Sozialrecht

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Aktenzeichen  L 19 R 661/17

Datum:
4.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 41547
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1
SGB VI § 43 Abs. 2

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.

Verfahrensgang

S 14 R 220/16 2017-09-22 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 22.09.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht mit Gerichtsbescheid vom 22.09.2017 die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VI -. Ihr Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ist zwar qualitativ, d. h. hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, nicht aber quantitativ, d. h. zeitlich auf unter 6 Stunden täglich eingeschränkt.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Die notwendigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Sinne des § 43 Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 43 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI sind bei der Klägerin unzweifelhaft gegeben. Der Versicherungsverlauf vom 07.08.2018 weist durchgehend seit März 2012 Pflichtbeitragszeiten für Pflegetätigkeiten sowie zusätzlich die Ausübung einer geringfügigen, nicht versicherungspflichtigen Tätigkeit aus. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vom 04.09.2018 hierzu angegeben, dass sie nach wie vor ihren Ehemann pflege und daneben 11 mal 3 Stunden, also insgesamt 33 Stunden pro Monat Raumpflegetätigkeiten und leichte Sortierarbeiten (Bürohilfsarbeiten) verrichte.
Zur Überzeugung des Senats steht aufgrund der vorliegenden Sachverständigengutachten und eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte jedoch fest, dass ein medizinischer Leistungsfall der Erwerbsminderung nicht vorliegt. Die Klägerin ist nach wie vor in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Es muss sich um leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen handeln, die im Wechselrhythmus mit überwiegend sitzendem Anteil ausgeübt werden müssten. Zu vermeiden sind Zwangshaltungen und Überkopfarbeiten; zu vermeiden sind des Weiteren Tätigkeiten mit wechselnden Wetterbedingungen ohne entsprechenden Bekleidungsschutz sowie nervlich besonders belastende Tätigkeiten wie Nacht- und Akkordarbeit sowie Tätigkeiten mit Verantwortung für Maschinen und Personen.
Der Senat gewinnt diese Überzeugung aus den vorliegenden Sachverständigengutachten, nämlich aus dem im Rentenverfahren eingeholten sozialmedizinischen Gutachten von Dr. M. vom 09.12.2015 sowie aus den vom SG eingeholten Sachverständigengutachten nach § 106 SGG auf orthopädisch/neurochirurgischem Fachgebiet von Dr. R. vom 30.07.2016 und den nach § 109 SGG auf Antrag der Klägerin eingeholten Sachverständigengutachten auf orthopädischem Fachgebiet von Dr. Sch. vom 22.11.2016 sowie auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet von Dr. W. vom 07.07.2017. Alle Sachverständigen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass relevante Funktionseinschränkungen, die auf Dauer zu einer Einschränkung der quantitativen Leistungsfähigkeit der Klägerin führen könnten, noch nicht bestehen bzw. auf nervenärztlichem Fachgebiet auch zumindest behandlungs- und besserungsfähig sind. Insbesondere die Gutachten nach § 109 SGG sind sehr deutlich in dieser Einschätzung, wenngleich jeweils im Nachgang von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin geltend gemacht wurde, dass diese Gutachten nicht aussagekräftig seien, zum einen weil die Klägerin bei Dr. Sch. zuvor Schmerzmittel eingenommen habe und deshalb ihre Schmerzen während der Untersuchung nicht geäußert habe. Das Gutachten von Dr. W. wird unter Hinweis auf ein Attest von Dr. O. in Frage gestellt, die aber lediglich eine Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin umschreibt. Der Orthopäde Dr. Sch. sah etwa lediglich altersentsprechende degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates, der nervenärztliche Sachverständige Dr. W. nur leichte Beeinträchtigungen der psychischen Belastbarkeit, die durchaus einer Behandlung zugänglich sind. Wesentliche Leistungseinschränkungen der Klägerin konnten beide Sachverständige nicht bestätigen. Eine wesentliche Änderung im Laufe des Verfahrens ist ebenfalls nicht dokumentiert.
Insbesondere aus dem bei Dr. W. von der Klägerin geschilderten Tagesablauf lässt sich eine relevante Einschränkung der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit der Klägerin nicht ableiten. Danach stehe die Klägerin meistens gegen 6.00 Uhr auf, mache das Frühstück, kümmere sich um das drei Jahre alte Enkelkind und frühstücke dann zusammen mit ihrem Ehemann. Sie würde dann den Enkel in den Kindergarten fahren. Sie kümmere sich anschließend um die Körperhygiene und das Anziehen bei ihrem Ehemann. Sie fahre ihn anschließend zu Massage- und Krankengymnastikterminen. Mittags hole sie das Enkelkind ab, mache Mittagessen, kaufe ein und führe den Haushalt. Am Nachmittag lege sie sich oft hin. Danach gehe sie meistens mit ihrem Ehemann im Wald spazieren, sitze mit ihm am Computer oder spiele Puzzle. Sie richte dann das Abendessen und sie schauten anschließend gemeinsam fern. Obwohl die Klägerin angibt, dass sie schon lange nicht mehr unter Menschen gehe, weil sie das belaste, muss ein solcher Tagesablauf zwingend mit entsprechenden zwischenmenschlichen Kontakten einhergehen. Die Klägerin hat offensichtlich auch keine Schwierigkeiten, ärztliche Termine mit dem Ehemann zu koordinieren, sie kann ihn zur Begutachtung im Rollstuhl mitbringen, fährt selbst mit dem Auto zur Untersuchung und kann sich auch in ausreichendem Maße um ihr Enkelkind kümmern. Sie hat seit 2014 auch wieder einen Hund, nachdem ihr vorhergehender Hund nur wenige Tage vor der Hochzeit ihrer Tochter vergiftet worden sein und sie darauf mit einer Anpassungsstörung reagiert haben soll.
Aus der geltend gemachten Urge-Inkontinenz ergeben sich keine quantitativen Einschränkungen. Lediglich Dr. R. hat angegeben, es wäre hilfreich, wenn eine Toilette in der Nähe wäre. Die Klägerin ist aber trotz dieser Inkontinenz in der Lage, alle notwendigen Behandlungs-/ Pflegemaßnahmen, Einkäufe, hauswirtschaftliche Versorgung und ähnliches zu verrichten.
Eine internistische Behandlung findet nicht statt, ebenso wenig eine nervenärztliche Behandlung. Die Klägerin hat sich zwar im April 2017 erstmals nach langer Zeit – wie von Dr. O. in ihrem Bericht vermerkt – wieder bei ihr vorgestellt, eine entsprechende Behandlung durch eine Änderung der Medikation bzw. durch Durchführung einer ambulanten Psychotherapie möchte die Klägerin aber nicht in Anspruch nehmen. Insoweit kann von einem schwerwiegenden Leidensdruck der Klägerin offensichtlich nicht ausgegangen werden. Im Gutachten von Dr. M. ist festgehalten, dass die Klägerin in einer sozialen Überforderungssituation gefangen sei, nachdem sie sich um die Pflege ihres Mannes kümmern müsse. Nach ihren eigenen Angaben leidet ihr Bruder, der noch bei ihrer Mutter lebt, ebenfalls unter psychischen Problemen (Spielsucht) und ist nach ihrer Ansicht wohl nicht in der Lage, sein Leben selbst in den Griff zu bekommen, so dass sie ihn ebenfalls unterstützen müsse.
Die im Berufungsverfahren eingeholten und von Klägerseite vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen bzw. Befundberichte veranlassen den Senat nicht zur Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen. Die von Dr. W. und Dr. O. vorgelegten Atteste vom 02.10.2017 und 31.01.2018 haben keine neuen Erkrankungen dokumentiert. Darauf hat die Beklagte in ihrer prüfärztlichen Stellungnahme (Dr. M.) auch zutreffend hingewiesen. Die weiteren Bestätigungen des Ärztezentrums G. über die Verordnung von Krankengymnastik bzw. über eine Infusionstherapie im Jahr 2013 bis 2016 vermögen keine neue Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin zu stützen. Einzig bei Dr. H. im Bericht vom 19.03.2018 wird als neuer Befund eine Rhizarthrose bei seit zwei Wochen spontan aufgetretenen Schmerzen dokumentiert. Dies stellt aber ebenfalls lediglich einen Behandlungsfall dar und ändert nichts an der oben dargelegten Leistungseinschätzung und den von den Sachverständigen aufgezeigten Behandlungsoptionen.
Soweit die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ein „Zeugnis“ der behandelnden Ärzte angeregt hatte, sah der Senat hierzu keine Veranlassung. Es wurden die Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt und die von Klägerseite im Berufungsverfahren vorgelegten „Atteste“ oder Bescheinigungen zur Kenntnis genommen. Ein förmlicher Beweisantrag, dem der Senat gegebenenfalls hätte nachgehen müssen, wurde nicht gestellt.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Würzburg vom 22.09.2017 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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