Sozialrecht

Anrechnung von Arbeitsentgelt mit familienbezogenen Bestandteilen als Hinzuverdienst auf eine Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 493/18

Datum:
5.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 20150
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
SGB IV § 14 Abs. 1
SGB VI (idF bis 30.6.2017) § 96a Abs. 1
SGB X § 45 Abs. 2 S. 2, 3 Nr. 3, § 50 Abs. 1

 

Leitsatz

Der Entgeltbegriff des § 14 SGB IV bietet keinen Anhalt, familienbezogene Entgeltbestandteile nicht als Arbeitsentgelt einzuordnen.

Verfahrensgang

S 6 R 254/17 2018-07-24 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.07.2018 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Instanzen.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Infolge des in der mündlichen Verhandlung vom 05.06.2019 abgegebenen Teilanerkenntnisses der Beklagten, das der Prozessbevollmächtigte der Klägerin angenommen hat, hat sich das Berufungsverfahren insoweit erledigt, als eine Rückforderung überzahlter Rente für die Monate März 2015, Oktober und November 2015 aus dem streitgegenständlichen Bescheid vom 10.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.03.2017 nicht mehr geltend gemacht werden kann. Bezüglich der Monate Oktober und November 2015 hatte die Beklagte bereits im sozialgerichtlichen Verfahren einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, weil die Beklagte fehlerhaft von einem Hinzuverdienst in den neuen Bundesländern bei anderen Hinzuverdienstgrenzen ausgegangen war und übersehen hatte, dass ab Oktober 2015 ein niedrigerer Hinzuverdienst zu berücksichtigen war. Die Rückforderung des Rentenbetrags für März 2015 wurde von der Beklagten nicht mehr aufrechterhalten, nachdem der Senat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hatte, dass die Klägerin eine korrigierte Gehaltsabrechnung erst im April 2015 erhalten haben dürfte und insoweit der der Beklagten obliegende Nachweis einer entsprechenden positiven Kenntnis bzw. grobfahrlässigen Unkenntnis der Klägerin im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X wohl schwierig werden könnte.
Im Übrigen – soweit die Beklagte mit dem Teilanerkenntnis vom 05.06.2019 dem Anspruch der Klägerin noch nicht entsprochen hat – ist die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.07.2018 begründet. Die Beklagte hat zu Recht mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 10.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.03.2017 den Rentenbescheid vom 27.04.2015 für die Monate April – September 2015 nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X aufgehoben und von der Klägerin nach § 50 Abs. 1 SGB X die Erstattung der überzahlten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung verlangt.
1. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt) mit Wirkung für die Zukunft oder auch für die Vergangenheit, soweit er rechtswidrig ist, nur unter den Voraussetzungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden. Er darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsaktes ist nach § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X in der Regel dann schutzwürdig, soweit der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte jedoch nicht berufen, soweit einer der Tatbestände des § 45 Abs. 2 S. 3 Nrn 1 bis 3 SGB X vorliegt.
Der Bescheid vom 27.04.2015, mit dem die Beklagte die Auszahlung der der Klägerin bereits dem Grunde nach mit Bescheid vom 03.12.2014 bestandskräftig zuerkannten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bewilligte, nachdem die Klägerin die Beklagte über eine Änderung ihrer Arbeitszeiten und daraus folgend des Hinzuverdienstes unter die relevanten Hinzuverdienstgrenzen ab März 2015 informiert hatte, war bereits bei Erlass rechtswidrig, weil die Klägerin einen anzurechnenden Hinzuverdienst im Sinne des § 96a SGB VI in der bis zum 30.06.2017 geltenden Fassung hatte, der zur Minderung des Zahlungsanspruches der Rente bei der Klägerin führte. Infolge der unterbliebenen Anrechnung von Hinzuverdienst ist es zur Überzahlung der Rente gekommen.
a. Die Klägerin hatte aufgrund des (zweiten) Rentenantrags vom 21.02.2014 von der Beklagten mit Bescheid vom 03.12.2014 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Zeit ab dem 01.09.2014 bewilligt bekommen, die aber wegen der damals unstreitigen Höhe des Hinzuverdienstes aus ihrer seit 01.07.2011 laufenden abhängigen Beschäftigung als Arzthelferin im L. Krankenhaus in S-Stadt nicht zur Auszahlung gelangte. Auf Antrag der Klägerin vom 12.03.2015 hat die Beklagte eine Verdienstauskunft des Arbeitgebers eingeholt, der für die Zeit ab dem 01.03.2015 nur noch ein Bruttoarbeitsentgelt von 1.210,39 € monatlich bescheinigte. Für den November 2015 war eine zu erwartende Einmalzahlung in Höhe von (zusätzlich) 1.087,02 € angekündigt. Die Beklagte hat auf der Grundlage dieser Erklärung eine Neuberechnung der Hinzuverdienstgrenze vorgenommen und kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin mit dem bescheinigten Bruttoarbeitsentgelt von 1.210,39 € die Hinzuverdienstgrenzen nach § 96a SGB VI ab dem 01.03.2015 nicht überschreite. Infolgedessen wurde der Rentenbescheid vom 27.04.2015 erlassen und die Rente an die Klägerin ausgezahlt.
Im Rahmen der von der Beklagten eingeleiteten Überprüfung der Rentenberechtigung im März 2016 bescheinigte der Arbeitgeber der Klägerin aber ein regelmäßiges Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von monatlich 1.227,29 €, mit Ausnahme Oktober 2015 mit 1.183,22 € (unterhalb der Hinzuverdienstgrenze) und für November 2015 mit 2.276,66 € (nicht anrechenbar wegen der Verdiensthöhe im Oktober 2015 sowie zulässiger Überschreitung des Höchstbetrages in Höhe des doppelten Betrages). Die von März 2015 bis einschließlich September 2015 erhaltenen Bruttovergütungen in Höhe von 1.227,19 € haben die für die Klägerin relevante Hinzuverdienstgrenze in Höhe von 1.212,10 € für die Zahlung der Rente in voller Höhe überschritten, so dass insoweit in diesem Zeitraum der Klägerin nicht der volle Rentenbetrag zugestanden hätte. Die Hinzuverdienstgrenze für die Rente in Höhe der Hälfte hätte 1.475,49 € betragen, so dass der Klägerin in der fraglichen Zeit die Hälfte des Rentenzahlbetrages zugestanden hätte.
b. Gemäß § 96a Abs. 1 SGB VI in der bis zum 30.06.2017 geltenden, hier anzuwendenden Fassung wird eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur geleistet, wenn die Hinzuverdienstgrenze nicht überschritten wird. Sie wird nicht überschritten, wenn das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen aus einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit oder vergleichbares Einkommen im Monat die in Absatz 2 genannten Beträge nicht übersteigt, wobei ein zweimaliges Überschreiten um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der Hinzuverdienstgrenze nach Absatz 2 im Laufe eines jeden Kalenderjahres außer Betracht bleibt. § 96a Abs. 1 SGB VI enthält in Satz 4 eine Einschränkung dahingehend, dass Geldleistungen vom Pflegebedürftigen an die Pflegeperson und Entgelt in einer Einrichtung an behinderte Menschen kein Arbeitsentgelt in diesem Sinne sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Frage des Hinzuverdienstes im Sinne des § 96a SGB VI auf die für alle Zweige der Sozialversicherung geltenden Regelungen in § 14 SGB IV sowie auf die Regelungen der SvEV zurückzugreifen (BSG, Urteil vom 10.07.2012 – B 13 R 85/11 R; BSG, Urteil vom 06.09.2017 – B 13 R 33/16 R Rdnr 25 m.w.N., veröffentlicht bei juris).
Nach § 14 Abs. 1 SGB VI sind Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. Arbeitsentgelt sind aber auch Zahlungen des Arbeitgebers, denen ein Anspruch auf eine konkrete Arbeitsleistung nicht gegenübersteht, z. B. Entgeltfortzahlung an Feiertagen, im Krankheitsfall sowie bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation nach §§ 2, 3, 3a und 9 Entgeltfortzahlungsgesetz – EFZG – (BSG, B 13 R 33/16 R, Rdnr. 27 m. w. N.).
Der gesetzliche Wortlaut von § 14 Abs. 1 SGB IV enthält somit keinerlei Einschränkung des Arbeitsentgeltbegriffs im Hinblick auf die von einem potentiellen Arbeitgeber gegebenenfalls mit einer Zahlung bezweckte Zielrichtung. Maßgebend ist lediglich, dass die Zahlung des Entgelts deshalb erfolgt, weil der Begünstigte in einem Beschäftigungsverhältnis zu einem Arbeitgeber steht (Fichte, in: Hauck/Noftz, SGB VI, 06/15, § 96a Rdnr 6).
Auch aus der auf der Ermächtigungsgrundlage des § 17 SGB IV erlassenen Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (SvEV) ergibt sich keine entsprechende Eingrenzung des Begriffs des Arbeitsentgeltes wegen einer bestimmten Zielsetzung der Zahlung.
c. Dies zugrunde gelegt ist in der hier noch streitigen Zeit von einem Hinzuverdienst der Klägerin in Höhe von 1.227,29 € auszugehen. Zum rentenversicherungsrechtlich zu berücksichtigenden Bruttoverdienst gehört sowohl der „Besitzstand Kinderanteil“ in Höhe von monatlich 85,98 € als auch die Zuwendungen des Arbeitgebers für Zusatzversorgungen im öffentlichen Dienst. Auch wenn beiden Zahlungen ein besonderer Zweck zugemessen werden könnte, wird die Zahlung durch den Arbeitgeber aufgrund des Umstandes erbracht, dass zwischen ihm und der Klägerin ein Beschäftigungsverhältnis besteht bzw. bestanden hat und kein anderweitiger Ausschlusstatbestand ersichtlich ist.
d. Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin und auch das SG im Hinblick auf den „Besitzstand Kinderanteil“ auf das Urteil des 4. Senats des BSG vom 23.08.2005 – B 4 RA 29/04 R Bezug nehmen, folgt dem der Senat nicht:
In dem vom BSG damals entschiedenen Fall ging es um die Frage, ob ein Gehaltsbestandteil, nämlich ein Ortzuschlag, bestehend aus einem Verheiratetenzuschlag und Kinderzuschlägen, als Einkommen bei einer Rente wegen Berufsunfähigkeit, die bereits seit 1988 bezogen wurde, angerechnet werden durfte. Eine Anrechnung von Einkommen auf die Berufsunfähigkeitsrente war im Zeitpunkt der Zuerkennung der Rente gesetzlich nicht vorgesehen, sondern wurde erst im Jahr 1996 mit einer entsprechenden Übergangsregelung in § 313 SGB VI für Bestandsrentner eingeführt. Insoweit ging es auch um die Frage, ob eine rechtlich wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X vorliegen könnte.
Das BSG kam in diesem Urteil ebenfalls zu der Erkenntnis, dass zur Frage, was Einkommen bzw. Hinzuverdienst im Sinne des § 96a SGB VI ist, auf die allgemeine Regelung des § 14 SGB IV abzustellen ist und dass der weite Entgeltbegriff des § 14 SGB IV keinen Anhalt biete, familienbezogene Entgeltbestandteile nicht als Arbeitsentgelt einzustufen (BSG, a.a.O., Rdnr 41 m. w. N.). Aus § 14 SGB IV hat sich für das BSG damals – so wörtlich in der Entscheidung – auch „keine Möglichkeit ergeben, die vom dortigen Kläger begehrte Aufteilung der Ortszuschläge in der Weise durchzuführen, dass sie in dem Umfang, in dem sie einem kinderlosen unverheirateten Arbeitnehmer zustehen würden, Arbeitsentgeltcharakter hätten, während der darüber hinaus gehende Anteil, den ein Verheirateter mit Kindern zusätzlich beanspruchen könnte, generell nicht als Arbeitsentgelt anzusehen“ sei. Das BSG stellte ausdrücklich fest, dass auch dieser erhöhte Anteil eine aus der Beschäftigung fließende Einnahme des Arbeitnehmers sei und damit Arbeitsentgelt.
Das BSG hat in der damaligen Entscheidung unter der Prämisse, dass eine Anrechnung von Hinzuverdienst nach § 96a SGB VI als „einzelanspruchsvernichtender Übersicherungseinwand“ ausgestaltet sei (BSG, a.a.O, Rdnr 35 unter Bezugnahme auf die Urteile vom 06.03.2003, B 4 RA 35/02 R und B 4 RA 8/02 R), angenommen, dass gleichwohl eine solche Übersicherung im Sinne der §§ 313, 96a SGB VI nicht vorliege, wenn das erzielte Arbeitsentgelt neben einer Grundvergütung auch „offen ausgewiesene Ehe- und/oder Kinderzuschläge als Lohnbestandteile ausweise“. Denn es sei bei jeder Anwendung des Arbeitsentgeltbegriffs des § 14 SGB IV das Verbot der Benachteiligung von Ehe und Familie (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – GG – iVm Art. 6 Abs. 1 GG) gegenüber Nichtverheirateten und/oder Kinderlosen zu beachten. Dies gebiete hier eine verfassungskonforme teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs des Begriffs des Arbeitsentgelts im Sinne der §§ 313, 96a SGB VI bei der Überschreitung der Hinzuverdienstgrenze. Andernfalls würde der vom Kläger repräsentierte Personenkreis verfassungswidrig gegenüber Arbeitnehmern benachteiligt, die bei gleicher tarif- oder arbeitsvertraglicher Einstufung solche Zuschläge nicht erhalten und deshalb die Hinzuverdienstgrenzen nicht überschreiten würden. Dies wäre mit der Grundpflicht des Staates aus Art. 1 Abs. 3, 6 Abs. 1 GG unvereinbar (BSG, a.a.O., Rdnr 43). Das BSG hält in dieser Entscheidung aber weiter fest, dass §§ 313, 96a SGB VI nicht die Förderung von Ehe und Familie beträfen, sondern allein die Vermeidung einer Übersicherung des Versicherten, dass diese aber bereits dem „relativen Benachteiligungsverbot“ aus Art. 3 Abs. 1 GG widersprächen.
Der Senat hält diese Begründung – ebenso wie das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in seinem Urteil vom 27.01.2010 (Az L 1 R 92/09, juris) und das Sächsische Landessozialgericht in seinem Urteil vom 11.05.2009 (Az L 7 R 11/07, juris) – für nicht überzeugend, zumal das BSG seine Entscheidung noch auf „zumindest offen ausgewiesene ehe- und familienbezogene Leistungen“ im Rahmen des Arbeitsentgelts begrenzt hatte. Für den hier zu entscheidenden Fall ist dies allerdings nicht entscheidend.
Das LSG Niedersachsen-Bremen und das Sächsische LSG haben in ihren Entscheidungen bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich bei den Hinzuverdienstgrenzen nicht um staatlich vorgegebene, starre Grenzen handelt, sondern die Höhe der Hinzuverdienstgrenze sich auch an der individuellen Verdiensthöhe des Versicherten, nämlich an seinen individuell erzielten Entgeltpunkten orientiert (vgl. Fichte, in: Hauck/Noftz, SGB VI, Stand 06/2015, Rdnrn 45 ff. m. w. N.). Insoweit kann eine höhere Hinzuverdienstgrenze gegeben sein, wenn zuletzt vor Eintritt des Leistungsfalles über längere Zeit ein höheres Bruttoentgelt erzielt wurde, z. B. auch durch höhere Orts- und Familienzuschläge bei Verheirateten und Kindern. Darüber hinaus ist Zweck der in § 96a SGB VI geregelten Hinzuverdienstgrenzen nach zwischenzeitlich herrschender Meinung nicht der Schutz von Ehe und Familie oder ein zu beachtendes Gleichbehandlungsgebot bei Beschäftigten mit vergleichbaren Tarifverträgen, sondern zum einen die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung und deren Finanzierbarkeit, vor allem aber auch die Stärkung der Lohnersatzfunktion der Erwerbsminderungsrenten (BT-Drs. 13/2590 zu Nr. 5) sowie die Vermeidung einer Einkommenserzielung durch überobligationsmäßigen Einsatz eines erwerbsgeminderten Versicherten durch Arbeit auf Kosten seiner Gesundheit durch einen möglicherweise falschen Anreiz von Rente und nicht angerechnetem Erwerbseinkommen (Schumacher in: Kasseler Kommentar zur Sozialversicherung, Stand März 2019, § 96a SGB VI, Rdnr 2 m. w. N.; Dankelmann, in: Kreikebohm, SGB VI, 5. Aufl., 2017, § 96a SGB VI, Rdnr 2).
Im Hinblick auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG zum Schutz von Ehe und Familie und zum Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG, die vom 4. Senat zur Begründung der teleologischen Reduktion herangezogen wurden, verweist der Senat auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 12.03.1996 zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten (1 BvR 609/90 und 692/90 = BVerfGE 94,241), in der das BVerfG ausdrücklich festgestellt hatte, dass es nicht ausschließlich Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung sein könne, die Erwerbsnachteile von Erziehenden gegenüber Nichterziehenden auszugleichen, sondern dass dies Aufgabe des Gesetzgebers auf unterschiedlichen Bereichen sei, wie etwa im Steuerrecht, im Recht der Familienförderung, in der Schaffung von Betreuungseinrichtungen etc. Die Absicherung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung für Kinder, die nach Inkrafttreten des SGB VI im Jahr 1992 geboren wurden, war ein erster Schritt in die richtige Richtung bei nachweislich veränderten Erwerbsverläufen bei Frauen. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 28.06.2018 (Az B 5 R 12/17 R, veröffentlicht bei juris; vorgehend BayLSG vom 15.03.2017 – L 19 R 218/16, juris) im Rahmen der Frage der Neuregelung der sog. Mütterrente zum 01.07.2014 auf das Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1996 Bezug genommen und ebenfalls darauf hingewiesen, dass Art. 6 Abs. 1 GG eine wertentscheidende Grundsatznorm darstelle, die für den Staat die Pflicht begründe, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern. Allerdings sei der Staat nicht gehalten, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder jeden Unterhaltspflichtigen zu entlasten. Der Gesetzgeber sei aufgrund des Schutzauftrages aus Art. 6 Abs. 1 GG dazu verpflichtet, durch die Kindererziehung entstehende Benachteiligungen in der Alterssicherung von kindererziehenden Familienmitgliedern auszugleichen. Allerdings verfüge er dabei über einen nicht unerheblichen Gestaltungsrahmen, bei dem er nicht nur die jeweilige Haushaltslage und die finanzielle Situation der Rentenversicherung berücksichtigen dürfe, sondern auch über Jahrzehnte gewachsene und bewährte Prinzipien im komplexen System der gesetzlichen Rentenversicherung. Aus dem Verfassungsauftrag aus Art. 6 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip lasse sich zwar die allgemeine Pflicht des Staats zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen sei. Konkrete Folgerungen für einzelne Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen wäre, oder konkrete Ansprüche auf bestimmte staatliche Leistungen ließen sich daraus nicht ableiten. Insoweit bestehe vielmehr grundsätzlich Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (BSG, a.a.O., Rdnr 36 m.w.N.). Dieser gesetzgeberische Gestaltungsspielraum kann durch ein Gericht nicht ausgefüllt werden und gibt nach Auffassung des Senats auch keinen konkreten Handlungsrahmen zur Korrektur einzelner vermeintlicher Benachteiligungen im System der gesetzlichen Rentenversicherung.
Entscheidend für den Senat ist jedoch der eindeutige Wortlaut des § 14 SGB IV, der gerade keine Differenzierung zwischen Grund, Inhalt, Höhe und Zielsetzung einer im Beschäftigungsverhältnis gewährten Zahlung zulässt. Eine andere Betrachtung würde zu einer Vielzahl möglicher Vertragsgestaltungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien (gegebenenfalls zu Lasten der Solidargemeinschaft der gesetzlichen Rentenversicherung) und daraus folgend zu Einzelfallentscheidungen führen können, die die von § 14 SGB IV und der SvEV gewollte Klarheit des Begriffs des Arbeitsentgelts, der für alle Bereiche der gesetzlichen Sozialversicherung gilt, unterlaufen würde. Eine einschränkende Regelung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist vom Gesetzgeber auch trotz der Entscheidung des BSG im Jahr 2005 bisher nicht getroffen worden, mit Ausnahme der in § 96a Abs. 1 S. 4 SGB VI. Wesentlich ist für den Senat aber auch, dass die Entscheidung des BSG vom 23.08.2005 nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar ist, da es sich dort um einen Fall nach § 48 SGB X und einen sog. Bestandsrentner und Bezieher einer Berufsunfähigkeitsrente nach altem Recht gehandelt hat, dessen wirtschaftliche Erwartungshaltung durch langjährigen Rentenbezug ohne Einkommensanrechnung geprägt war und der erst im Jahr 2001 aufgrund einer Erweiterung der Anrechnungsvorschriften betroffen wurde und von entsprechenden Einkommenseinbußen infolge dieser für ihn neuen Hinzuverdienstregelung betroffen war und hiervor geschützt werden sollte.
e. Soweit allerdings der 13.Senat des BSG in seinem Urteil vom 06.09.2017 (B 13 R 33/16 R) ebenfalls im Wege einer teleologischen Reduktion zu dem Ergebnis gelangte, dass ein Zuschuss des Arbeitgebers zum Krankengeld als rentenschädlicher Hinzuverdienst außer Betracht zu bleiben hat, soweit er als nicht beitragspflichtiges Arbeitsentgelt gilt (unter Fortführung des Urteils des 13. Senats vom 20.11.2003 – B 13 RJ 43/02 R), ist diese Entscheidung auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragbar. Das BSG hat in diesem Fall entschieden, dass die Anrechnung eines (nach altem Tarifrecht zusätzlich jetzt freiwillig vom Arbeitgeber) gezahlten Zuschusses zum Krankengeld als Hinzuverdienst im Rahmen des § 96a SGB VI zusätzlich zu dem bereits berücksichtigten Bruttoarbeitsentgelt zu einer Schlechterstellung des Versicherten gegenüber Versicherten führt, die einen solchen Zuschuss nicht bekommen. In diesem Fall ging es allerdings nicht um die Anrechnung des tatsächlichen Bruttoentgelts während der ausgeübten Beschäftigung, sondern bei Bezug von Krankengeld als Entgeltersatzleistung, weil hier nicht die (niedrigere) Entgeltersatzleistung als Hinzuverdienst berücksichtigt wird, sondern das der Entgeltersatzleistung zugrundeliegende Bruttoarbeitsentgelt (§ 96a Abs. 3 und Abs. 4 SGB VI). Durch die weitere Anrechnung des Zuschusses zum Krankengeld (als freiwillige Leistung des Arbeitgebers) würde dem Versicherten mehr Entgelt als Hinzuverdienst angerechnet, als wenn er „normal“ im Beschäftigungsverhältnis Arbeitsentgelt erzielen würde, was gerade in der Zeit eines Entgeltausfalls durch Krankheit zusätzlich zum Wegfall der Erwerbsminderungsrente führen könnte. Insoweit ist diese Entscheidung des BSG für den Senat auch überzeugend und nachvollziehbar, begründet aber lediglich einen besonderen Ausnahmefall und beinhaltet gerade keinen vom Senat gegebenenfalls zu beachtenden Grundsatz, dass eine teleologische Reduktion stets zu prüfen und durchzuführen wäre, sobald die Zusammensetzung des Arbeitsentgelts den üblichen Rahmen verlassen würde und das Arbeitsentgelt familienbezogene Anteile aufweist.
Im vorliegenden, hier zu entscheidenden Fall geht es aber nicht um die Anrechnung von Entgeltersatzleistungen, sondern um die Anrechnung des Entgelts der Klägerin aus der laufenden Beschäftigung. Das im (noch) streitgegenständlichen Zeitraum von der Klägerin erzielte Arbeitsentgelt ist in Höhe von 1.227,29 € zugrunde zu legen und in vollem Umfang als Hinzuverdienst nach § 96a SGB VI zu berücksichtigen.
2. Die Klägerin kann sich – entgegen ihres Sachvortrags im Widerspruchsverfahren – auch nicht auf einen Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 S. 2 SGB VI berufen, weil ein solcher Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X ausgeschlossen ist. Nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X kann der Begünstigte nicht auf den Bestand eines Verwaltungsaktes vertrauen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Bescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach der gesetzlichen Wertung des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X dann vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Die Klägerin hatte aufgrund der Rentenbewilligung mit Bescheid vom 03.12.2014 positive Kenntnis davon, dass eine Anrechnung von Hinzuverdienst nach § 96a SGB VI erfolgt. Eine Rentenzahlung war infolge ihres damaligen Verdienstes nicht möglich. In diesem Bescheid waren die konkreten Hinzuverdienstgrenzen für die Klägerin ausdrücklich genannt worden. Die Klägerin hatte somit Kenntnis davon, in welchem Umfang sie ihre Erwerbstätigkeit reduzieren musste, um die Hinzuverdienstgrenzen zu unterschreiten. Sie hat dies mit ihrem Arbeitgeber offensichtlich ausgerechnet und die Beklagte sodann im März 2015 davon informiert und um Auszahlung der Rente gebeten. Der Senat unterstellt zugunsten der Klägerin, dass sie gegebenenfalls die weitere Überschreitung der Hinzuverdienstgrenzen erst im Monat April 2015 bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hat erkennen können, nachdem in den ihr vorliegenden korrigierten Gehaltsabrechnungen eindeutig ein höherer Betrag als Rentenversicherungs-Brutto ausdrücklich ausgewiesen war. Zwar besteht keine Verpflichtung der Klägerin, den Rentenbescheid vom 27.04.2015 umfassend auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Eine grob fahrlässige Unkenntnis ist allerdings anzunehmen, wenn der Adressat des Bescheides aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen hätte erkennen können, dass der zuerkannte Anspruch nicht in dieser Höhe besteht. Vorliegend ist dies der Fall. Denn die Fehlerhaftigkeit des Rentenbescheides musste der Klägerin mit ganz naheliegenden Überlegungen auffallen. Da in den Gehaltsabrechnungen sowohl ein steuerlicher Bruttobetrag in Höhe von 1.210,39 €, aber eben auch ein rentenversicherungsrechtliches Bruttoentgelt in Höhe von 1.227,29 € ausgewiesen war, hätte die Klägerin bei Anstrengung der ihr zumutbaren Sorgfalt zumindest diesen Widerspruch erkennen können und hätte die Beklagte darauf aufmerksam machen und um Klärung der Frage des Hinzuverdienstes bitten können. Dies hat die Klägerin nicht getan, obwohl sie selbst mit ihrem Arbeitgeber den Arbeitsvertrag entsprechend angepasst hat, um daneben die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung möglichst in voller Höhe beziehen zu können. Einen denkbaren Rechenfehler ihres Arbeitgebers muss sich die Klägerin unzweifelhaft zurechnen lassen. Der Arbeitgeber hat für die Klägerin den falschen Hinzuverdienst bestätigt. Die Beklagte ist erst bei der weiteren Überprüfung der Einkommensverhältnisse infolge der nun vom Arbeitgeber richtig mitgeteilten Entgelthöhen auf das weitere Überschreiten der Hinzuverdienstgrenzen nach § 96a SGB VI aufmerksam geworden.
3. Die Fristen nach § 45 Abs. 3 und Abs. 4 SGB X hat die Beklagte unzweifelhaft eingehalten. Der noch offene überzahlte Betrag ist von der Klägerin nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten.
Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.07.2018 aufzuheben, soweit die Beklagte nicht mit Teilanerkenntnis vom 05.06.2019 den Anspruch der Klägerin anerkannt hat, und die Klage gegen den Bescheid vom 10.05.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.03.2017 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das obsiegende Teilanerkenntnis zugunsten der Klägerin.
Die Revision wurde nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.


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