Sozialrecht

Anspruchsüberleitung, Erwerbsminderung, intendiertes Ermessen, Leistungsbewilligung, zweite Fristverlängerung

Aktenzeichen  S 46 SO 503/20

Datum:
4.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 56070
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 528
SGB XII § 19 Abs. 5, § 93

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25. Juli 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2019 wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 55.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie ist aber unbegründet, weil der strittige Bescheid dem Gesetz entspricht und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist.
1. Die Klagefrist wurde infolge der falschen Rechtsbehelfsbelehrungim Widerspruchsbescheid vom 14.10.2019 (Klage zum Sozialgericht Würzburg) am 13.10.2020 wegen § 66 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) rechtzeitig erhoben. Die Klage ist als isolierte Anfechtungsklage statthaft. Die Leistungsempfängerin wurde gemäß § 75 Abs. 2 SGG notwendig beigeladen; sie ist zugleich Alleinerbin ihres verstorbenen Ehemanns, so dass sich eine weitere Beiladung erübrigte. Es handelt sich um ein Verfahren nach § 197a SGG.
2. Da die beiden strittigen Bescheide den gesetzlichen Vorgaben von § 93 Abs. 1 SGB XII entsprechen, ist die Klage abzuweisen. Nach dieser Vorschrift kann ein Träger der Sozialhilfe durch schriftliche Anzeige an einen Dritten bewirken, dass ein Anspruch von leistungsberechtigten Personen, die Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII oder gleichzeitig nach dem Dritten oder Vierten Kapitel erhalten, gegenüber einem Dritten, der kein Leistungsträger im Sinne von § 12 SGB I ist, auf den Träger der Sozialhilfe übergeht. Der Anspruchsübergang erfolgt bis zur Höhe der Aufwendungen des Trägers der Sozialhilfe und er darf nur insoweit bewirkt werden, als bei rechtzeitiger Leistung des anderen entweder die Leistung nicht erbracht worden wäre oder in den Fällen des § 19 Abs. 5 SGB XII (höherer) Aufwendungsersatz bzw. in Fällen des § 92 Abs. 1 SGB XII ein (höherer) Kostenbeitrag zu leisten wäre.
a) Die strittigen Bescheide waren gemäß § 33 Abs. 1 SGB X hinreichend bestimmt. Dabei handelt es sich um eine materielle Voraussetzung (BSG, Urteil vom 16.05.2012, B 4 AS 154/11 R, dort Rn. 16). Es wurden sowohl der übergeleitete Anspruch auf Herausgabe der Schenkung des Wohnrechts eindeutig bezeichnet als auch mit § 93 SGB XII die Rechtsgrundlage der Überleitung und die Art der geleisteten Sozialhilfe als Hilfe zur Pflege. Damit sind entsprechend dem Urteil des Bay LSG vom 28.09.2017, L 8 SO 219/15, dort Rn. 42, in den strittigen Bescheiden alle wesentlichen Angaben enthalten. Soweit in einem Eilverfahren einmal die Bezifferung vergangener Leistungen gefordert wurde (Bay LSG, Beschluss vom 13.06.2013, L 8 SO 91/13 B ER, dort Rn. 40), hat sich diese Auffassung zu Recht nicht durchgesetzt. Es geht hier nicht um eine zwangsweise Durchsetzung eines bezifferten Anspruchs, sondern um einen Wechsel der Gläubigerposition. Eine Bezifferung der Leistungen im Einzelnen ist im konkreten Fall auch deshalb überflüssig, weil mit dem jeweiligen monatlichen Leistungsbetrag bei im Wesentlichen gleichbleibenden Verhältnissen die Größenordnung der erbrachten Leistungen feststand. Am 25.07.2018 war mit 136.400,- Euro an Sozialhilfeleistungen (44 Monate mal (900 + 2200)) der Schenkungswert von 55.000,- Euro offenkundig weit überschritten. Inzwischen sind aktuell Leistungen mit rund 203.000,- Euro (50 Monate zu je 900,- Euro für den Ehemann und aktuell 72 Monate zu je 2200,- Euro für die Beigeladene) erbracht worden. Aus demselben Grund kommt es auch nicht darauf an, ob Geschwister des Klägers geringfügige Unterhaltsleistungen an den Beklagten aufgrund von § 94 SGB XII ausgezahlt haben.
b) Die Beigeladene und ihr verstorbener Ehemann sind bzw. waren Inhaber eines Anspruchs gegen den Kläger auf Herausgabe eines Geschenks wegen nachfolgender Verarmung nach § 528 BGB. Sozialgerichte haben anlässlich einer Überleitung nach § 93 SGB X nur die sog. Negativevidenz des übergeleiteten Anspruchs zu prüfen, d.h. der Klage nur stattzugeben, wenn es offensichtlich ist, dass der übergeleitete Anspruch nicht besteht. Die Prüfung, ob dieser Anspruch tatsächlich besteht, ist den Zivilgerichten vorbehalten (BSG, Beschluss vom 25.04.2013, B 8 SO 104/12 B, dort Rn. 8; Bay LSG, Urteil vom 28.09.2017, L 8 SO 219/15, dort Rn. 46). Hier ist nicht offensichtlich, dass der Anspruch nach § 528 BGB nicht besteht. Die Behauptung des Klägers, er habe das Wohnrecht als Gegenleistung für den teuren Umbau der Wohnung für den geplanten Wiedereinzug beider Eltern erhalten, ist durch nichts belegt und auch die zeitliche Abfolge der Ereignisse spricht nicht dafür.
c) Nach zutreffender Meinung (Bay LSG, Urteil vom 25.11.2010, L 8 SO 136/10; Armbruster in Juris-PK SGB XII, § 93 Rn. 47 ff) kommt es auf die Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung für die Anspruchsüberleitung grundsätzlich nicht an.
Der Wortlaut von § 93 SGB XII fordert dies nicht. Auch die Bezeichnung als „Leistungsberechtigter“ ist nur der Nachfolger von „Hilfebedürftiger“ und beinhaltet keine Rechtmäßigkeitsprüfung. Ferner ist auf die Tatbestandswirkung einer bestandskräftigen Leistungsbewilligung zu verweisen. Es gibt auch keinen Grund, einen Beschenkten zu schonen, falls parallel eine Rücknahme einer Leistungsbewilligung gegenüber dem Leistungsberechtigten möglich wäre. Der Leistungsberechtigte hätte auch bei einer rechtswidrigen Leistungserbringung einen Wertezufluss erhalten, dessen Ausgleich der Leistungsträger fordern darf. Allenfalls in Fällen, in denen eine Bewilligung offensichtlich auf einem überwiegenden Fehler der Behörde beruht, erscheint es als denkbar, dem Beschenkten den Einwand zuzugestehen, dass er nicht wegen einer sinnlosen und auf Behördenverschulden beruhenden Leistung seine Schenkung zurückgeben muss. Für einen solchen Ausnahmefall gibt es hier keinen Anhaltspunkt.
Selbst wenn man der Gegenmeinung folgen würde, spräche hier nichts für eine Rechtswidrigkeit der Bewilligungen. Die Eltern des Klägers hatten kein Vermögen über den Freibetrag. Die Kleinstversicherungen waren aufgrund der Versicherungshöhe und der Laufzeit Sterbegeldversicherungen, die nicht anzurechnen waren (Grube/Wahrendorf, SGB XII-Kommentar, 6. Auflage 2018, § 90 Rn. 77 mit weiteren Nachweisen). Der Anteil am Wertpapierdepot I. war wertlos.
Der Kläger rügt auch, dass der Beklagte seinen Eltern zu Unrecht sogenannte erweiterte Hilfe nach § 19 Abs. 5 SGB XII nach dem Bruttoprinzip (volle Erbringung der Leistung gegenüber dem Leistungsträger und Zahlung des einzusetzenden Einkommens an den Sozialhilfeträger) erbracht habe. Bereits die Änderung des Wortlautes von § 29 BSHG zu § 19 Abs. 5 SGB XII spricht dagegen, dass für erweiterte Hilfe ein „begründeter Fall“ vorliegen muss, weil diese Formulierung fallen gelassen wurde. Außerdem ist auch hier auf die Bestandskraft der Bewilligungen mit dem Bruttoprinzip zu verweisen. Im Urteil vom 20.09.2020, B 8 SO 20/11 R, dort Rn. 16, führte das BSG aus, dass die Sozialhilfe gegen Aufwendungsersatz nach § 19 Abs. 5 SGB XII einen tatsächlichen aktuellen Bedarf voraussetzt, der ohne Eingreifen des Sozialhilfeträgers nicht gedeckt werden würde. Dies schließt zunächst eine erweiterte Hilfe aus, wenn der Bedarf vollständig mit eigenem Einkommen oder Vermögen gedeckt werden kann. Ein striktes Nettoprinzip folgt daraus nicht. Ein Beschenkter kann eine erweiterte Hilfe nach § 19 Abs. 5 SGB XII ohnehin nicht rügen, weil er keinesfalls in eigenen Rechten betroffen ist. Aus seiner Sicht ist ein „Umweg der Eigenmittel über den Sozialhilfeträger“ ergebnisneutral und unerheblich. Der Sozialhilfeträger kann ohnehin nur seinen Nettoaufwand geltend machen. Dieser liegt hier ein Vielfaches über dem Wert des Geschenkes.
d) Die Anspruchsüberleitung steht im Ermessen der Behörde. Das Gericht hat lediglich zu prüfen, ob Ermessensfehler vorliegen, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Ermessensfehler liegen hier nicht vor.
Es ist strittig, ob das Ermessen nach § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB XII wegen des wichtigen Nachrangprinzips nach § 2 SGB XII ein sogenanntes „intendiertes Ermessen“ ist, d.h. regelmäßig für eine Anspruchsüberleitung spricht, wenn kein besonderer Ausnahmefall vorliegt (so z.B. Schellhorn u.a., SGB XII Kommentar, 20. Auflage 2020, § 93 Rn. 11 ff; Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 93 Rn. 24; Bay LSG, 25.11.2010, L 8 SO 136/10, dort Rn. 35). Der Wortlaut von § 93 Abs. 1 SGB XII mit „kann“ und eben nicht „soll“ gibt aber keinen Hinweis auf eine derartige Ausrichtung des Ermessens. Es ist daher eine normale Ermessensausübung zu fordern, wobei der Nachrang ein gewichtiges Kriterium darstellt (Bay LSG, Urteil vom 28.08.2017, L 8 SO 219/15, dort Rn. 52 ff).
Das Ermessen wurde hier fehlerfrei ausgeübt. Der Beklagte hat erkannt, dass es um eine Ermessensentscheidung geht. Er hat die Belange des Staates (Nachrang, Steuermittel) zutreffend eingestellt. Belange des Betroffenen brauchte er nicht einzustellen, weil der Kläger dazu weder im Anhörungsverfahren noch im Widerspruchsverfahren irgendetwas vorgetragen hatte. Der Beklagte war auch nicht gehalten, Erkenntnisse aus dem familiengerichtlichen Rechtsstreit wegen übergegangenen Unterhaltsansprüchen in das Verwaltungsverfahren einzustellen. Zum einen handelte es sich dabei um ein zivilrechtliches Verfahren, das von einer anderen Verwaltungsstelle betrieben wurde und zum anderen hielt es der Kläger offensichtlich selbst nicht für angezeigt hielt, dieses Verfahren mit dem streitgegenständlichen Verwaltungsverfahren zu verknüpfen, weil er sich im Verwaltungsverfahren auch dazu nicht äußerte.
e) § 105 Abs. 2 SGB XII a.F. ist bei § 94 SGB XII a.F. anzuwenden, nicht bei einem Anspruchsübergang nach § 93 SGB XII. Dies ist dem Wortlaut zu entnehmen. Die Ausnahmeregelung in § 105 Abs. 2 SGB XII ist nicht weitflächig anzuwenden. Die Frage, ob die Ende 2015 aufgehobene Vorschrift in diesem Fall überhaupt anwendbar wäre, kann daher offenbleiben.
f) Die Kausalität des Anspruchsübergangs nach § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ist hier gegeben. Wenn die Leistung (Herausgabe des geschenkten Wohnrechts) des anderen (Kläger) rechtzeitig (mit Verarmung) erfolgt wäre, wäre der Aufwendungsersatz höher gewesen, weil das Wohnrecht auch zur entgeltlichen Vermietung an Dritte berechtigte. Auf die Frage, ob die Eltern die Wohnung ohne behinderungsgerechten Umbau hätten nutzen können, kommt es daher nicht an.
g) Die Härtefallklausel in § 94 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII ist auf den Anspruchsübergang nach § 93 SGB XII nicht anwendbar (Bay LSG, 28.09.2017, L 8 So 219/15, dort Rn. 55 f).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 52 GKG. Strittig ist hier ein auf eine bezifferte Geldleistung gerichteter Verwaltungsakt nach § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Auch wenn die strittigen Bescheide den Wert von 55.000,- Euro nicht selbst benennen, geht es um die Überleitung des Anspruchs in dieser Höhe. Dies ist dem Gutachten des Gutachterausschusses, dem Zuleitungsschreiben des Beklagten (Seite X. VM) und der Zahlungsaufforderung vom 27.01.2020 (Seite X. VM) sowie der inzwischen erhobenen zivilgerichtlichen Klage zu entnehmen. Die Beteiligten wurden hierzu in der mündlichen Verhandlung angehört.


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