Sozialrecht

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Rechtsqualität der Frage, ob ein Partner in eheähnlicher Gemeinschaft vorhanden ist

Aktenzeichen  L 11 AS 196/17

Datum:
13.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 50490
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 7 Abs. 3, Abs. 3a
SGB X § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2

 

Leitsatz

Die Frage im Antragsbogen für Alg II nach dem Vorliegen eines Partners in “eheähnlicher Gemeinschaft” bzw nach Bestehen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft stellt eine Frage nach einem Rechtsbegriff dar und erfordert vom Antragsteller rechtliche Wertungen; sie stellt keine Frage nach Tatsachen dar. (Rn. 24)

Verfahrensgang

S 14 AS 318/14 2016-11-30 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 30.11.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG), aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht den Bescheid des Beklagten vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2014 aufgehoben.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2014, mit dem der Beklagte die Leistungsbewilligung gegenüber den Klägern für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2013 zurückgenommen und sie zur Rückzahlung von 74.978,45 EUR bzw. 18.015,74 EUR verpflichtet hat. Die Kläger verfolgen als einziges Ziel die Beseitigung dieser Entscheidung, wozu reine Anfechtungsklagen (§ 54 Abs. 1, § 56 SGG) genügen.
Das SG ist zutreffend von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen. Insbesondere steht dem nicht entgegen, dass die Klägerin zu 1 nicht alleine zur Klageerhebung auch für den Kläger zu 2 befugt gewesen wäre. Nach den im Berufungsverfahren vorgelegten Unterlagen war sie bei Klageerhebung für den Kläger zu 2 gemäß § 1626a Abs. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) alleine sorgeberechtigt, weil kein Fall des § 1626a Abs. 1 BGB vorlag. Zudem hat der Ehemann, inzwischen Adoptivvater des Klägers zu 2, Klageerhebung und Berufungseinlegung genehmigt.
Der Bescheid des Beklagten vom 16.01.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, denn die Voraussetzungen für die verfügte Rücknahme der Leistungsbewilligungen liegen nicht vor. Als Grundlage für die Rücknahme der Leistungsbewilligung im Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2013 kommt allein § 40 Abs. 1 und 2 Nr. 3 SGB II (in der bei Bekanntgabe der Aufhebungsentscheidung geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 – BGBl. I, 850) i.V.m. § 45 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) infrage. Die daneben noch denkbare Aufhebung gemäß § 40 Abs. 1 SGB II a.F. i.V.m. § 48 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III scheidet aus, weil nach dem Inhalt des angefochtenen Bescheides der Beklagte nicht von einer dafür erforderlichen wesentlichen Änderung der Verhältnisse ausgegangen ist und diese auch sonst nicht ersichtlich ist. Im Übrigen wäre das Auswechseln dieser Rechtsgrundlagen vorliegend unproblematisch, da gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III in beiden Fällen eine gebundene Entscheidung zu treffen wäre (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 6/12 R – juris).
Der Aufhebung- und Erstattungsbescheid vom 16.01.2014 ist zwar formell rechtmäßig zustande gekommen. Den Klägern wurde vor Erlass ausreichend Gelegenheit zur Äußerung mit dem Anhörungsschreiben des Beklagten vom 08.08.2013 gegeben. Insbesondere ist deutlich gemacht worden, dass der Beklagte eine Aufhebung und Erstattung erwägt, weil die Kläger eine Bedarfsgemeinschaft mit S. bilden und dieser über bedarfsdeckendes Einkommen bzw. Vermögen verfügte.
Die vom Beklagten vorgenommene Aufhebung der Leistungsbewilligungen für die Vergangenheit als gebundene Entscheidung konnte jedoch nach § 45 Abs. 1 und 4 Satz 1 SGB X nicht erfolgen, denn dies ist nur in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X oder § 45 Abs. 3 Satz 2 SGB X möglich. Der Erlass der Bewilligungsbescheide wurde von den Klägern aber nicht durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB X) und der Verwaltungsakt beruhte auch weder auf Angaben, die die Kläger vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht haben (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X), noch kannten die Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligungen bzw. kannten sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X), wobei ein etwaiges Verschulden der Klägerin zu 1 ihrem minderjährigen Sohn, dem Kläger zu 2, zuzurechnen wäre (vgl. Urteil des Senats vom 11.07.2010 – L 11 AS 162/09 – juris). Keinen Vertrauensschutz i.S.d. § 45 Abs. 2 SGB X kann derjenige beanspruchen, der selbst schuldhaft eine wesentliche Ursache für die Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsaktes gesetzt hat (vgl. Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 44 Rn. 48). Das bloße Erwirken von Leistungen durch unrichtige oder unvollständige Angaben genügt dafür nicht, vielmehr bedarf es eines vorwerfbaren Verhaltens. Von Vorsatz ist auszugehen, wenn wissentlich und willentlich falsche Angaben entweder mit sicherem Wissen (direkter Vorsatz) oder unter Inkaufnahme (bedingter Vorsatz) der Unrichtigkeit gemacht werden (vgl. Schütze, a.a.O., § 45 Rn. 52). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Halbsatz 2 SGB X). Verlangt wird eine Sorgfaltspflichtverletzung in einem besonders hohen Maß, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Es gilt dabei ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab, der sich nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen und Verhalten des Leistungsberechtigten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen hat. Wesentlich kommt es darauf an, ob der Leistungsberechtigte unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit hätte erkennen müssen, dass die betreffenden Angaben zu machen waren. Dabei ist u.a. zu prüfen, ob die Fragestellung durch die Behörde im Hinblick auf den Bildungsstand und die Erfahrenheit des Leistungsberechtigten hinreichend verständlich oder missverständlich war, erteilte amtliche Belehrungen verständlich waren oder Fertigkeiten oder das Wissen eines sachkundig erscheinenden Dritten zunutze gemacht wurden und sich der Leistungsberechtigte darauf verlassen konnte, dieser werde alle Einzelheiten bei ihm erfragen (so im Einzelnen: Schütze, a.a.O., § 45 Rn. 52 m.w.N.). Bei schuldlos gemachten falschen Angaben oder bei einfacher Fahrlässigkeit ist eine Rücknahme eines begünstigenden, rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht möglich (zum Verschuldensmaßstab: Urteil des Senats vom 14.11.2017 – L 11 AS 870/16 – juris). Gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind. Anzugeben sind nur Tatsachen, also insbesondere keine auf Tatsachen oder Rechtsnormen gestützten Wertungen (vgl. Mrozynski, SGB I, 5. Aufl., § 60 Rn. 23; ähnlich Siebert in Hauck/Noftz, SGB I, Stand 7/2014, § 60 Rn. 27). Vorliegend war für den gesamten von der Aufhebung der Leistungsbewilligung betroffenen Zeitraum zwar das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft mit weiteren Personen als den Klägern relevant, weil deren gegebenenfalls vorhandenes Einkommen und Vermögen bedarfsmindernd zu berücksichtigen gewesen wäre (§ 9 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 7 Abs. 3 SGB II). Jedoch hat der Beklagte die Klägerin zu 1, welche bei der Beantragung der Leistungen nach dem SGB II als Vertreterin der Bedarfsgemeinschaft gemäß § 38 SGB II auch für den Kläger zu 2 handelte, nicht zu Tatsachen befragt. Er hat vielmehr durchgehend nur danach gefragt, ob ein Partner in eheähnlicher Gemeinschaft vorhanden sei, hat also nach einem Rechtsbegriff gefragt, der eine genaue Kenntnis der hierfür zu erfüllenden Voraussetzungen erforderlich macht und einer rechtlichen Wertung bedarf (so schon Urteil des Senats vom 26.11.2014 – L 11 AS 589/14 – juris). In den Formularen, welche bei den bis einschließlich 2007 gestellten Anträgen Verwendung fanden, die wiederum der Leistungsbewilligung bis Juni 2008 zugrunde lagen, war nach Angaben zu „den persönlichen Verhältnissen des Partners in eheähnlicher Gemeinschaft“ gefragt, ohne dass hierzu weitere Erläuterungen gegeben wurden. Somit musste im Erstantrag der Kläger vom 08.10.2004 allein die Frage nach einem Rechtsbegriff beantwortet werden und die Klägerin zu 1 hatte zum Verständnis des Begriffsinhalts auch keine weiteren Hilfestellungen erhalten. Daran ändert auch nichts, dass überdies im Zusatzblatt 1 zur Feststellung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung nach im Haushalt lebenden Personen gefragt war, denn hier fehlte es einerseits an einer weiteren Erläuterung zum grundsicherungsrechtlichen Begriff des Haushalts und andererseits folgt aus dem Bestehen eines Haushalts nicht das Bestehen einer Partnerschaft bzw. Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft. Zudem musste sich der Klägerin zu 1 nicht aufdrängen, dass die Frage nach weiteren Personen im Haushalt (im Rahmen der Feststellung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung) Bedeutung für die Angaben zu einer Bedarfsgemeinschaft haben könnte. Nach ihrem bekannten Bildungsstand (Hauptschulabschluss) und der Tatsache, dass es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um ein damals neu eingeführtes System der Existenzsicherung handelte, konnte von der Klägerin zu 1 nicht erwartet werden, dass ihr der Begriff der Bedarfsgemeinschaft (der im BSHG nicht gebräuchlich war) bekannt ist und sie dessen Inhalt und Bedeutung auch ohne weitere Hinweise bzw. mit den gegebenen Hinweisen ausreichend erfasst. Für die bis einschließlich 2007 gestellten Folgeanträge, in denen die Klägerin zu 1 jeweils nur „keine Änderung“ angab, folgt dasselbe Ergebnis, denn es lag keine andere Fragestellung zugrunde und es ist nicht ersichtlich, dass der Klägerin zu 1 später aus anderen Gründen der Begriff der Bedarfsgemeinschaft und dazu zu machende Angaben besser vertraut waren.
Aber auch für die in den Jahren 2008 bis 2012 gestellten Anträge auf Leistungen nach dem SGB II ergibt sich keine Änderung der Beurteilung. Zwar enthielten die vom Beklagten seitdem verwendeten Ausfüllhinweise der Bundesagentur für Arbeit (Stand 04.2008, 04.2009, 04.2010, 07.2010, 04.2011 und 04.2012) nunmehr unter „Zu 2f Angaben zu den Personen in der Bedarfsgemeinschaft“ bzw. „Zu 2e Angaben zu den Personen in der Bedarfsgemeinschaft“ Ausführungen. Allerdings beschränkten sich diese weitgehend auf die bloße Wiedergabe der gesetzlichen Regelungen. Erläutert wurde nämlich: „Eine Bedarfsgemeinschaft besteht aus dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen sowie dem nicht dauernd getrennt lebenden Ehepartner, dem nicht dauernd getrennt lebenden eingetragenen Lebenspartner bzw. einer Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft zusammenlebt. Unter Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ist das Zusammenleben von Partnern in einem gemeinsamen Haushalt zu verstehen, wobei nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Dies wird vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr oder mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben oder Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgt werden oder Partner befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen“. Ferner wurde zur Erläuterung des Begriffs der Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft auf die „Anlage VE“ verwiesen. Dort findet sich u.a. folgende Passage: „Zur Bedarfsgemeinschaft gehört eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Diese Verantwortung- und Einstehensgemeinschaft können sowohl gleichgeschlechtliche als auch verschiedengeschlechtliche Partner eingehen. Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner 1. länger als ein Jahr zusammenleben, 2. mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, 3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder 4. befugt sind, über Einkommen und Vermögen des Anderen zu verfügen. Trotz der Vermutungsregelung ist es nicht ausgeschlossen, dass auch andere äußere Tatsachen das Vorliegen einer Einstehensgemeinschaft begründen können. Dies kann z.B. ein gegebenes Eheversprechen, das Wohnen im gemeinsamen Wohneigentum oder die tatsächliche Pflege eines Partners im gemeinsamen Haushalt sein. Hierzu kann es erforderlich sein, weitere Daten zu erheben. Die Vermutung kann von Ihnen widerlegt werden. Ausreichend ist nicht die Behauptung, dass der Vermutungstatbestand nicht erfüllt sei; erforderlich ist, dass Sie darlegen und nachweisen, dass die eben genannten Kriterien nicht erfüllt werden bzw. die Vermutung durch andere Umstände entkräftet wird“. Allen verwendeten Ausfüllhinweisen ist somit gemein, dass sie den grundsicherungsrechtlichen Begriff der Partnerschaft nicht konkreter ausfüllten und für den juristischen Laien verständlich machten. Zu ersehen war allein, dass darunter sowohl gleichgeschlechtliche als auch verschiedengeschlechtliche Partner fallen können. Unerwähnt blieb aber, dass diese Personen vergleichbar einem nicht getrennt lebenden Ehepaar in gemeinsamer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zusammenleben müssen, mithin eine gewisse Ausschließlichkeit der Beziehung gegeben sein muss (vgl. dazu BSG, Urteil vom 23.08.2012 – B 4 AS 34/12 R – juris). Zudem wurde in keinem von der Klägerin zu 1 gestellten Antrag zu diesem Punkt die Angabe von tatsächlichen Umständen bei einem Zusammenwohnen verlangt, anhand derer das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft hätte geprüft werden können. Auch der Hinweis auf die Fälle der gesetzlichen Vermutung des Vorliegens einer Bedarfsgemeinschaft ändert nichts, weil allen Fällen der nicht ausreichend erläuterte Begriff des Partners vorgestellt war. Der Klägerin zu 1 musste es sich daher, selbst wenn ab 2008 eine Bedarfsgemeinschaft mit S bestanden haben sollte, bei diesen Erläuterungen nicht gleichsam aufdrängen, dass S als Partner im grundsicherungsrechtlichen Sinn anzusehen sein könnte und eine Bedarfsgemeinschaft bestehen könnte, zumal auch für diesen Zeitraum keine anderweitige Kenntniserlangung in Bezug auf den Begriff der Bedarfsgemeinschaft zu erkennen ist.
Dass die Kläger ab Oktober 2013 mit S nach ihren Angaben eine Bedarfsgemeinschaft bildeten, ändert insofern nichts, denn dem lag vor allem zugrunde, dass S zum Oktober 2013 in die Wohnung der Kläger einzog und seitdem auch dort gemeldet war. Deswegen sind auch die von der Klägerin zu 1 am 04.07.2013 gegenüber dem Beklagten gemachten Angaben zu ihrem Verhältnis zu S für den streitgegenständlichen Zeitraum unergiebig. Hinzu kommt noch, dass aus dem darüber erstellten Aktenvermerk nicht ersichtlich ist, dass und in welcher Weise die Klägerin zu 1 über den Begriff der „eheähnlichen Gemeinschaft“ aufgeklärt wurde. Ferner lässt sich aus den getätigten Angaben nichts für Zeiten vor dem 04.07.2013 schließen, weil keine Frage dazu vermerkt ist und die Ausführungen der Klägerin zu 1 ausschließlich im Präsens vermerkt sind, also nur für den damaligen Zeitpunkt gelten können.
Für den gesamten Zeitraum der aufgehobenen Leistungsbewilligung (Januar 2005 bis Juni 2013) lässt sich damit nicht erkennen, dass die Klägerin zu 1 mindestens grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hat oder dass sie die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung kannte bzw. mindestens grob fahrlässig nicht kannte.
Offen bleiben kann daher, dass der Beklagte im Rahmen der Rücknahmeentscheidung weder ausreichende Feststellungen zum Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft mit S getroffen hat noch dazu, dass bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen des S vorhanden waren. Die Ermittlung aller zum Erlass einer Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen hat das Jobcenter durchzuführen, es sei denn, auf die Tatsache käme es nicht an, sie wäre offenkundig oder könnte als wahr unterstellt werden. Trotz des Zusammenhangs zwischen dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft und der Erzielung von Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft handelt es sich um unterschiedliche Prüfungspunkte, bei denen eigenständige Ermittlungen erforderlich sind (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2015 – B 14 AS 30/14 R – juris). Bereits die Ermittlungen des Beklagten dazu, ob im streitigen Zeitraum überhaupt eine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 SGB II der Kläger mit S bestand, sind nur ansatzweise durchgeführt worden und belegen das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft nicht. Sie beschränkten sich im Wesentlichen auf die Aussagen von F und P, ohne dass überhaupt klar wird, auf welchen Zeitraum sich die Wahrnehmung der beiden beziehen soll, und die Anmerkung von R, er habe schon überlegt, den Namen von S ebenfalls auf dem Klingelschild anzubringen. Auch insofern kann dies aber nicht zeitlich eingegrenzt werden. Zudem hat der Beklagte noch im März 2012 bei einem Außendienstbesuch bei den Klägern keine Anhaltspunkte für den Aufenthalt einer männlichen Person gesehen. Ein erneuter Außendienstbesuch etwa ein Jahr später erbrachte kein greifbares anderes Ergebnis. Auch sonstige Umstände belegen nicht, dass im streitigen Zeitraum S der Bedarfsgemeinschaft der Kläger angehörte. Zwar zogen diese nach eigenen Angaben im Oktober 2013 zusammen und mittlerweile sind die Klägerin zu 1 und S verheiratet. Dennoch lassen sich daraus keine ausreichenden Erkenntnisse ableiten, die es rechtfertigten, für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis 30.06.2013 ebenfalls eine Bedarfsgemeinschaft anzunehmen. Die vom Beklagten im Rahmen des Berufungsverfahrens beantragte Vernehmung weiterer Zeugen offenbart, dass er selbst davon ausgeht, dass schon zu diesem Punkt nur völlig ungenügende Ermittlungen durchgeführt wurden und die bisherigen Erkenntnisse die Entscheidung insoweit nicht tragen können. Auch die Voraussetzungen für das Eingreifen der Vermutungsregelung (§ 7 Abs. 3a SGB II) können nicht zum Tragen kommen, weil bereits nicht belegt ist, dass es sich bei der Klägerin zu 1 und S um Partner in diesem Sinn handelte.
Es kann ferner dahin stehen, dass keine Ermittlung der Einkommensverhältnisse in der vermeintlichen Bedarfsgemeinschaft erfolgt ist. Der einzige Umstand, auf den der Beklagte seine Entscheidung insoweit gestützt hat, ist die Behauptung von F und P, aufgrund des ihnen bekannten Arbeitsverdienstes von S dürfte es diesem möglich gewesen sein, auch die Klägerin zu 1 acht Jahre zu unterhalten. Diese Aussage enthält keinerlei nachprüfbare Angaben zum Vorhandensein und zur Höhe von Einkommen des S. Weder ist eine konkrete Höhe des Verdienstes von S, zudem über einen Zeitraum von mehr als acht Jahren, genannt noch wussten F und P, welcher Bedarf für die gesamte Bedarfsgemeinschaft zugrunde zu legen war und in welcher Höhe gegebenenfalls Absetzungen vorzunehmen wären. Zudem bezieht sich ihre Annahme der ausreichenden finanziellen Leistungsfähigkeit von S allein auf die Klägerin zu 1. Dass auch der Kläger zu 2 noch einen offenen Bedarf hatte und von S „zu unterhalten“ gewesen wäre, um Hilfebedürftigkeit für beide Kläger auszuschließen, bleibt außen vor. Die Angaben von F und P hätten somit allenfalls als Anlass für anschließend vorzunehmenden Ermittlungen zu Einkommen und Vermögen von S dienen können. Derartige Ermittlungen zum streitigen Zeitraum hat der Beklagte jedoch bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 13.03.2014 nicht angestellt. Er hat einzig und allein im Rahmen des im Mai 2013 gestellten Folgeantrags von der Klägerin zu 1 die Vorlage der letzten drei Verdienstbescheinigungen von S verlangt. An S selbst ist der Beklagte nicht herangetreten. Alle weiteren Unterlagen zum Einkommen von S in der Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2013 sind erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens beim SG bzw. beim LSG vorgelegt worden. Aufgrund des völligen Fehlens jeglicher Ermittlungen zu den konkreten Einkommensverhältnissen von S bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids handelt es sich damit um eine gänzlich neue Begründung des angefochtenen Bescheids vom 16.01.2014 und mithin um eine unzulässige Wesensänderung (vgl. BSG, a.a.O.). Auch für die im Berufungsverfahren übersandten Unterlagen zum Verdienst von S von Mai 2005 bis Dezember 2012 gilt, dass diese – ungeachtet der zweifelhaften Verwertbarkeit, weil sie offenbar ohne Einverständnis von S und nicht vom (früheren) Arbeitgeber stammen – erst lange nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens mit Ergehen des Widerspruchsbescheids vom Beklagten beschafft wurden. Daher sind diese Unterlagen nicht zu berücksichtigen und es waren weitere Ermittlungen von Amts wegen durch den Senat nicht veranlasst. Hinzu kommt, dass der Beklagte trotz Aufforderung durch den Senat nach wie vor keine Berechnungen zum monatlichen Bedarf, dem monatlich angenommenen Einkommen und etwaigen Absetzungen vorgelegt hat, obschon auch nach den inzwischen vorhandenen Unterlagen sich ohne Weiteres ersehen lässt, dass jedenfalls nicht im gesamten streitbefangenen Zeitraum bedarfsdeckendes Einkommen von S vorhanden gewesen ist. Auf dieser Grundlage lässt sich die vom Beklagten angenommene fehlende Bedürftigkeit nicht nachvollziehen.
Die Berufung des Beklagten hat nach alledem keinen Erfolg und war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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