Sozialrecht

Erben, Erstattung, Grundsicherung, Rücknahme

Aktenzeichen  S 46 SO 186/20

Datum:
9.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 14324
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

1. Die Rücknahme einer Leistungsbewilligung nach § 45 SGB X hat gegenüber allen Erben zu erfolgen.
2. Eine Erstattung in Höhe der Erbquote ist regelmäßig frei von Willkür und ohne offenbare Unbilligkeit und damit rechtmäßig.
3. Bei einer Klage, die von Erben erhoben wird, richtet sich die Kostenentscheidung nach § 197a SGG.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird wie folgt festgesetzt:
Für Klägerin zu 1) auf 5.272,60 Euro, für Klägerin zu 2) auf 5.272,60 Euro, für Klägerin zu 3) auf 15.817,81 Euro, für Klägerin zu 4) auf 5.272,60 Euro.

Gründe

Die Klagen sind zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie sind aber unbegründet, weil die strittigen Bescheide dem Gesetz entsprechen und die Klägerinnen dadurch nicht in ihren Rechten verletzt sind. Die Rücknahme der Leistungsbewilligungen erfolgte zu Recht und die Erbinnen haben die Erstattungen im Rahmen der Rechtsnachfolge als Nachlassverbindlichkeiten zu tragen.
1. Die einmonatigen Klagefristen haben die Klägerinnen zu 2) und 4) ausgehend von den Angaben auf den Empfangsbekenntnissen ihrer Rechtsanwälte zu dem Widerspruchsbescheiden eingehalten, § 85 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 5 Abs. 4, Abs. 7 Satz 1 Verwaltungszustellungsgesetz. Maßgeblich ist, sofern kein Gegenbeweis erbracht werden kann, der Zeitpunkt der im Empfangsbekenntnis dokumentierten Entgegennahme des Schreibens mit Empfangswillen (BSG, 05.06.2019, B 12 R 3/19 R, juris Rn. 8 und 10). Statthaft sind Anfechtungsklagen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG.
Ein Verzicht auf den Widerspruch mit der Folge der Unzulässigkeit der jeweiligen Klage (Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Auflage 2020, § 83 Rn. 4) liegt nicht vor. Die Klägerin zu 1) und die Klägerin zu 3) hatten mit gleichlautenden Schreiben vom 08.12.2017 erklärt, sie würden die geforderte Erstattungssumme jeweils in Raten bezahlen. Zuvor hatte die Klägerin zu 3) erklärt, sie werde die 31.635,61 Euro insgesamt bezahlen. Ein solcher Verzicht wäre grundsätzlich möglich, würde aber eine eindeutige Erklärung dieses Inhalts erfordern. Hier wurde aber nur eine Zahlungsbereitschaft in bestimmten Raten mitgeteilt, nicht eine endgültige Hinnahme der behördlichen Regelungen. Diese Erklärungen sind nicht als Verzicht auf die Einlegung eines Widerspruchs zu werten.
2. Die Klagen sind nicht begründet. Die Rücknahmen beruhen auf § 45 SGB X, die Erstattungsforderungen auf § 50 Abs. 1 SGB X.
a) Vorab ist festzustellen, dass die Rücknahme der Bewilligungen und die Erstattungsforderung gegenüber der Klägerin zu 3) durch Bescheid vom 19.05.2017 nicht bestandskräftig wurde. Die Klägerin zu 3) hatte dagegen innerhalb der Monatsfrist des § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG zwar keinen Widerspruch eingelegt, aber der Widerspruch der Klägerin zu 3) vom 02.01.2018 richtete sich ausdrücklich gegen den Bescheid vom 19.05.2017 und den Bescheid vom 29.11.2017. Mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.2020 wurde über den Widerspruch gegen beide Bescheide entschieden. Es wurde ausdrücklich auch der Bescheid vom 29.11.2017 und die Rücknahme insgesamt rechtlich gewürdigt. Mit der sachlichen Entscheidung wurde das Fristversäumnis für den Widerspruch geheilt (Meyer-Ladewig u.a., a.a.O. § 84 Rn. 7).
b) Die Bewilligungen durften gemäß § 45 SGB X zurückgenommen werden, weil alle Bewilligungen von Anfang an rechtswidrig waren, wegen vorsätzlich falschen wesentlichen Angaben gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 kein Vertrauensschutz bestand, die Jahresfrist nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingehalten ist und kein Ermessensfehler vorliegt.
Die Rücknahme einer Leistungsbewilligung nach § 45 SGB X erfolgt nach dem Tod des Begünstigten gegenüber einem Alleinerben oder – wie hier – gegenüber allen Mitgliedern der Erbengemeinschaft. Die Rücknahme hat gegenüber allen Miterben zu erfolgen (BVerwG, Beschluss vom 03.03.1988, 2 B 25/88). Die Erben treten mit dem Tod des Erblassers gemäß §§ 1922, 1967 BGG in dessen Rechtsstellung ein (BSG, Urteil vom 21.10.2020, B 13 R 19/19 R, juris Rn. 13). Weil die Erben die vorhandene Rechtsstellung so übernehmen, wie sie zum Zeitpunkt des Erbfalls ist, kommt es auch beim Vertrauensschutz auf die Verhältnisse des Begünstigten an, so wie es in § 45 Abs. 2 SGB X formuliert ist („soweit der Begünstigte … vertraut hat“). Es kommt insbesondere nicht darauf an, ob den einzelnen Erben der Leistungsbezug bekannt war oder was sie von der Rechtswidrigkeit des Leistungsbezugs wussten.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er bereits bei Erlass rechtswidrig ist, nur unter den Einschränkungen nach § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Der Leistungsempfänger und die Klägerin zu 3) waren bereits vor der ersten Bewilligung vom 17.03.2011 Eigentümer zahlreicher Immobilien in Spanien und Rumänien. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den Angaben der Klägerin zu 3) im Verwaltungsverfahren, den Angaben der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung („Mein Vater hat sich das Vermögen vor dem Leistungsbezug erarbeitet.“) und den vorgelegten unwidersprochenen Listen mit detaillierten Angaben zu den 16 Immobilien im Ausland. Deren Grundstückswerte lagen ein Vielfaches über den Freibeträgen des Ehepaars. Dabei kann dahinstehen, ob die 16 Immobilien teilweise hälftig im Eigentum der Ehefrau standen, weil auch deren Vermögen gemäß § 43 Abs. 1 SGB XII bei der Frage der Hilfebedürftigkeit des Leistungsempfängers zu berücksichtigen war.
Dem Leistungsempfänger stand beim Vermögen ein sozialhilferechtlicher Freibetrag von 2.600,- Euro zu, § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 der Barbetragsverordnung in der bis 31.03.2017 geltenden Fassung. Der Klägerin zu 3), die Arbeitslosengeld II vom Jobcenter bezog, standen im SGB II eigene höhere Vermögensfreibeträge zu, der Grundfreibetrag von 150,- Euro je vollendetem Lebensjahr und der Anschaffungsfreibetrag von 750,- Euro, § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 4 SGB II. Für diese Konstellation der sog. gemischten Bedarfsgemeinschaft hat das BSG die Summe beider Freibeträge als gesetzlichen Härtefall anerkannt (BSG, Urteil vom 20.09.2012, B 8 SO 13/11 R). Das ergibt maximal 12.650,- Euro (2.600,- Euro plus 750,- Euro plus 62 mal 150,- Euro). Ein Härtefall aufgrund der Anrechnung des Vermögens nach § 90 Abs. 3 SGB XII liegt bei einer derartigen Anzahl an Immobilien offensichtlich nicht vor.
Ein rechtswidriger Verwaltungsakt darf nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann man sich von vornherein gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht berufen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
Der begünstigte Leistungsempfänger und seine von ihm ausdrücklich bevollmächtigte Ehefrau, die Klägerin zu 3), haben auf konkrete Fragen nach Haus- und Grundbesitz im Ausland die Unwahrheit geäußert. Die Klägerin zu 3) hat im Erstantrag ausdrücklich schriftlich gelogen („Kein Haus- und Grundbesitz im Ausland“ mit Unterschrift) und bei allen Folgeüberprüfungen in jedem Jahr falsche Angaben angekreuzt. Das geschah vorsätzlich. Der Leistungsempfänger hat diese falschen Angaben jeweils mit Unterschrift abgezeichnet. Im Übrigen muss er sich das Verhalten seiner Vertreterin zurechnen lassen. Zu ergänzen ist, dass die Vermietung der Immobilien durch Beauftragte im Ausland erfolgte und die Mieteinnahmen landeten auf ausländischen Konten. Das spricht ebenfalls für ein planmäßiges vorsätzliches Vorgehen.
Die Bewilligungen beruhten alle auf den falschen Angaben, weil bei offenkundig nicht bestehender Hilfebedürftigkeit eine Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht erfolgt wäre.
Die Rücknahmefrist nach § 45 Abs. 3 SGB X wurde eingehalten. Nach Satz 3 dieser Regelung kann ein rechtswidriger Dauerverwaltungsakt bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, wenn ein Fall nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X vorliegt. Der erste zurückgenommene Verwaltungsakt datiert vom 17.03.2011, die letzte Rücknahme erfolgte mit Bescheid vom 07.12.2017.
Es wurde auch die einjährige Kenntnisfrist nach § 45 Abs. 4 SGB X eingehalten, wonach die Rücknahme innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen, zu erfolgen hat. Frühestens Anfang 2017 konkretisierte sich die Annahme, dass der Leistungsempfänger Eigentümer von Immobilien in Spanien war. Der letzte Rücknahmebescheid datiert vom 07.12.2017.
Die Rücknahme war auch hinreichend bestimmt im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X. Durch Bezeichnung des ersten Bewilligungsbescheids vom 17.03.2011, der vollständigen Aufhebung auch der Folgebescheide und des Aufhebungszeitraums war der Regelungsumfang unzweideutig zu erkennen. Durch die beigefügten Listen zu den monatsweise gewährten und nun zurückgenommenen Leistungen war im Einzelnen nachzuvollziehen, welche Leistungen von Rücknahme und Erstattung betroffen waren.
Die Behörde hat auch fehlerfrei Ermessen ausgeübt. Bei der Rücknahmeentscheidung handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die das Gericht nur hinsichtlich Ermessensfehlern überprüfen darf, § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG. Der Beklagte hat sein Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Er hat insbesondere auch den Einzelfall gewürdigt (Vorsatz bei den falschen Angaben, Dauer und Höhe des Leistungsbezugs) und die wesentlichen Gesichtspunkte in die Entscheidungen einbezogen.
Insgesamt liegen die Voraussetzungen der Rücknahme bei jedem der strittigen Bescheide vor.
b) Die Erstattung der jeweiligen Teilbeträge beruht auf § 50 Abs. 1 SGB X. Wenn ein Verwaltungsakt aufgehoben wurde, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten.
Nicht zu beanstanden ist, dass der Beklagte die Erstattung jeweils im Umfang der Erbquote geltend macht. Jeder Erbe haftet dem Beklagten als Nachlassgläubiger gemäß §§ 1922, 1967 Abs. 1, § 2058 BGB grundsätzlich als Gesamtschuldner. Demzufolge könnte der Beklagte gemäß § 421 BGB „nach seinem Belieben“ von jedem Erben die Erstattung ganz oder teilweise fordern. Dabei hat ein Sozialleistungsträger aber das Willkürverbot zu beachten und eine offenbare Unbilligkeit zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 23.08.2013, B 8 SO 7/12 R, juris Rn. 22; der dort unter Rn. 23 ff geschilderte Ausnahmefall einer ausdrücklichen Ermessensentscheidung bei der Erbenhaftung nach § 92c BSHG bzw. § 102 SGB XII liegt hier nicht vor). Die Inanspruchnahme von Erben in Höhe deren jeweiligen Erbquote bei einer Erbschaft, deren Wert die Erstattungsforderung um ein Mehrfaches übersteigt, ist weder willkürlich noch offenbar unbillig.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 SGG. Weder die Klägerinnen noch der Beklagte sind Personen nach § 183 SGG. Die Klägerinnen sind bzgl. der strittigen Leistungen selbst keine Leistungsempfänger und auch keine Sonderrechtsnachfolger nach § 56 SGB I. § 56 SGB I betrifft Ansprüche auf Auszahlung von laufenden Geldleistungen, nicht eine Rückzahlung nach Aufhebung- und Erstattungsbescheid (Mrozynski, SGB I, 6. Auflage 2019, § 56 Rn. 4). Die Kostenprivilegierung nach § 183 Satz 2 SGG gilt nur für Rechtsnachfolger, die ein bereits laufendes Gerichtsverfahren aufnehmen, nicht für Rechtsnachfolger, die ein Klageverfahren selbst beginnen (vgl. BSG, Urteil vom 03.08.2006, B 3 KR 24/05 R, juris Rn. 23).
Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens zu tragen, weil sie unterlegen sind, § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Streitwert war für jede der Klägerinnen in Höhe der Erstattungsforderung festzusetzen, der sie selbst ausgesetzt ist, § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG.


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