriff, sondern ausschließlich der der “haftähnlicher Bedingungen” ist betroffen, wenn der BGH im Urteil vom 9.3.1966 (IV ZR 100/65 – RzW 1966, 332, juris RdNr 20) die allgemeinen Feststellungen des landgerichtlichen Urteils zur Situation von “Zigeunern” im Generalgouvernement zur Annahme solcher Bedingungen nicht ausreichen lässt. Das Schleswig-Holsteinische OLG hatte in der angefochtenen Entscheidung das Generalgouvernement mit Rücksicht auf die hierhin erfolgten Deportationen, die schlechten Verpflegungsbedingungen, die Diskriminierung durch den Zwang zum Tragen besonderer “Zigeunerausweise”, einer Armbinde mit einem “Z” und durch die jeweils auf dem linken Unterarm mit Farbe angebrachte Nummer sowie erfolgte Erschießungen als “ein einziges großes, nach außen hin abgeschlossenes Ghetto” für die dorthin verbrachten “Zigeuner” bezeichnet (vgl BGH Urteil vom 9.3.1966 – IV ZR 100/65 – RzW 1966, 332, juris RdNr 15). Verneint hat der BGH allerdings die Annahme haftähnlicher Bedingungen allein aufgrund allgemein geltender Beschränkungen wie Sterntragen, Ausgangssperren, Verbot, den Ort zu verlassen, und im Fall einer Verfolgten, die nach Auflösung des nur kurzzeitig bestehenden Ghettos Czernowitz vorübergehend in die eigene Wohnung zurückkehren konnte (BGH Urteil vom 8.11.1973 – IX ZR 78/73 – BeckRS 1973, 31374843; vgl auch OLG Stuttgart Beschluss vom 31.10.1955 – EGR 477 – RzW 1956, 48, 49).
29
In der frühen entschädigungsrechtlichen Rechtsprechung der OLG findet sich der Hinweis auf einen allgemeinen Sprachgebrauch, wonach Ghetto ein “abgesonderter Wohnbezirk für Juden” sei (OLG Frankfurt Beschluss vom 19.2.1954 – 8 U 101/53 – RzW 1954, 265, 266; OLG Stuttgart Beschluss vom 31.10.1955 – EGR 477 – RzW 1956, 48, 49; ähnlich Müller, Anm zu OLG Stuttgart Beschluss vom 26.4.1951 – EGR 111 – demzufolge “Ghetto zunächst nichts weiter bedeutet als einen jüdischen Wohnbezirk”, RzW 1951, 238). Ein Anspruch auf Entschädigung wegen Freiheitsentziehung nach § 43 Abs 2 BEG wurde nur bei einem erzwungenen Aufenthalt in einem von der Umwelt vollständig und nachhaltig abgesonderten Judenwohnbezirk angenommen. Als nicht entschädigungsfähig nach § 43 Abs 2 BEG befand die Rechtsprechung hingegen den erzwungenen Aufenthalt in einem offenen Ghetto (OLG Stuttgart Beschluss vom 31.10.1955 – EGR 477 – RzW 1956, 48, 49; Blessin/Ehrig/Wilden, Bundesentschädigungsgesetz, 3. Aufl 1960, BEG § 43 RdNr 17 mwN zur Rspr), in diesen Fällen konnte jedoch der nach § 43 Abs 3 BEG gleichgestellte Tatbestand eines Lebens “unter haftähnlichen Bedingungen” gegeben sein.
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Für das Gebiet des sog Generalgouvernements wurde eine den Tatbestand “Zwangsaufenthalt in einem Ghetto” iS von § 43 Abs 2 BEG ausfüllende allgemeine Absonderung der Judenwohnbezirke ab der Dritten VO über Aufenthaltsbeschränkungen im Generalgouvernement vom 15.10.1941 (VOBl GG S 595) angenommen, deren Art 1 Juden, die den ihnen zugewiesenen Wohnbezirk verließen, die Todesstrafe androhte (noch zum Entschädigungsgesetz OLG Stuttgart Beschluss vom 26.4.1951 – EGR 111 – RzW 1951, 238; zum BEG 1953 OLG Frankfurt Beschluss vom 19.2.1954 – 8 U 101/53 – RzW 1954, 265, 266; zum BEG Blessin/Ehrig/Wilden, Bundesentschädigungsgesetz, 3. Aufl 1960, BEG § 43 RdNr 18 mwN zur Rspr). Ab Inkrafttreten dieser Verordnung hat das OLG Stuttgart sogar eine Stadt als Ganzes als Ghetto angesehen, obwohl es darin keinen “zugewiesenen Wohnbezirk” gab, jedoch bei Kriegsbeginn unter insgesamt 10 000 Einwohnern bereits 8500 Juden lebten, deren Zahl bis September 1942 auf etwa 15 000 anwuchs (OLG Stuttgart Urteil vom 26.4.1951 – EGR 111 – RzW 1951, 238, 239).
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c) Auch aus dem allgemeinen Sprachgebrauch lassen sich keine weiterführenden Erkenntnisse gewinnen. Das Wort “Ghetto” wird darin mehrdeutig verwandt. Keine der Deutungen ist jedoch geeignet, den Begriff des vom ZRBG ausschließlich in Bezug genommenen Ghettos im nationalsozialistischen Einflussbereich (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG) auszufüllen.
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Gemeinhin wird “Ghetto” mit spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Wohnquartieren in Städten assoziiert, wie zum Beispiel dem 1516 in Venedig errichteten (vgl hierzu Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 32 ff; Gutman/Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, Bd I, 1989, 535, Stichwort Ghetto). Darüber hinaus wird der Begriff auch mit dem ostjüdischen Schtetl in Verbindung gebracht. Hierbei handelte es sich um Siedlungen mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil in Osteuropa, die jedoch keine Orte erzwungenen Aufenthalts waren (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24; Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39). Ghetto kann aber auch Stadtviertel bezeichnen, in denen diskriminierte Minderheiten, Ausländer oder auch privilegierte Bevölkerungsschichten zusammenleben, oder gar einen bestimmten sozialen, wirtschaftlichen, geistigen oä Bezirk oder Rahmen, aus dem sich jemand nicht entfernen kann (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion, Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd 4, 3. Aufl 1999, 1501, Stichwort Getto; ebenso https://www.duden.de/rechtschreibung/Getto).
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d) Aus den historisch-fachlichen Umschreibungen des Ghetto-Begriffs können nur Indizien für die Auslegung des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG gewonnen werden. Zwar sind geschichtswissenschaftliche Forschungsergebnisse insbesondere dann zu berücksichtigen, wenn es gilt – wie hier – eine Norm auszulegen, die sich auf einen historischen Sachverhalt bezieht. Zu beachten bleibt insoweit jedoch, dass Geschichts- und Rechtswissenschaft jeweils unterschiedlichen Erkenntnisinteressen dienen. Die Geschichtswissenschaft dient der Erforschung der Vergangenheit (Sellin, Einführung in die Geschichtswissenschaft, Erweiterte Neuausgabe 2005, 17). Die den Historiker interessierende Geschichte umfasst menschliches Tun und Leiden in der Vergangenheit (Faber, zitiert nach Boshof/Düwell/Kloft, Grundlagen des Studiums der Geschichte, 5. Aufl 1997, 3), wobei sich das historische Interesse nur auf bestimmte Felder richten und nur von bestimmten Fragestellungen ausgehen kann (Boshof/Düwell/Kloft, Grundlagen des Studiums der Geschichte, 5. Aufl 1997, 3). Dementsprechend erfolgte auch die Erforschung der nationalsozialistischen Ghettos aus historisch-fachlicher Sicht seit der Nachkriegszeit auf Grundlage verschiedener Perspektiven und methodischer Ansätze (einen Überblick bietet Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 18 ff). Die von Historikern vorgenommenen Begriffsbildungen folgen bzw dienen somit einem anderen Erkenntnisinteresse als die juristische Gesetzesauslegung, deren Ziel in der Ermittlung des in einer Vorschrift zum Ausdruck kommenden objektivierten Willen des Gesetzgebers besteht (stRspr; vgl zB BVerfG Urteil vom 21.5.1952 – 2 BvH 2/52 – BVerfGE 1, 299 – juris RdNr 56; BVerfG Beschluss vom 15.12.1959 – 1 BvL 10/55 – BVerfGE 10, 234 – juris RdNr 40; BVerfG Urteil vom 19.3.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – BVerfGE 133, 168 – juris RdNr 66; BSG Urteil vom 22.10.2014 – B 6 KA 3/14 R – BSGE 117, 149 = SozR 4-2500 § 106 Nr 48, RdNr 60; BSG Urteil vom 7.5.2019 – B 2 U 27/17 R – SozR 4-2700 § 67 Nr 1, auch für BSGE vorgesehen – juris RdNr 11; BFH Urteil vom 30.7.1980 – I R 111/77 – BFHE 131, 469 – juris RdNr 11; BFH Urteil vom 23.10.2013 – X R 3/12 – BFHE 243, 287 – juris RdNr 20, jeweils mwN; zur Kritik der dem zugrundeliegenden Methodentheorie zB Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie: mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl 2020, RdNr 799 f, 806 ff mwN). Daher hat eine eigenständige Auslegung des Begriffs Ghetto im Kontext des ZRBG unter Anwendung aller anerkannten juristischen Auslegungsmethoden zu erfolgen, innerhalb derer historische Erkenntnisse ohne Zweifel zu berücksichtigen sind (so im Ergebnis auch Röhl, NZS 2018, 513, 515).
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Aus diesem Grunde kann der vom LSG Nordrhein-Westfalen 2006 zum ZRBG entwickelten, an fachhistorisch identifizierten Aspekten der Ghettoisierung orientierten Auslegung nicht gefolgt werden, wonach stets die Merkmale der Konzentration, Absonderung und der internierungsähnlichen Unterbringung gegeben sein müssen (vgl LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.12.2006 – L 13 RJ 112/04 – juris RdNr 37). Der fachhistorische Diskurs aus der Zeit nach Begründung dieser Rechtsprechung zeigt vielmehr, dass sich keine zeitlich und räumlich für alle Ghettos gleichermaßen geltenden Strukturen ausmachen lassen. Die Beschreibungen nationalsozialistischer Ghettos aus historisch-fachlicher Sicht zeichnen vielmehr ein von Ungleichzeitigkeit und Diversität der Ghettoisierung im nationalsozialistischen Einflussbereich geprägtes Bild. Dabei verwenden selbst die Wissenschaftler der beiden größten Holocaustforschungsstätten – Yad Vashem und United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) – keine einheitliche Definition des Begriffs. Wesentlich hierfür ist, dass die gewählten Definitionen durch das in der jeweiligen Untersuchung verfolgte Erkenntnisinteresse bestimmt sind.
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So wurde beispielsweise für die Erstellung der 2009 bzw 2010 erschienenen Yad Vashem Ency-clopedia of Ghettos von deren Autoren im Jahr 2005 eine Ghetto-Definition erarbeitet, um die Frage beantworten zu können, welche Orte in diesem Werk Aufnahme finden sollten. Ghetto ist danach “jede Konzentration von Juden unter Zwang länger als ein Monat in einem klar abgegrenzten Wohnbezirk einer bereits bestehenden Ansiedlung (Großstadt, Kleinstadt oder Dorf) in Gebieten, die von Deutschland oder seinen Verbündeten kontrolliert wurden” (Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 13 f). Mit dieser Definition wurden verschiedene Muster konzentrierten Wohnens erfasst, wie Wohnviertel, Straßen und Gruppen von Gebäuden, nicht jedoch einzelne Gebäude wie “Judenhäuser” (anders aber Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, der Judenhäuser als rudimentäre Form des Ghettos ansieht) oder Kasernen, und sie erforderte keine jüdische Verwaltung, auch wenn diese häufig vorhanden war (Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 14). Zugleich wird darauf hingewiesen, dass “Judenräte” oftmals bereits vor der Errichtung von Ghettos eingesetzt wurden (Michman in Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos, Vol I, 2010, XXXIX; Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIII; Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 177).
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Für die Erstellung der Encyclopedia of Camps and Ghettos des USHMM wurden Ghettos im Kern als Orte definiert, an denen die Deutschen Juden sammelten (“In essence, a ghetto is a place where the Germans concentrated Jews”, Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIII). Als wesentliche Anhaltspunkte für ein Ghetto wurden hierbei Anweisungen deutscher Stellen an Juden angesehen, in bestimmte Teile einer Stadt oder eines Dorfes zu ziehen, wo zu leben nur Juden erlaubt war, aber auch das Sammeln von Juden aus umliegenden Orten (Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIII f). Allerdings genügte es auch, dass bestehende “jüdische” Wohngebiete zu Ghettos erklärt wurden (Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIV). Darüber hinaus werden Ghettos gegenüber Arbeits- und anderen Lagern abgegrenzt (Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIII).
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Auf die Definition Deans – wenn auch mit offensichtlichen Abweichungen – beruft sich Lehnstaedt, der Ghetto bezeichnet “als (1) einen separierten, explizit begrenzten Wohnbezirk, in dem Juden leben mussten und der ihnen in einem Vorgang der ‘Ghettoisierung’ zugewiesen worden war; (2) Nichtjuden durften dort nicht wohnen, während (3) den Juden das Verlassen unter Strafe untersagt war” (Lehnstaedt in Hensel/Lehnstaedt, Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, 2013, 11, 13 f, unter ausdrücklichem Hinweis auf Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIII), der jedoch an anderer Stelle betont, dass diese Definition auf “fast” alle Ghettos zutreffe, weshalb der Einzelfall unbedingt zu prüfen sei (Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung, 2011, 30, unter Hinweis auf Dean, Der Holocaust in der Sowjetunion – Vortrag zum Symposium, 6). Demgegenüber gehört zur historisch-fachlichen Definition nach Benz die vorgebliche Selbstverwaltung durch “Judenälteste” und “Judenrat” sowie die Absicht, Juden zu manipulieren durch die Einweisung in keineswegs selbst gewählte Wohnbezirke, durch Zwangsarbeit und Hunger (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24). Vor dem Hintergrund, dass Juden während der ganzen Besatzungszeit gezwungen wurden, ihre Wohnungen zu verlassen und woanders unterzukommen, wird teilweise sogar verlangt, dass von einem Ghetto erst gesprochen werden solle, wenn die Mehrheit der Juden eines Ortes in einem Viertel konzentriert war und Aufenthaltszwängen unterlag (Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39; ders in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 162).
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Darüber hinaus ergeben auch die Aussagen zu Entwicklung und Funktion des nationalsozialistischen Ghettos in der aktuellen historischen Fachliteratur ein heterogenes Bild. Nach Benz wurden Ghettos zunächst in rudimentärer Gestalt der “Judenhäuser” im Deutschen Reich, dann als Orte der Konzentration jüdischer Bevölkerung im eroberten Polen errichtet. Sie hätten der Internierung, Ausbeutung und Vernichtung gedient und seien oft Plätze von Massakern gewesen. Zugleich hätten sie als Arbeitskräftereservoir und Produktionsstätten für die Rüstung fungiert (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24 und 28; zur Arbeitskräfteausbeutung vgl auch Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLVI). Ökonomische Gründe wie die Ausbeutung der Arbeitskraft hätten dabei im Widerstreit mit den ideologischen Zielen der Verelendung, gezielter Deportation und, dies betont Benz, schließlich der Vernichtung gestanden (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24), selbst wenn sich ihre Zweckrationalität oft erst in der Rückschau erschließe (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24; vgl auch Gutman/Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, Bd I, 1989, 535, Stichwort Ghetto). Obwohl mindestens die Hälfte aller ermordeten Juden Europas eine Zeit lang unfreiwillig in einem Ghetto lebte (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 35; Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39, 41; ders in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 185), begegnet die Interpretation der Errichtung von Ghettos als allgemeines Phänomen einer vorbereitenden Phase der totalen Vernichtung jedoch auch Kritik (vgl Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 29; Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 184). Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass die Shoa das Ergebnis eines offenen historischen Prozesses gewesen sei (Zarusky, Gutachten für das SG Lübeck in dem Rechtsstreit S 21 R 381/13 – beim BSG anhängig unter B 13 R 4/20 R – S 5 unter Bezug auf Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 1990, Bd 1, 56). So habe sich der Vernichtungsprozess zwar nach einem feststehenden Schema entfaltet, gleichwohl sei er aber keinem grundlegenden Plan entsprungen. 1933 habe kein Bürokrat voraussagen können, welche Art von Maßnahmen man 1938 ergreifen würde, noch sei es 1938 möglich gewesen, den Ablauf des Geschehens im Jahr 1942 vorauszusehen. Der Vernichtungsprozess sei eine Schritt für Schritt erfolgende Operation gewesen und der beteiligte Beamte habe selten mehr als den jeweils folgenden Schritt überschauen können (Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 9. Aufl 1999, Bd 1, 56).
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Schließlich werden verschiedene Typen von Ghettos unterschieden. So führt Pohl aus, es habe von Mauern umgebene und bewachte – sogenannte geschlossene Ghettos – gegeben (Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39). Dieser Typ sei jedoch auf wenige große Städte beschränkt gewesen. Die Regel hätten die “offenen Ghettos” gebildet, deren bauliche Begrenzung sich auf vorhandene Mauern oder Gebäudewände beschränkt habe (Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39, 40; ders in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 176 f, 185; vgl Michman in Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos, Vol I, 2010, XXXVIII) und deren Grenzen oft nur durch Schilder markiert gewesen seien (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24; Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIV). Ferner werden “Arbeitsghettos” als dritte Kategorie benannt, die zumeist aus anderen Ghettos hervorgegangen seien, in denen nach Massakern vor allem an Arbeitslosen, Alten und Kindern fast nur noch Arbeiter und Arbeiterinnen, zT mit ihren Familien, verblieben seien (Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39, 40; ders in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 184 f; Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLV, spricht hier von “remnant ghetto” oder “Restghetto”).
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Bereits diese von der Geschichtswissenschaft beschriebene Vielgestaltigkeit des “Ghettos” im nationalsozialistischen Einflussbereich legt es nahe, ihr bei der juristischen Auslegung des Begriffs Ghetto iS des ZRBG durch ein weites Begriffsverständnis Rechnung zu tragen.
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2. Für ein solches weites Verständnis des Begriffs Ghetto iS von § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG spricht auch die Normhistorie des ZRBG.
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Die Verabschiedung des ZRBG erfolgte in Reaktion auf die Ghetto-Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.6.1997 – 5 RJ 66/95 – BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15; Urteil vom 21.4.1999 – B 5 RJ 48/98 R – SozR 3-2200 § 1248 Nr 16; Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 61/98 R – SozR 3-5070 § 14 Nr 2; Urteil vom 23.8.2001 – B 13 RJ 59/00 R – SozR 3-2200 § 1248 Nr 17), wonach auch die bis dahin regelmäßig als Zwangsarbeit qualifizierte Arbeit in einem Ghetto eine von den Merkmalen der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit bestimmte versicherungspflichtige Beschäftigung sein kann (Gesetzentwürfe der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP bzw PDS, BT-Drucks 14/8583 S 1, 5 bzw BT-Drucks 14/8602 S 1, 5).
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Vieles spricht dafür, dass dem Gesetzgeber bei der Verabschiedung des ZRBG im Jahr 2002 das Bild des geschlossenen Ghettos Łódź vor Augen stand. So wird in den Entwurfsbegründungen mehrfach auf dieses Ghetto und das dies betreffende Urteil des BSG vom 18.6.1997 (5 RJ 66/95 – BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15) Bezug genommen. Zudem wird in den Gesetzentwürfen (BT-Drucks 14/8583 S 5 bzw BT-Drucks 14/8602 S 5) auch das BSG-Urteil vom 23.8.2001 (B 13 RJ 59/00 R – SozR 3-2200 § 1248 Nr 17) zum Ghetto Reichshof ausdrücklich erwähnt, zu dem dem Urteil allerdings nähere Umstände nicht zu entnehmen sind. Auch in den im Rahmen der zweiten und dritten Beratung der eingebrachten Gesetzentwürfe im Deutschen Bundestag am 25.4.2002 zu Protokoll gegebenen Reden der Abgeordneten Nolte (CDU/CSU), Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Dr. Schwaetzer (FDP), Dr. Seifert (PDS) sowie der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Mascher (BT-Plenarprotokoll 14/233, 23279 ff) wird vorwiegend das Ghetto Łódź erwähnt. Allerdings verwies der Abgeordnete Deligöz darüber hinaus auf die schrecklichen Zustände, unter denen “die Menschen leben mussten, die von den Nazis ins Getto gepfercht wurden, in Warschau, in Lodz und an vielen anderen Orten” (BT-Plenarprotokoll 14/233, 23280).
44
Ebenfalls zur sog Ghetto-Rechtsprechung gehört das BSG-Urteil vom 14.7.1999. Dies betraf den “jüdischen Wohnbezirk Krenau”, der ausweislich der Entscheidungsgründe zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht geschlossen war (B 13 RJ 61/98 R – SozR 3-5070 § 14 Nr 2, juris RdNr 2). Obwohl dieses Urteil weder in den Gesetzentwürfen noch in den Ausschussdrucksachen oder den zitierten Reden erwähnt wurde, sollte das ZRBG offensichtlich auch für solche “offenen Ghettos” gelten. Es darf unterstellt werden, dass der Gesetzgeber die veröffentlichte einschlägige Rechtsprechung des BSG bis zur Verabschiedung des ZRBG vollständig zur Kenntnis genommen hatte. Hätte das ZRBG auf Sachverhalte wie den nichtgeschlossenen Wohnbezirk Krenau keine Anwendung finden sollen, so wäre ein eindeutiger Hinweis hierauf zumindest in den Materialien zu erwarten gewesen. Insoweit fehlt jedoch jedweder Anhaltspunkt.
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Darüber hinaus beschränkte sich der Gesetzgeber des ZRBG nicht auf die Kodifizierung der Ghetto-Rechtsprechung, sondern erweiterte in mehrfacher Weise deren Reichweite (vgl BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 26). Um die Zahlung von Renten aus diesen Beitragszeiten zu ermöglichen, werden durch dieses Gesetz, unabhängig von der Anwendbarkeit der Reichsversicherungsgesetze oder des FRG (hierzu ausführlich BSG im Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 24 ff), Beitragszeiten begründet durch die Fiktion der Beitragszahlung für Zeiten der freiwilligen Beschäftigung während des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto des nationalsozialistischen Einflussbereichs. Darüber hinaus gelten die fingierten Beiträge – soweit eine Leistungserbringung ins Ausland erfolgen soll – als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet. Erst dies ermöglicht – ggf unter Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten wie zB Ersatzzeiten wegen Verfolgung (§ 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI) – die Auszahlung der Renten an Anspruchsberechtigte im Ausland. Zugleich ergänzt das ZRBG – wie in § 1 Abs 2 ZRBG ausdrücklich angeordnet – die rentenrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG vom 22.12.1970, BGBl I 1846), wodurch die Anwendung der dort zugunsten von Verfolgten enthaltenen zusätzlichen Regelungen zu den allgemeinen Vorschriften des SGB VI ermöglicht wird (Gesetzentwürfe der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP bzw PDS, BT-Drucks 14/8583 S 6, bzw BT-Drucks 14/8602 S 6).
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Mit diesen Regelungen sollte “zugunsten von Verfolgten, die alle bereits das für die Regelaltersrente geltende Alter von 65 Jahren – teils erheblich – überschritten hatten, im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Neuland betreten [werden], wobei von bestimmten Grundsätzen sowohl im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten als auch der Erbringung von Leistungen daraus ins Ausland abgewichen” wurde. Insbesondere sollte es nicht darauf ankommen, “in welchem vom Deutschen Reich beherrschten Gebiet die Beitragszeiten zurückgelegt worden sind und in welchem Staat sich der Berechtigte aufhält […]. Die Zahlung der auf Ghetto-Beitragszeiten beruhenden Rentenansprüche ins Ausland wird auch ohne Bundesgebiets-Beitragszeiten ermöglicht” (Gesetzentwürfe der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP bzw PDS, BT-Drucks 14/8583 S 5, bzw BT-Drucks 14/8602 S 5). Dem hat die Rechtsprechung des BSG schon vor dem Inkrafttreten des ZRBG-ÄnderungsG im Jahr 2014 (BGBl I 952) ein Gebot zur einheitlichen Beurteilung von Ghetto-Beschäftigungen im Sinne des ZRBG entnommen, ohne Differenzierungen nach dem lokal anwendbaren Recht und unter Verzicht auf die unter normalen Lebens- und Arbeitsbedingungen seit jeher bestehenden Einschränkungen des rentenversicherungsrechtlichen Entgeltbegriffs (BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 26 ff; s hierzu auch die im Rahmen der zweiten und dritten Beratung des ZRBG am 25.4.2002 zu Protokoll gegebene Rede der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Mascher, wonach “unabhängig von der jeweiligen geographischen Lage des Gettos und den an diesen Orten jeweils gegebenen sozialrechtlichen Verhältnissen einheitliche Grundsätze für die Berechnung der Rente aus Getto-Beschäftigungszeiten Anwendung finden” sollten – BT-Plenarprotokoll 14/233, 23282). Gestützt hat es sich dabei auf die Feststellung, dass der Gesetzgeber, obwohl er davon ausgehen musste, dass die von der den Anlass zur Verabschiedung des ZRBG bildenden sog Ghetto-Rechtsprechung aufgestellten Kriterien nur in ganz wenigen Ghettos anzuwenden sein würden, eine unterschiedslose Regelung unabhängig von lokal anwendbarem Recht, Ghetto-Größe und -Struktur geschaffen hat (BSG Urteil vom 2.6.2009
– B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, juris RdNr 28; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 28).
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Der in der Rechtsprechung des BSG postulierte weite Ghetto-Begriff des ZRBG als einer unterschiedslosen Regelung unabhängig vom lokal anwendbaren Recht, Ghetto-Größe und -Struktur, kann spätestens mit dem ZRBG-ÄnderungsG vom 15.7.2014 (BGBl I 952) als in den gesetzgeberischen Willen aufgenommen gelten. Obwohl die Urteile vom Juni 2009 im Entwurf der Bundesregierung zum ZRBG-ÄnderungsG ausdrücklich in Bezug genommen werden (BT-Drucks 18/1308 S 1, 7), war der Ghetto-Begriff als solcher – soweit aus den Materialien erkennbar – im Gesetzgebungsprozess kein Beratungsgegenstand. Gleichwohl wurde der sachliche Anwendungsbereich des ZRBG in räumlicher Hinsicht erweitert, indem dieser durch Änderungen des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG auf Zeiten der Beschäftigung auch in Ghettos ausgedehnt wurde, die zwar nicht in einem Gebiet lagen, das vom Deutschen Reich besetzt oder in dieses eingegliedert war, das aber dennoch dem nationalsozialistischen Einfluss unterworfen war, wie zum Beispiel die Slowakei oder Rumänien (BT-Drucks 18/1308 S 9). Die ohnehin vom ZRBG erfasste Vielfalt der Ghettostrukturen wurde hierdurch nochmals gesteigert.
48
Die durch das ZRBG-ÄnderungsG erfolgte ausdrückliche Angleichung des sachlich-räumlichen Anwendungsbereichs des ZRBG an die Formulierung des § 1 Abs 1 der Anerkennungsrichtlinie (BT-Drucks 18/1308 S 9) ist ebenfalls ein deutlicher Hinweis auf einen weiten Ghetto-Begriff des Gesetzgebers. Diese von Anfang an alle Gebiete des nationalsozialistischen Einflussbereichs erfassende Richtlinie hatte die Bundesregierung am 1.10.2007 (BAnz 2007, 7693) in Reaktion auf die damals sehr hohe Ablehnungsquote bei Anträgen nach dem ZRBG erlassen. Sie ermöglichte eine pauschale Einmalzahlung unter gegenüber dem ZRBG wesentlich erleichterten Voraussetzungen zunächst an Verfolgte, die keinen Anspruch nach dem ZRBG hatten (Joswig, WzS 2019, 318 f; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Sachstand, Das Ghettorentengesetz und die Anerkennungsrichtlinie, WD 6 – 3000 – 136/16, 6; BMF, Kabinett beschließt Neufassung der Anerkennungsrichtlinie; abrufbar unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/kabinett-beschliesst.html, letzter Aufruf 24.3.2020; vgl zu den Hintergründen Harwardt/v Miquel in: Justizministerium des Landes NRW , Sozialgerichtsbarkeit und NS-Vergangenheit, 2016, S 211, 226 f; Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung, 2011, 25 f). Zur Umsetzung der Anerkennungsrichtlinie wurde unter Federführung des BMF eine mit der Deutschen Rentenversicherung abgestimmte Liste von Ghettos und der Zeitdauer ihrer Existenz erarbeitet, die nicht nach “offenen” und “geschlossenen” Ghettos oder Zeiten vor und nach einer Schließung differenziert (abrufbar unter:
https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/BMF-Ghettoliste.pdf, letzter Aufruf 24.3.2020). An dieser Liste orientiert sich auch die Praxis der Rentenversicherungsträger zum ZRBG, die ebenfalls keine solche Differenzierung vornimmt (vgl Schnell, RVaktuell 2014, 268, 270; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE, BT-Drucks 18/6493 S 4, 7). Dies konnte dem Gesetzgeber nicht verborgen geblieben sein.
49
Wesentlicher Gegenstand des ZRBG-ÄnderungsG war eine weitere Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen des Renten- bzw Sozialverwaltungsverfahrensrechts zugunsten der NS-Verfolgten. Hierdurch wurde es möglich, dass diese entgegen § 44 Abs 4 SGB X bereits ab dem 1.7.1997 und nicht nur für vier Jahre rückwirkend von der im Juni 2009 erfolgten Rechtsprechungsänderung profitieren konnten. Zusammen mit den hierzu eingeräumten Wahlmöglichkeiten und Auszahlungsregelungen wird hieran deutlich, welch hohen Stellenwert das “Interesse der ehemaligen Ghettobeschäftigten an einer angemessenen Würdigung ihrer Ghettoarbeit in der gesetzlichen Rente” (BT-Drucks 18/1308 S 9) für den Gesetzgeber nunmehr einnimmt. Dies verbietet es, gerade vor dem Hintergrund des schon in den Urteilen des BSG vom Juni 2009 postulierten Gebots der einheitlichen Beurteilung von Ghetto-Beschäftigungen (vgl BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 29), den sachlichen Anwendungsbereich des ZRBG auf Sachverhalte zu beschränken, die dem landläufigen Bild eines Ghettos als (abgeschlossenem) Wohnbezirk entsprechen. Dadurch ließe sich der historisch nachgewiesenen Vielgestaltigkeit und Ungleichzeitigkeit des Ghettoisierungsprozesses (vgl oben unter I.1.d) in dem nunmehr normierten Gebiet nicht angemessen Rechnung tragen.
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3. Einen weiten Ghettobegriff verlangen auch Sinn und Zweck des ZRBG. Mit diesem Gesetz soll es Verfolgten ermöglicht werden, für die Beschäftigung während des Zwangsaufenthalts in einem vom Deutschen Reich – ggf nur aufgrund des nationalsozialistischen Einflusses – zu verantwortenden Ghetto eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung zu erlangen (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 26; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 30; vgl auch BSG Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 63). Auf die Art des Entgelts, Geringfügigkeitsgrenzen oder den Auszahlungsweg kommt es dabei nicht an (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8). Um diesen Zweck zu verwirklichen wurde – wie oben dargelegt (s oben unter A.I.2.) – eine unterschiedslose Regelung unabhängig von lokal anwendbarem Recht, Ghetto-Größe und -Struktur geschaffen (BSG Urteil vom 2.6.2009
– B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 28; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 28) und diese Regelung mit dem Ersten ZRBG-Änderungsgesetz über die vom Deutschen Reich besetzten oder in dieses eingegliederten Gebiete hinaus auf den gesamten nationalsozialistischen Einflussbereich ausgedehnt. Angesichts der bereits beschriebenen Ungleichzeitigkeit und Vielgestaltigkeit der Ghettoisierung (vgl oben I.1.d) kann dem Zweck des Gesetzes nur durch eine Auslegung des Begriffs Ghetto ausreichend Rechnung getragen werden, die alle seine denkbaren Erscheinungsformen innerhalb dieses Gebietes erfasst. Gleichzeitig muss sie geeignet sein, auch frühen Stadien des Prozesses zunehmend verstärkter und letztlich auf die Auslöschung vor allem der jüdischen Bevölkerung Europas gerichteter Terrormaßnahmen gerecht zu werden, wenn Verfolgte unter einem Ghetto vergleichbaren Umständen Arbeiten verrichteten.
51
Historiker gehen heute davon aus, dass im deutschen Herrschaftsgebiet während des Zweiten Weltkriegs 1100 bis 1200 Ghettos existierten, überwiegend auf polnischem, baltischem und sowjetischem Boden. Für Polen wird ihre Zahl mit rund 600 angegeben (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 27 f; Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39, 40 f, jeweils unter Hinweis auf Angaben von Dean; Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 185; in der Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos werden etwa 1140 Ghettos aufgelistet, Michman, aaO, Vol I, 2010, XIV; ders, Angst vor den Ostjuden, 2011, 19). In der zur Umsetzung der Anerkennungsrichtlinie geschaffenen und bis heute fortgeschriebenen Ghetto-Liste des BMF sind zurzeit sogar 1472 Orte erfasst (abrufbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Oeffentliche_Finanzen/Vermoegensrecht_und_Entschaedigungen/BMF-Ghettoliste.pdf, letzter Aufruf 28.2.2020). Die Zahl der von Historikern identifizierten Ghettos liegt damit erheblich über derjenigen von Orten, bei denen auch die deutsche Besatzungsmacht von einem Ghetto oder “jüdischem Wohnbezirk” sprach (Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39; vgl Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 166; zu Bedeutungsvielfalt und -wandel des Begriffs “Ghetto” während der NS-Zeit Michman in Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos, Vol I, 2010, XVI ff; ders, Angst vor den Ostjuden, 2011, 166 ff).
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Ghettos hatten nicht nur ganz unterschiedliche Strukturen, sie waren auch von der Dauer ihrer Existenz her nicht vergleichbar (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 25 f; Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 184 f). Ein allgemeiner Befehl zur Errichtung von Ghettos ist nicht überliefert (allg Ansicht; zB Gutman/Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, Bd I, 1989, 535, Stichwort Ghetto). Anders als Konzentrationslager unterstanden sie keiner zentralen Leitung. Sie waren lokalen SS- und Polizeidienststellen untergeordnet und hatten regional unterschiedliche Erscheinungsformen, ohne einer erkennbaren politischen und administrativen Logik zu folgen (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24; vgl Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors Bd 9, 2009, 161, 165 f; Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, S XLIII, XLVI; Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 94 f; vgl auch Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung, 2011, 29 f).
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Das öffentliche Bild des Ghettos ist geprägt durch den hermetischen Abschluss gegen die nichtjüdische Umwelt, wie in den Ghettos Warschau und Łódź. Auf diese großen Ghettos in Polen hat sich zunächst auch die historische Forschung konzentriert (Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 162 ff; Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung, 2011, 30); die umfassenden Kenntnisse über diese Orte haben das vorherrschende Verständnis des Begriffs “Ghetto” in der Forschungsliteratur und das allgemeine Bild des Holocaust in der Bevölkerung bestimmt (Michman in Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos, Vol I, 2010, XIII f; ders, Angst vor den Ostjuden, 2011, 161). Demgegenüber wird – wie oben bereits ausgeführt – heute davon ausgegangen, dass “offene Ghettos” die Regel waren. Diese Ghettos lagen häufig am Rand von Kleinstädten und waren zum Land hin offen; im Westen Polens gab es auch Dorfghettos (Pohl in Zarusky, Ghettorenten, 2010, 39, 40; ders in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 185). Eine nur partielle Konzentration von Juden in den großen Städten ist auch aus den ländlichen Gebieten des sog “Reichskommissariats Ostland” (auf dem Gebiet des Baltikums und von Teilen Weißrusslands) bekannt. Dort wurden die Juden, die die erste Tötungswelle überlebt hatten, aus Dörfern und Kleinstädten entweder in großstädtische Ghettos verbracht oder am Ort belassen, wo man sie in kleine improvisierte “Judenviertel” zwang (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 28; vgl Dean in USHMM Encyclopedia of Camps and Ghettos, Vol II/A, 2012, XLIV).
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Auch wenn in offenen Ghettos Mauern fehlten, herrschte dort keine Freizügigkeit. Zugleich war der Zutritt für Nichtjuden verboten (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 25). Die Ausweglosigkeit des Ghettos ergab sich nicht nur aus der deutschen Überwachung, sondern auch aus dem Umstand, dass außerhalb für Juden eine sichere Zuflucht nicht vorhanden war. Die nichtjüdische Bevölkerung verhielt sich insbesondere in der ersten Phase deutscher Besatzung oft “abweisend” (Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 27 f; vgl hierzu aus nicht fachhistorischer Sicht auch Müller, Anm zu OLG Stuttgart Beschluss vom 26.4.1951 – EGR 111 – RzW 1951, 238, 239).
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4. Auch die systematische Einordnung des ZRBG zwingt dazu, diesen historischen Erkenntnissen durch einen weiten Ghettobegriff Rechnung zu tragen.
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Mit dem ZRBG hat der Gesetzgeber Teile des Rentenversicherungsrechts entschädigungsrechtlich überlagert. Unter Anwendung der für das Entschädigungsrecht entwickelten Auslegungsgrundsätze (hierzu sogleich) ist daher für das ZRBG ein maximal weiter Ghetto-Begriff zugrunde zu legen, der sich gerade noch in den Grenzen dessen bewegt, was nach dem bisherigen juristischen Sprachgebrauch und vor dem Hintergrund aktueller geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse als Ghetto infrage kommen könnte. Dies sind letztlich alle abgrenzbaren Orte, die Juden und anderen Gruppen von Verfolgten innerhalb des nationalsozialistischen Einflussbereichs zwangsweise zum Wohnen und regelmäßigen Aufenthalt zugewiesen waren und an denen eine entgeltliche Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss iS von § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 ZRBG gleichwohl noch möglich war. Weiterer qualifizierender Merkmale, wie der Einrichtung einer speziellen jüdischen (Pseudoselbst-)Verwaltung (“Judenrat”) und eines Ordnungsdienstes (“Ghetto-Polizei”) und einer jüdischen Arbeitsorganisation (“jüdisches Arbeitsamt”) (Binne/Schnell, DRV 2011, 11, 16) bedarf es hingegen ebenso wenig, wie über die Aufenthaltsbeschränkung hinausgehender internierungsähnlicher Wohn- und Lebensumstände (so aber zB LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.12.2006 – L 13 RJ 112/04 – juris RdNr 37; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 28.1.2008 – L 8 RJ 139/04 – juris RdNr 29). Auch Reste einer urbanen Struktur sowie die überwiegende Unterbringung im Familienverband (Binne/Schnell, DRV 2011, 11, 16) sind nicht zwingend notwendig – die Abgrenzung gegenüber Arbeits- und Konzentrationslagern erfolgt dem aufgezeigten Gesetzeszweck entsprechend anhand des Merkmals der Freiwilligkeit verrichteter Arbeiten.
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Das ZRBG schließt eine Lücke an der Schnittstelle des Rechts der Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung – nur diese umfasst der persönliche Anwendungsbereich – und des Rentenrechts, indem es den Schaden ausgleicht, den Verfolgte dadurch erleiden, dass sie für die während des Aufenthalts im “Ghetto” freiwillig verrichtete Arbeit keine Rentenleistungen erhalten. Dementsprechend ist die Anwendung des ZRBG ausgeschlossen, soweit für diese Zeiten bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird (§ 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG). Häufig konnten aufgrund solcher Arbeit – zB wegen fehlender Entgeltlichkeit iS der Reichsversicherungsgesetze – bereits keine Beitragszeiten erworben werden. Lagen aufgrund solcher Arbeit – bis zur sog Ghetto-Rechtsprechung des BSG meist nicht zuerkannte – Beitragszeiten vor, so konnten hieraus an die häufig im Ausland lebenden und/oder nicht mindestens dem deutschen Sprach- und Kulturkreis zugehörigen Berechtigten regelmäßig keine Renten gezahlt werden (vgl §§ 110 ff SGB VI; § 1 FRG iVm §§ 1, 4 BVG). Der Ausgleich eines solchen Schadens nach anderen Regelungen war bis zum Inkrafttreten des ZRBG nicht möglich. Insbesondere das BEG entschädigt nur Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen sowie im beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen (§ 1 Abs 1 BEG). Eine Leistungsberechtigung nach dem Gesetz über die Errichtung einer Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” (vom 2.8.2000, BGBl I 1263) besteht nur für Zwangsarbeiter (§ 11 Abs 1 Satz 1 Nr 1 des Gesetzes), also gerade nicht aufgrund der vorliegend in Frage stehenden freiwilligen Arbeit.
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Durch das ZRBG werden somit Rentenansprüche begründet, die außerhalb der historischen Sondersituation einer Ghettobeschäftigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung ausgeschlossen wären. Die mit dem Verzicht auf grundlegende Elemente des Versicherungspflicht- und Leistungsrechts verbundene rentenrechtliche Privilegierung stellt funktionell einen Ersatz für eine an sich gebotene Leistung nach dem sozialen Entschädigungsrecht dar (Joswig, WZS 2019, 316, 318; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, Sachstand, WD 6- 3000 – 049/16, Besondere Wartezeitregelung für Berechtigte nach dem Ghettorentengesetz unter Beachtung des Gleichbehandlungsgebots, S 6; Binne/Schnell, DRV 2011, 12, 13). Dies verdeutlichen auch die – im Rahmen der zweiten und dritten Beratung der eingebrachten Gesetzentwürfe im Deutschen Bundestag am 25.4.2002 zu Protokoll gegebenen Reden von Abgeordneten der an den Entwürfen beteiligten Fraktionen (BT-Plenarprotokoll 14/233, 23279 ff): Die Abgeordnete Nolte (CDU/CSU) sprach davon, dass “eine bestehende Lücke bei der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts geschlossen” werden sollte. Die Abgeordnete Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) begrüßte, dass “mit dem Getto-Renten-Gesetz … endlich eine weitere Lücke im Entschädigungsrecht geschlossen” werde und sah das Ziel dieses Gesetzes darin, bestehende “rentenrechtliche Hürden für Personen, die von den Nazis in ein Ghetto gezwungen wurden und dort in dieser Zwangssituation, um überleben zu können, einer entlohnten Beschäftigung nachgingen” zu beseitigen. Die Abgeordnete Dr. Schwaetzer (FDP) wies darauf hin, dass durch dieses Gesetz “eine Rechtslücke geschlossen wird, die durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erst offensichtlich gemacht worden ist”. “Die Grundsatzdebatte über die Bewertung der Arbeit in einem Ghetto” sei “in einer sehr pragmatischen Weise positiv beendet” worden. Der Abgeordnete Dr. Seifert (PDS) betonte, dass mit diesem Gesetz “eine neue, dringend gebrauchte Regelung der Rente von Beschäftigten in einem Ghetto auf den Weg gebracht worden ist”. Schließlich wies auch die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Mascher darauf hin, dass mit diesem Gesetz “eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung” geschlossen werden solle. Auch im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung stimmten die Mitglieder aller Fraktionen “darin überein, dass mit der Gesetzesinitiative endlich eine Lücke bei der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts geschlossen würde” (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung , BT-Drucks 14/8823 S 5).
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Das ZRBG als “neuartiger Bestandteil des Rechts der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts” (BSG Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 63) ist daher trotz seiner Verankerung im Rentenrecht materiell-rechtlich als dieses überformende Entschädigungsregelung zu betrachten (vgl bereits BSG Urteil vom 16.5.2019 – B 13 R 37/17 R – SozR 4-1200 § 59 Nr 2 RdNr 32). Deshalb sind bei seiner Anwendung die in der Rechtsprechung des BSG für das Entschädigungsrecht entwickelten Auslegungsgrundsätze zu beachten (vgl zum Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22.8.1949 – Verfolgtengesetz – bereits
BSG Urteil vom 26.6.1959 – 1 RA 118/57 – BSGE 10, 113, juris RdNr 9;
BSG Urteil vom 16.9.1960 – 1 RA 38/60 – BSGE 13, 67 = SozR Nr 4 zu § 1248 RVO, juris RdNr 10; BSG Urteil vom 6.9.1962 – 1 RA 154/57 – BSGE 17, 283 = SozR Nr 6 zu VerfolgtenG Allg vom 1949-08-22, juris RdNr 13; zum WGSVG vgl BSG Urteil vom 28.2.1984 – 12 RK 50/82 – SozR 5070 § 9 Nr 7, juris RdNr 15). Danach gebührt dem Prinzip der Wiedergutmachung der Vorrang gegenüber dem Grundsatz der Wahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems. Es darf deshalb eine eben noch mögliche Lösung gewählt werden – und ihr gebührt der Vorzug -, die dazu führt, das verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen (BSG Urteil vom 16.9.1960 – 1 RA 38/60 – BSGE 13, 67 = SozR Nr 4 zu § 1248 RVO, juris RdNr 10; Joswig, WZS 2019, 316, 318).
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5. Andere systematische Gesichtspunkte stehen einem weiten Begriffsverständnis im Rahmen des ZRBG nicht entgegen. Dies gilt sowohl für die norm- und gesetzesimmanente Betrachtung als auch mit Blick auf andere Normzusammenhänge, in denen der Begriff des Ghettos Verwendung findet.
61
Die Anordnung der Geltung des ZRBG für “Verfolgte in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben”, lässt es zwar zunächst als naheliegend erscheinen, sich zur Bestimmung des Begriffs “Ghetto” an § 43 Abs 2 BEG zu orientieren (vgl BSG Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 84). Zentrales Kriterium ist dort insoweit die Freiheitsentziehung. Sie muss insbesondere durch polizeiliche oder militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto erfolgt sein. Auch der rentenversicherungsrechtliche Ersatzzeittatbestand des § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI knüpft ausdrücklich an eine Freiheitsentziehung oder -einschränkung iS von §§ 43, 47 BEG an (vgl hierzu Fichte in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 250 RdNr 225, der mangels einschlägiger sozialgerichtlicher Rspr auf die entschädigungsrechtliche Literatur und Rspr Bezug nimmt).
62
Allerdings definiert der Begriff “Verfolgte” nur den persönlichen Anwendungsbereich des ZRBG. Verfolgte sind nach § 1 BEG Personen, die – wie insbesondere Juden – ua aus Gründen der (vermeintlichen) Rasse durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden sind und hierdurch einen Schaden an den im BEG genannten Rechtsgütern erlitten haben (stRspr; zB
BSG Urteil vom 14.12.2006 – B 4 R 29/06 R – BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 56; zB
BSG Urteil vom 19.5.2009 – B 5 R 14/08 R – BSGE 103, 161 = SozR 4-2600 § 250 Nr 6, RdNr 17; BSG Urteil vom 19.5.2009 – B 5 R 26/06 R – juris RdNr 15; BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 14). Es ist nicht erkennbar, dass die Eigenschaft als Verfolgter im Kontext des § 1 ZRBG gerade auf dem Ghettoaufenthalt beruhen müsste. Insbesondere kann aus der Bestimmung über den persönlichen Anwendungsbereich in § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG nicht gefolgert werden, dass dieses Gesetz nur auf Verfolgte anwendbar sein soll, die einen Freiheitsschaden iS des § 43 Abs 2 BEG wegen Zwangsaufenthalt in einem (geschlossenen) Ghetto erlitten haben. Vielmehr kann die Verfolgten-Eigenschaft nach dem BEG an eine Vielzahl von Rechtsgutsverletzungen anknüpfen, zB auch an eine Freiheitsbeschränkung durch Tragen eines Judensterns in der Zeit vom 30.1.1933 bis 8.5.1945 (§ 47 Abs 1 BEG).
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Auch § 2 Abs 2 ZRBG steht einer weiten Auslegung des Ghetto-Begriffs nicht entgegen. Nach der Entwurfsbegründung hierzu soll mit dem ZRBG die Zahlung von Rentenleistungen ins Ausland ausschließlich für Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto ermöglicht werden. Ein “wertmäßiges Mitziehen” von Beitragszeiten, die außerhalb des Ghettos erworben worden sind, soll deshalb nach Abs 2 ausgeschlossen sein (BT-Drucks 14/8583 S 6 zu § 2). Folglich unterscheidet das ZRBG zwischen Beschäftigungen während des Ghetto-Aufenthalts und solchen davor bzw danach (vgl LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.12.2006 – L 13 RJ 112/04 – juris RdNr 33). Dies sagt aber nichts darüber aus, wann eine Beitragszeit “außerhalb des Ghettos” erworben worden ist. Vielmehr setzt diese Unterscheidung den Begriff des Ghettos als Ort des zwangsweisen Aufenthalts iS des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG gerade voraus.
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II. Ob die Lebensumstände des Klägers während des streitigen Zeitraums noch unter den vorstehend umrissenen weiten Ghetto-Begriff zu subsumieren sind, kann letztlich dahinstehen. Denn der freiwilligen entgeltlichen Beschäftigung während des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto sind Fälle gleichzustellen, in denen Betroffene unter einem Ghetto vergleichbaren Freiheitsbeschränkungen lebten und eine solche Beschäftigung ausübten. Insoweit enthält § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG eine planwidrige Regelungslücke (hierzu 1.), die in Hinblick auf den mit diesem Gesetz bezweckten Ausgleich nationalsozialistischen Unrechts und die dargestellte entschädigungsrechtliche Überlagerung des Rentenversicherungsrechts (hierzu vorstehend I.4.) im Wege der Analogie durch Erstreckung der Rechtsfolgen des ZRBG auch auf solche Sachverhalte zu schließen ist (hierzu 2.).
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Eine Analogie ist die Übertragung der Rechtsfolge eines geregelten Tatbestandes auf einen ihm ähnlichen, allerdings ungeregelten Sachverhalt. Sie setzt voraus, dass das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, er wäre im Zuge einer Interessenabwägung, bei der er sich von denselben Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vgl zB BSG Urteil vom 23.7.2014 – B 12 P 1/12 R – SozR 4-2500 § 251 Nr 2 RdNr 21 ff mwN; BSG Urteil vom 18.6.2014 – B 3 P 7/13 R – SozR 4-3320 Art 45 Nr 1 RdNr 14 ff mwN; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 10. Aufl 2018, RdNr 889; Grüneberg in Palandt, BGB, 78. Aufl 2019, Einleitung RdNr 48, 55 mwN). Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
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1. § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG enthält eine planwidrige Regelungslücke, indem der sachliche Anwendungsbereich des Gesetzes auf Beschäftigungen während des Aufenthalts in einem Ghetto beschränkt worden ist.
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Wie bereits dargelegt, deuten Entstehungsgeschichte und Materialien zum ZRBG darauf hin, dass dem Gesetzgeber im Jahr 2002 das Bild des geschlossenen Ghettos Łódź vor Augen stand (vgl oben I.2.). Dieses entsprach zugleich dem öffentlichen Bild eines Ghettos und dem damals vorherrschenden Verständnis des Begriffs “Ghetto” in der Forschungsliteratur (vgl oben I.1.d). Jedoch ist das Wissen um Ghettos und Ghettoisierung seither durch die jüngere geschichtswissenschaftliche Forschung in rechtlich wesentlicher Hinsicht erweitert worden.
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Seit der Jahrtausendwende, also etwa zeitgleich mit der Verabschiedung des ZRBG ist die Erforschung der Lebensverhältnisse in den Ghettos des nationalsozialistischen Einflussbereichs stärker in den Fokus der Geschichtswissenschaft gerückt (Zarusky in Hensel/Lehnstaedt, Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, 2013, 407, 410 ff). So erschienen nicht nur die großen lexikalischen Werke “Yad Vashem Encyclopedia of Ghettos” in 2009 bzw 2010 und der Ghetto-Band der “Encyclopedia of Camps and Ghettos” der USHMM in 2012, sondern eine Vielzahl weiterer Publikationen (einen Überblick bietet Zarusky, ebd, 407, 411, Fußnote 15). Auch die deutsche Geschichtswissenschaft befasste sich vermehrt mit den Opfern des Holocaust (vgl Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Sachstand, Dauer von Ghettos im Nationalsozialismus, WD 6 – 3000 – 025/16, 4), was auch durch Gutachten in Streitigkeiten über Ansprüche nach dem ZRBG stimuliert wurde (Lehnstaedt in Hensel/Lehnstaedt, Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos, 2013, 11, 15 f, in Fußnote 13 mit Nachweisen zu Arbeiten über jüdisches Leben vor der Vernichtung auch außerhalb von Ghettos; auf die Bedeutung der von den Sozialgerichten beauftragten Gutachten für die historische Aufarbeitung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Ghettos verweist auch Bieback in einem demnächst erscheinenden Beitrag, VSSAR 2020, 109, 112). Nach Pohl (Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 164) wurde erst seit den 1980er Jahren damit begonnen, die Ghettopolitik der Besatzungsverwaltungen genauer zu untersuchen. Seit der Öffnung der osteuropäischen Archive ab 1989 erschien eine Reihe von Studien zur Rolle der Ghettos in der nationalsozialistischen Judenpolitik (zB Browning, Die Entfesselung der “Endlösung”. Die Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, 2003) und im Kontext einzelner besetzter Regionen. Die detaillierte Erforschung einzelner Ghettos aus allen Perspektiven, sowohl aus Sicht der deutschen Besatzungskräfte als auch aus Sicht der jüdischen Insassen, setzte ebenfalls erst in den letzten Jahren der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ein. Der italienische Historiker Corni war – laut Pohl – der erste, der den Stand der Forschung zusammenfasste (Corni, Hitler’s Ghettos, Voices from a Beleaguered Society, 1939-1944, 2002); die übergreifende Analyse der Ghettos durch Michman (auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Angst vor den Ostjuden, 2011) biete die neuesten Erkenntnisse (Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 164). Jedoch konstatiert Lehnstaedt noch 2011 eine Forschungslücke in Bezug auf das Phänomen Ghetto, dessen sich die Forschung bislang nur in geringem Maße angenommen habe, weshalb kleine sowie selbst mittelgroße Ghettos oft noch einer Erkundung bedürften (Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung, 2011, 30).
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Auch Michman stellt als Ergebnis einer historiographischen Analyse heraus, dass die extensiven Kenntnisse von einigen wenigen Ghettos in Polen entscheidenden Einfluss auf das vorherrschende Verständnis des Begriffs “Ghetto” in der Forschungsliteratur und auf das allgemeine Bild des Holocaust in der Bevölkerung gehabt hätten. Demgegenüber verweist er auf die große Zahl der Ghettos, von deren Existenz man nunmehr wisse; darauf, dass viele von ihnen außerhalb Polens existierten, und auf die Tatsache, dass selbst in Polen viele von ihnen relativ spät im Verlauf des Prozesses (erst ab 1941 und nicht schon 1939 und 1940) eingerichtet worden seien (Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 161). Eine seiner zentralen Erkenntnisse ist, dass die Ghettoisierung im besetzten Polen weder systematisch noch vollständig erfolgte. Rein zahlenmäßig wurden die meisten Ghettos 1941 und 1942 errichtet; in Dutzenden von Ortschaften – hauptsächlich kleineren Städten und Dörfern mit geringer oder mäßiger jüdischer Bevölkerung (bis zu 15 000 Juden) – lebten die Juden aber weiterhin wie bisher in ihren Häusern, ohne dass dort je ein Ghetto errichtet worden wäre, während dagegen häufig, wenn auch nicht immer, ein Judenrat eingesetzt wurde (Michman, Angst vor den Ostjuden, 2011, 97; zu “Dorfghettos” und “kleinen improvisierten Judenvierteln” vgl auch Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 161, 185, bzw Benz in Hansen/Steffen/Tauber, Lebenswelt Ghetto, 2013, 24, 28).
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Das heute vorliegende Wissen um die Ungleichzeitigkeit und Diversität des Ghettoisierungsprozesses im nationalsozialistischen Einflussbereich stand dem Gesetzgeber des Jahres 2002 noch nicht zur Verfügung. Daher bestand damals keine Notwendigkeit, Regelungen im Hinblick auf Verfolgte zu treffen, die außerhalb eines Ghettos unter vergleichbaren Beschränkungen leben und jede Möglichkeit wahrnehmen mussten, durch eine freiwillige entgeltliche Beschäftigung, wie sie § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 ZRBG umschreibt, etwas zu essen zu erhalten und so ihr Überleben zu sichern. Zwar hat der Gesetzgeber im Jahr 2014 Änderungen am ZRBG vorgenommen, also nach Veröffentlichung der neuen historisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse. Allerdings hatte er letztere dabei ersichtlich nicht im Blick. Zumindest war eine hierauf bezogene, bewusste Abgrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs, die einer Analogie hier entgegenstehen könnte, damit offensichtlich nicht verbunden (vgl oben I.2.).
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2. Die hierdurch bestehende Regelungslücke ist in Hinblick auf den mit diesem Gesetz bezweckten Ausgleich nationalsozialistischen Unrechts und die dargestellte entschädigungsrechtliche Überlagerung des Rentenversicherungsrechts (hierzu vorstehend I.4.) im Wege einer Analogie durch Erstreckung der Rechtsfolgen des ZRBG auch auf solche Sachverhalte zu schließen.
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Dieses Unrecht besteht darin, dass keine Rentenanwartschaften entstanden, obwohl die verrichteten “Ghetto-Arbeiten” unter anderen Umständen im Rahmen von rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungen geleistet worden wären und dann in aller Regel Rentenanwartschaften begründet hätten. Das ZRBG als neuartiger Bestandteil des Rechts der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts will einen Ausgleich hierfür schaffen. Dies verlangt die Gleichstellung vergleichbarer Zwangssituationen auch außerhalb eines Ghettos, die sich an den Besonderheiten der vom ZRBG in den Blick genommenen Situationen ausrichtet.
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Diese Zwangssituationen sind dadurch geprägt, dass die Verfolgten im Prozess zunehmend verstärkter Terrormaßnahmen in ihrem räumlichen Lebensbereich einem Aufenthaltszwang unterlagen, der es gleichwohl zuließ, eine von ihnen ausgeübte Tätigkeit noch als freiwillige Beschäftigung zu qualifizieren. Dies war die grundlegende Neuerung der sog Ghetto-Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.6.1997 – 5 RJ 66/95 – BSGE 80, 250 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 15; Urteil vom 21.4.1999 – B 5 RJ 48/98 R – SozR 3-2200 § 1248 Nr 16; Urteil vom 14.7.1999 – B 13 RJ 61/98 R – SozR 3-5070 § 14 Nr 2; Urteil vom 23.8.2001 – B 13 RJ 59/00 R – SozR 3-2200 § 1248 Nr 17), auf die die Schaffung des ZRBG zurückgeht (hierzu oben I.2.). Die Beschäftigung, deren rentenrechtliche Berücksichtigung das ZRBG bezweckt, ist mithin zwischen Zwangsarbeit – auf der einen Seite – und freiwilliger Arbeit, die unter noch fortbestehender Restfreizügigkeit verrichtet wird – auf der anderen Seite – zu verorten. Abgrenzungsmerkmal zu letzterer ist das Ausmaß der Freizügigkeitsbeschränkung, unter der die betroffenen Verfolgten in ihrem räumlichen Lebensbereich zum Tätigkeitszeitpunkt zu leiden hatten. Da im Mittelpunkt des ZRBG die rentenrechtliche Berücksichtigung einer aus eigenem Willensentschluss zustande gekommenen Beschäftigung steht und nicht der über das BEG entschädigungsfähige Freiheitsschaden, muss die Freizügigkeitsbeschränkung allerdings nicht die Intensität einer Freiheitsentziehung iS des § 43 Abs 2 und 3 BEG erreichen. Sie erfordert jedoch eine Intensität des Aufenthaltszwangs, die in ihrer konkreten Wirkung ein Verlassen des räumlichen Lebensbereichs nach freiem Belieben nahezu ausschließt und damit deutlich über die Beschränkungen hinausgeht, die einzeln oder kumulativ mit einer Kennzeichnungspflicht, einer nächtlichen Ausgangssperre und dem grundsätzlichen Verbot der gemeindeüberschreitenden Wohnsitzverlegung verbunden sind. Denn das ZRBG unterscheidet bewusst zwischen Verfolgungssituationen, denen die gesamte, insbesondere jüdische Bevölkerung im nationalsozialistischen Einflussbereich ausgesetzt war, und den spezifischen Zwangssituationen wie in einem Ghetto. Ob Verfolgte in ihrem räumlichen Lebensbereich zum Zeitpunkt der Tätigkeit einem die Gleichstellung mit einem Ghettoaufenthalt rechtfertigenden intensiven Aufenthaltszwang unterlagen, ist Tatfrage und von den Instanzgerichten anhand konkreter Anhaltspunkte im Einzelfall festzustellen. Dabei bedarf es einer besonderen Sorgfalt in Bezug auf die Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen und bei der Begründung der Gleichstellung.
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III. Ausgehend hiervon hat der Kläger nach den vom LSG mit Bindungswirkung für das Revisionsgericht (§ 163 SGG) festgestellten Tatsachen im streitigen Zeitraum unter Umständen gelebt, die dem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto gleichstehen.
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Zum Zeitpunkt der deutschen Besetzung im September 1939 lebten nach den nicht mit Revisionsrügen angefochtenen und für den Senat bindenden Feststellungen des LSG in S. etwa 100 Einwohner, darunter drei Familien jüdischen Glaubens mit insgesamt 21 Personen. Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Truppen waren sie – wie auch der Kläger – gezwungen, Armbinden mit dem Davidstern zu tragen und sich als Juden kenntlich zu machen. Für sie, wie auch für die jüdischen Bewohner anderer Ortschaften in der Umgebung der Stadt Mielec, war der dortige Judenrat zuständig. Die jüdischen Bewohner von S. verblieben während des streitigen Zeitraums in ihren angestammten Häusern oder es wurden ihnen andere einzelne Häuser zugewiesen, in denen sie leben mussten. Eine Konzentration der jüdischen Bevölkerung in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk erfolgte ebenso wenig wie eine Kennzeichnung der Häuser. Aus diesen durften sie ohne Genehmigung nicht wegziehen. Zugleich unterlagen sie einem verwaltungsrechtlichen sowie tatsächlichen Zwang zum Aufenthalt in ihrer Wohnung, aus der sie sich jedenfalls nachts – wegen eines zumindest insoweit bestehenden Ausgehverbots – nicht fortbewegen durften und tagsüber aufgrund der Anfeindungen der “volksdeutschen Bevölkerung” faktisch nicht fortbewegen konnten. Sie waren in ihrer Bewegungsfreiheit auf die Wohnungen bzw Häuser beschränkt und durften diese nicht verlassen, es sei denn, dass sie zur Arbeit gingen oder zum Zwecke unerlässlicher Besorgungen. Dabei standen sie unter Kontrolle entweder der deutschen Besatzungstruppen oder der “volksdeutschen Bevölkerung”, mit der sie “Tür an Tür” lebten. Diese haben eine wirksame Kontrolle ausgeübt und darauf geachtet, dass Juden die ihnen auferlegten Verbote nicht überschritten. Kontakte zwischen der jüdischen und der deutschen und polnischen Bevölkerung waren auf ein Minimum reduziert, früher bestehende Kontakte brachen ab.
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Ein Verlassen seines räumlichen Lebensbereichs – des Hauses in S. – nach freiem Belieben war dem Kläger nach diesen Feststellungen nicht möglich. Der Aufenthalt dort wurde durch die wirksame Kontrolle der deutschen Besatzungstruppen und der “volksdeutschen Bevölkerung” erzwungen. Ausnahmen galten nur für den Weg zur Arbeit oder zum Zwecke unerlässlicher Besorgungen. Schon im Januar 1940 ähnelten die den Kläger treffenden Freizügigkeitsbeschränkungen jenen, denen im Zeitverlauf immer größere Teile der jüdischen Bevölkerung in den sukzessive eingerichteten “jüdischen Wohnbezirken” unterlagen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Lebensverhältnisse insgesamt bereits ebenso unmenschlich und elend waren, wie dies aus Ghettos überliefert ist (vgl hierzu zB Pohl in Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd 9, 2009, 171 f, 177 ff). Denn die Intensität der Freizügigkeitsbeschränkungen und insbesondere des Aufenthaltszwangs ging im streitigen Zeitraum deutlich über die Beschränkungen hinaus, die zu Beginn des streitigen Zeitraums aufgrund der von den nationalsozialistischen Stellen erlassenen Vorschriften für die jüdische Bevölkerung des sog Generalgouvernements allgemein bestanden. Historisch belegt sind Vorschriften und Weisungen, wonach allgemeine Beschränkungen, vor allem in der bereits 1939 für das Generalgouvernement angeordneten Verpflichtung der Juden, eine weiße Armbinde mit “Zionsstern” zu tragen, bestanden (Verordnung über die Kennzeichnungspflicht von Juden
vom 23.11.1939, VOBl GG 61) sowie in Verboten, Wege, Straßen und Plätze in der Zeit von 21.00 bis 5.00 Uhr zu betreten oder den Wohnsitz ohne Genehmigung über Gemeindegrenzen hinweg zu verlegen. Verstöße waren zunächst mit “verschärftem langdauernden Arbeitszwangsdienst” bedroht (Erste Durchführungsvorschrift vom 11.12.1939, VOBl GG 231, zur Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernement vom 26.10.1939, VOBl GG 6). Ab Oktober 1941 galt offiziell die Todesstrafe für “Juden, die den ihnen zugewiesenen Wohnbezirk unbefugt verlassen” (Dritte Verordnung über Aufenthaltsbeschränkungen im Generalgouvernement vom 25.10.1941, VOBl GG 595). Die Errichtung von “Judenräten” hatte Generalgouverneur Frank bereits am 28.11.1939 angeordnet (Heim/Herbert/Kreikamp/Möller/Pohl/Weber, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd 4 Polen September 1939-Juli 1941, 2001, Nr 46).
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IV. Auch die weiteren Voraussetzungen nach § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG liegen vor.
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Der Kläger übte im streitigen Zeitraum nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt iS des ZRBG aus. Er putzte Wohnungen, führte auf dem Gelände des deutschen Militärs Reinigungsarbeiten durch und wusch Militär-Lkw.
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Diese Beschäftigung war aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen. Insoweit ist es unschädlich, dass für Juden im Generalgouvernement aufgrund der Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernement vom 26.10.1939 (VOBl GG 6) ein genereller Arbeitszwang bestand. Denn iS des ZRBG ist eine Beschäftigung auch dann aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen, wenn eine Arbeitspflicht bestand, der Betroffene aber nicht zu einer bestimmten Arbeit gezwungen wurde, sondern das “Ob” und “Wie” der Arbeit bestimmen konnte (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 17 ff; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 19 ff). Zugleich steht das damalige Alter des Klägers von anfangs zehn Jahren der Annahme einer aus eigenem Willensentschluss aufgenommenen Beschäftigung iS des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG nicht entgegen (vgl BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 139/08 R – BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5, RdNr 24).
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Diese Beschäftigung wurde auch iS des § 1 Abs 1 Satz 1 Buchst b ZRBG gegen Entgelt ausgeübt, weil der Kläger als Gegenleistung Extraportionen Essen erhielt. Entgelt iS dieser Vorschrift ist jede Entlohnung, nicht nur in Geld, sondern auch in Form von Nahrungsmitteln oder entsprechenden Gutscheinen. Weitergehende Erfordernisse (zB Einhaltung einer Mindesthöhe; Miternährung einer anderen Person) müssen nicht erfüllt werden (BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 139/08 R – BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5, RdNr 27 ff; BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 25 ff; BSG Urteil vom 3.6.2009 – B 5 R 26/08 R – BSGE 103, 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 8, RdNr 25 ff).
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Schließlich lag S. während des streitigen Zeitraums auf dem Gebiet des nach dem deutschen Überfall auf Polen mit Wirkung vom 26.10.1939 errichteten sog Generalgouvernements (“Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete” vom 12.10.1939, RGBl I 2077) und somit unzweifelhaft im Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs.
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Anhaltspunkte dafür, dass für die streitige Zeit bereits eine nach § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG Ghetto-Beitragszeiten ausschließende Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird, hat das LSG nicht festgestellt. Insbesondere ist nicht festgestellt, dass diese Zeiten bei einer möglicherweise aus einem solchen System der USA bezogenen Rente berücksichtigt worden wären. Solches wird auch von der Beklagten nicht geltend gemacht.
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V. Aufgrund der Ghetto-Beitragszeiten ergibt sich für den Kläger der Anspruch auf eine Regelaltersrente ab 1.7.1997, die in die USA zu zahlen ist.
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Die Regelaltersrente des Klägers beginnt am 1.7.1997, obwohl der Kläger erstmals am 16.3.2010 bei der Beklagten die Gewährung einer Regelaltersrente beantragte. Insoweit greift zu seinen Gunsten die Fiktion des § 3 Abs 1 Satz 1 ZRBG, wonach ein Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als am 18.6.1997 gestellt gilt. Aufgrund des Inkrafttretens des ZRBG zum 1.7.1997 ergibt sich dadurch ein Rentenbeginn an diesem Tage (vgl BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 55 ff).
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Der Wohnsitz und gewöhnliche Aufenthalt des Klägers in den USA stehen einem Anspruch auf Regelaltersrente auch mit Rücksicht auf die §§ 110 ff SGB VI nicht entgegen. Soweit man dies nicht unmittelbar § 2 Abs 1 Nr 2 ZRBG sowie dem hiermit verfolgten Zweck, gerade auch die Zahlung der Renten an Berechtigte im Ausland zu ermöglichen, entnehmen will (vgl BSG Urteil vom 2.6.2009 – B 13 R 81/08 R – BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, RdNr 50 ff), ergibt sich dies jedenfalls aus den Regelungen des Abkommens vom 7.1.1976 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der USA über Soziale Sicherheit (DASVA, BGBl II 1358). Dies genießt hier Anwendungsvorrang vor den Regelungen des nationalen Rechts (§ 30 Abs 2 SGB I; § 110 Abs 3 SGB VI) und führt zu einer Gleichstellung US-Staatsangehöriger, die sich wie der Kläger gewöhnlich in den USA aufhalten, mit deutschen Staatsangehörigen (Art 4 Abs 1 DASVA iVm Art 3 Buchst a und Art 2 Abs 1 Buchst a DASVA). Diese Gleichstellung bewirkt, dass sich der Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Altersrente nach §§ 35 Satz 1, 235 Abs 1, Abs 2 Satz 1 SGB VI richtet. Die Anwendbarkeit des ZRBG, welches nicht in Art 2 Abs 1 Buchst a DASVA genannt wird, folgt aus dem Schlussprotokoll zum DASVA (BGBl II 1976, 1368, 1370 in der Fassung des Zusatzabkommens vom 6.3.1995, BGBl II 302, 305), das nach Art 21 DASVA Bestandteil des Abkommens ist. Nach Nr 9 (zuvor Nr 8) dieses Schlussprotokolls werden bei der Anwendung des Abkommens deutsche Rechtsvorschriften, soweit sie für Personen, die wegen ihrer politischen Haltung oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung geschädigt worden sind, günstigere Regelungen enthalten, nicht berührt. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass innerstaatliches deutsches Wiedergutmachungsrecht, wozu auch das ZRBG gehört, dem Abkommen vorgeht, soweit es günstigere Regelungen enthält (vgl Denkschrift zum DASVA, BT-Drucks 7/5210, S 19 zu Art 20 bis 24) und tatsächlich zur Anwendung gelangt.
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VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.