Sozialrecht

Kostenerstattung, Vorrang-Nachrang-Verhältnis, Konkurrenz zwischen Jugend- und Sozialhilfeleistungen, Begriff der geeigneten Wohnform, Hilfe zur Erziehung

Aktenzeichen  M 18 K 17.5671

Datum:
10.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 35346
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 104
SGB VIII § 10
SGB VIII § 19
SGB VIII § 31

 

Leitsatz

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Gründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
Ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Kostenerstattung in Bezug auf die im Zeitraum 1. März 2016 bis 23. August 2018 bewilligten Leistungen des betreuten Einzelwohnens für die Hilfeempfängerin A.M. besteht nicht.
Als Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Kostenerstattung kommt vorliegend allein § 104 SGB X in Betracht.
§ 102 SGB X, auf den sich der Kläger zunächst im Verwaltungsverfahren berufen hat und wonach ein Leistungsträger erstattungsberechtigt ist, der aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat, ist hingegen nicht einschlägig. Der Kläger hat als Sozialhilfeträger nach §§ 53, 54 SGB XII (i.d.F. vom 27.12.2013 bzw. 29.8.2013) die Leistung originär und nicht lediglich vorläufig erbracht. Dass der Hilfeempfängerin ein Anspruch auf (sozialhilferechtliche) Eingliederungshilfe zustand, ist eindeutig und wurde vom Kläger auch nicht in Zweifel gezogen. Streitgegenständlich ist vorliegend allein die im Rahmen des § 104 SGB X zu behandelnde Frage, ob neben dem sozialhilferechtlichen Anspruch der Hilfeempfängerin auch ein – vorrangiger – Anspruch auf Jugendhilfe gegen den Beklagten bestand.
Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und – wie hier – weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 9.2.2012 – 5 C 3/11 – juris Rn. 26).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Zwar sieht § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII (in der im streitgegenständlichen Zeitraum gültigen Fassung vom 11.9.2012) einen grundsätzlichen Vorrang der Jugendhilfe vor Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, dem die sozialhilferechtlichen Eingliederungsleistungen hier unterfallen, vor. Eine Leistungspflicht des Beklagten nach jugendhilferechtlichen Vorschriften bestand im vorliegenden Fall jedoch nicht.
Der Hilfeempfängerin A.M. stand entgegen der Auffassung des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum kein Anspruch auf die von C. erbrachten Leistungen des betreuten Einzelwohnens nach § 19 SGB VIII zu.
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (i.d.F. vom 11.9.2012) sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
Die Betreuung der Hilfeempfängerin und deren Kinder, von denen das jüngste zumindest bei Beginn der Hilfe noch unter sechs Jahre alt war, unterfällt bereits nicht dem Anwendungsbereich des § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.
In der Praxis besteht hinsichtlich der von § 19 SGB VIII erfassten „Wohnform“ je nach Betreuungsintensität und abhängig vom Hilfebedarf der Mütter/Väter eine Vielfalt unterschiedlicher Konzeptionen und Modelle, die auch Wohnformen einbezieht, die in stärkerem Umfang auf Verselbstständigung und selbstverantwortliche Lebensführung ausgerichtet sind (vgl. Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 19 Rn. 11 f.; Telscher in: Schlegel/Voelzke, SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 2.8.2021, § 19 Rn. 44; Struck in: Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 19 Rn. 10). Grundsätzlich kann daher im Einzelfall auch die Betreuung im Rahmen des betreuten Einzelwohnens eine geeignete Wohnform i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII darstellen. Erforderlich ist dabei in Abgrenzung zu anderen (ambulanten) Hilfeformen jedoch die organisatorische, fachliche und personelle Anbindung an das Hilfesystem eines Trägers. Die Wohnung muss sich insoweit also als dezentraler Teil einer Einrichtung darstellen (vgl. DIJuF, JAmt 2019, 146, 147; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 19 Rn. 11).
Eine solche Organisationsform ist mit dem hier vorliegenden betreuten Einzelwohnen durch den Leistungserbringer C. nicht verbunden. Der Hilfeempfängerin obliegt ihre Lebensführung eigenverantwortlich; durch C. wird lediglich sozialpsychiatrische Betreuung und Begleitung geleistet, die zu vereinbarten Terminen in der eigenen Wohnung der Hilfeempfängerin stattfindet. Der Hilfe, die im Rahmen des § 19 SGB VIII geleistet wird, entspricht dies nicht. Allein die Tatsache, dass die Betreuung nach fachlichen Standards erfolgt, ist entgegen der Auffassung des Klägers unter Berufung auf das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Mai 2016 – Az.: L 8 SO 46/15 – nicht ausreichend für das Vorliegen einer Wohnform i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Abgesehen davon, dass diese vom Kläger getroffenen Schlussfolgerung der zitierten Entscheidung nicht zu entnehmen ist, ist dieser in ihrer Pauschalität nicht zu folgen. Eine Betreuung nach fachlichen Standards sollte in jedweder Betreuungsform erfolgen und ist als Abgrenzungskriterium damit untauglich. Dem Urteil, welches der Kläger als Stütze seiner Argumentation heranzieht, lag überdies ein mit dem vorliegenden nicht zu vergleichender Sachverhalt zugrunde. Das im dortigen Fall als Wohnform gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eingeordnete Einzelwohnen beschreibt das Landessozialgericht in seiner Entscheidung als „Teil eines Gesamtkonzeptes mit der stationären Einrichtung im gleichen Haus“, welches vorwiegend als Anschlussmaßnahme für Mütter, die zuvor eine klassische Mutter/Vater-Kind-Einrichtung besucht hätten, fungiere. Das Konzept des dort streitgegenständlichen betreuten Wohnens sehe eine ständige Leistungsbereitschaft wochentags und am Wochenende nach Absprache und eine Anknüpfung an die stationäre Einrichtung vor. Dass ein derartiges Konzept der Leistungserbringung hier nicht vorliegt, dürfte auf der Hand liegen. Im Rahmen des betreuten Wohnens werden im streitgegenständlichen Fall rein ambulante Betreuungsleistungen erbracht, ohne dass diese in irgendeiner Form an ein übergeordnetes Hilfesystem gekoppelt wären. Ein Anspruch der Hilfeempfängerin nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII scheidet daher bereits mangels Vorliegen einer geeigneten Wohnform aus.
Auch ein in Hinblick auf die erbrachten Leistungen denkbarer Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII, z.B. in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe, § 31 SGB VIII, ist vorliegend nicht gegeben. Eine für Hilfe zur Erziehung im Generellen notwendige erzieherische Mangellage ist in Hinblick auf die Hilfeempfängerin und deren Kinder nicht zu erkennen.
§ 27 Abs. 1 SGB VIII gewährt dem Personensorgeberechtigten bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Norm setzt demnach das Vorliegen einer erzieherischen Mangellage im Hinblick auf das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen voraus. Ob eine Mangellage vorliegt, bemisst sich daran, ob die Erziehung durch die Eltern dem Kindeswohl entspricht (vgl. Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. (Stand: 26.04.2021), § 27, Rn. 42). Werden die in der konkreten Familiensituation erreichbaren Standards für eine gelungene geistige, körperliche oder seelische Entwicklung des Kindes nicht erreicht und ist dadurch das Kindeswohl gefährdet, liegt ein Erziehungsdefizit vor. Das Defizit ist hierbei nicht am Maßstab eines erzieherischen Optimums (bestmögliche Erfüllung des Kindeswohls), sondern an dem des „erzieherischen Minimums“ (keine Gefährdung des Kindeswohls) zu messen (vgl. Kunkel/Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 27 Rn. 2).
Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall ein Erziehungsdefizit im Sinne einer (drohenden) Gefährdung für die geistige, körperliche oder seelische Entwicklung der beiden Kinder der Hilfeempfängerin im Leistungszeitraum vorlag, bestehen vorliegend nicht.
Laut dem ärztlichen Bericht vom 24. März 2016 hätten bei der Hilfeempfängerin, die sich in einem Zustand nach Polytoxikomanie (ICD-10: F 19.2 Z) befunden habe, ein depressives Syndrom mit Ängsten (ICD-10: F 41.1 G) sowie eine Anpassungsstörung bei schwieriger psychosozialer Lebenssituation (ICD-10: F 43.2 G, Z 73 G) vorgelegen. Die Fähigkeit der Hilfeempfängerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in den Bereichen „Arbeit, arbeitsähnliche Tätigkeiten“, „Tagesgestaltung, Freizeitgestaltung“ sowie „Kommunikation und soziale Beziehungen“ sei aufgrund dessen eingeschränkt bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen. Dementsprechend identifizierte auch der von C. erstellte Sozialbericht vom 28. April 2016 mehrere Problemlagen in verschiedenen Bereichen und legte als eines der Förderziele des betreuten Einzelwohnens u.a. die langfristige psychische und emotionale Stabilisierung der Hilfeempfängerin fest. Entgegen der Auffassung des Klägers beschreibt jedoch weder der Sozialbericht vom 28. April 2016 noch der HEB-Bogen vom 31. Mai 2016 (Teil A – Ergebnis der vorläufigen Hilfeplanung) oder vom 3. März 2017 (Teil B – Entwicklungsbericht) ein Erziehungsdefizit, welches die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII erforderlich gemacht hätte.
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die genannten Berichte (natürlich) auch die Lebenssituation der Hilfeempfängerin in Bezug auf die Beziehung zu ihren Kindern in den Blick nehmen. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX (in der insoweit mit der aktuellen Fassung vom 23. Dezember 2016 deckungsgleichen damals gültigen Fassung) sollen Leistungen zur Teilhabe – wie vorliegend das betreute Einzelwohnen – die persönliche Entwicklung des Hilfeempfängers ganzheitlich fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen oder erleichtern. Der ab 1. August 2018 geltende § 4 Abs. 4 SGB IX stellt überdies klar, dass Leistungen zur Teilhabe auch Leistungen für Mütter und Väter mit Behinderungen zur Versorgung und Betreuung ihrer Kinder umfassen (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucksache 18/9522 S. 228). Grundsätzlich muss also der im Rahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe Leistungsberechtigte „in seiner jeweiligen Lebenslage und seiner individuellen Beeinträchtigung berücksichtigt werden“ (vgl. BT-Drucksache 18/9522 S. 227). Dementsprechend wurden auch in der (sozialhilferechtlichen) Hilfeplanung vorliegend Aspekte aufgenommen, die die Mutter-Kind-Beziehung betreffen, ohne dass dies für sich genommen auf einen jugendhilferechtlichen Bedarf hinweist.
Des Weiteren verkennt das Gericht nicht, dass sowohl die Hilfeempfängerin selbst als auch der die Leistung erbringende Dienst der C. offensichtlich davon ausgingen, dass in Bezug auf das Verhältnis der Hilfeempfängerin zu ihren Kindern noch Verbesserungspotential bestand. So führt der Sozialbericht vom 28. April 2016 beispielsweise aus, dass die Hilfeempfängerin in Zukunft eigenständiger und eigenverantwortlicher für ihre kleine Familie sorgen können möchte. Auch nennt der HEB-Bogen vom 31. Mai 2016 als eines der Planungsziele „Stabilisierung und Sicherheit im Umgang mit den Söhnen“. Dass die Hilfeempfängerin durch die ergriffenen Maßnahmen – möglicherweise auch in erster Linie – ihren Söhnen eine bessere Mutter sein wollte, bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass bereits eine erzieherische Mangellage eingetreten war und die Hilfeempfängern eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht mehr gewährleisten konnte. Gerade dies müsste jedoch eindeutig feststellbar sein, um den sozialrechtlichen Eingliederungshilfebedarf von einem jugendhilferechtlichen Erziehungsbedarf abzugrenzen.
Unter Berücksichtigung des Sozialberichts und der HEB-Bögen sowie angesichts der Tatsache, dass der Beklagte im Jahr 2015 eine in der Familie installierte, bis dahin über sieben Jahre laufende sozialpädagogische Erziehungshilfe – nach eigenen Angaben erfolgreich – hat beenden können, ist ein erzieherischer Bedarf, der eine Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII nötig gemacht hätte, vorliegend abzulehnen. Die von § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII vorausgesetzte und für einen Anspruch nach § 104 SGB X erforderliche Vorrang-Nachrang-Konstellation zwischen Jugendhilfeleistungen und Leistungen der Sozialhilfe ist demnach nicht gegeben. Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils und die Abwendungsbefugnis haben ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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