Sozialrecht

Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben

Aktenzeichen  L 19 R 185/15

Datum:
28.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX SGB IX § 14 Abs. 1, § 33 Abs. 8 Nr. 4
SGB V SGB V § 36

 

Leitsatz

Die Bewilligung von Festbeträgen im Rahmen der Hörgeräteversorgung durch den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung beeinhaltet zugleich die Ablehnung der Übernahme von über den Festbetrag hinausgehenden Mehrkosten. Ein gleichartiger Leistungsantrag des Versicherten bei einem Rentenversicherungsträger kann in der Regel als Widerspruch gegen diese Ablehnung der Übernahme der Mehrkosten gesehen werden (BSG Urteil vom 24.01.2013 – B 3 KR 5/12 R). (Rn. 29 und 31)

Verfahrensgang

S 14 R 300/14 2015-02-11 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers hin werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 11.02.2015 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2014 aufgehoben.
II. Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG).
Sie ist im Ergebnis auch begründet. Das Urteil des SG Würzburg vom 11.02.2015 sowie der Bescheid der Beklagten vom 11.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2014 sind aufzuheben. Die Beklagte war für eine Entscheidung über die weitere Kostenerstattung für die Hörgeräteversorgung des Klägers nicht entscheidungsbefugt. Dies hat das SG verkannt. Gleichwohl kann eine Verurteilung der Beigeladenen im Wege des § 75 Abs. 5 SGG nicht erfolgen.
Der Kläger ist bei der C. abhängig beschäftigt und deshalb nach § 5 Abs. 1
Nr. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) versicherungspflichtig. Als Mitglied der Beigeladenen hat er nach § 11 Abs. 1 Nr. 4 iVm §§ 27 ff. SGB V im Falle des Eintritts einer Krankheit Anspruch auf Gewährung der gesetzlich vorgesehenen Leistungen. Eine Beeinträchtigung des Hörvermögens stellt unzweifelhaft eine Krankheit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Werden zum Ausgleich dieser Hörminderung Hörgeräte benötigt, sind diese nach Maßgabe des § 33 SGB V als Hilfsmittel Teil des Leistungsanspruchs des Klägers gegen die Beigeladene. Gemäß § 36 SGB V setzt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen einheitliche Festbeträge (ua) für Hörhilfen fest, wobei die Regelungen der Hilfsmittelverordnung bei der Versorgung zu beachten sind. Gemäß § 12 Abs. 2 SGB V erfüllt die Krankenkasse mit der Gewährung des festgesetzten Festbetrages grundsätzlich ihre Leistungspflicht, es sei denn, die besonderen Erfordernisse des Einzelfalles verlangen eine darüber hinausgehende besondere Leistung.
Gleichzeitig kann aber die Versorgung mit Hörgeräten auch eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben im Sinne des § 33 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX darstellen, für die eine Zuständigkeit eines Reha-Trägers im Sinne des § 6 SGB IX gegeben sein kann. Die Beklagte ist grundsätzlich denkbarer Reha-Träger nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Die Beigeladene hat dem Kläger mit Bescheid vom 20.06.2013 die Hörgerätefolgeversorgung in Höhe des Festbetrages grundsätzlich genehmigt. Ein Rechtsbehelf hiergegen wurde vom Kläger nicht ergriffen. Der Kläger hat vielmehr am 08.10.2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Übernahme der den Festbetrag übersteigenden Kosten gestellt, den die Beklagte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 11.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.03.2014 abgelehnt hat.
Das BSG hat aber mittlerweile wiederholt entschieden, dass der Leistungsantrag des Versicherten gegenüber seiner Krankenkasse im Zweifel umfassend auszulegen ist. Ist ersichtlich, dass der Versicherte eine Leistung über den Festbetrag hinaus begehrt, d. h. erkennbar eine besondere Hörgeräteversorgung oder eine volle Kostenübernahme wünscht, ist der Leistungsantrag bei der Krankenkasse auch zugleich als Antrag auf Gewährung einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, also im Rahmen einer Reha-Maßnahme, auszulegen, für die die besonderen Regelungen des § 14 SGB IX Anwendung finden. Die Krankenkasse, hier also die Beigeladene, ist als sog. erstangegangener Leistungsträger gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX verpflichtet, den Leistungsanspruch des Versicherten, so wie er sich aus seinem Antrag ergibt, unter jedem denkbaren rechtlichen Aspekt zu prüfen, also nicht nur unter den Voraussetzungen der Regelungen des SGB V für die gesetzliche Krankenversicherung, sofern der Antrag nicht innerhalb der Fristen des § 14 Abs. 1 SGB IX an den ihrer Meinung nach eigentlich zuständigen Leistungsträger abgegeben wird. Die Krankenkasse hätte dann gegebenenfalls einen Erstattungsanspruch gegen den eigentlich zuständigen Leistungsträger (vgl. hierzu grundlegend BSG Urteil vom 24.01.2013, Az B 3 KR 5/12 R, veröffentlicht bei juris).
Die Beigeladene hat vorliegend den Antrag des Klägers am 20.06.2013 erhalten und hat noch am selben Tag mit Bescheid vom 20.06.2013 die Festbeträge auf der Grundlage des § 33 SGB V bewilligt. Eine Abgabe des Antrags an die Beklagte ist innerhalb der Frist nach § 14 Abs. 1 SGB IX nicht erfolgt. Die Beigeladene hielt sich (zu Recht) für leistungszuständig und hat auch entschieden.
Das BSG hat des Weiteren aufgrund der besonderen rechtlichen Konstellation des § 14 SGB IX und der daraus folgenden umfassenden Leistungszuständigkeit des erstangegangenen Sozialleistungsträgers festgehalten, dass die Bewilligung von Festbeträgen durch den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zugleich die Ablehnung der Übernahme von über den Festbetrag hinausgehenden Mehrkosten beinhaltet, unabhängig davon, auf welcher Rechtsgrundlage ein Anspruch auf Übernahme weiterer Kosten resultieren könnte. Dem Bescheid der Beigeladenen vom 20.06.2013 kommt deshalb eine zweifache Regelung zu, nämlich die Bewilligung von Hörgeräten im Rahmen der Festbetragsregelung nach § 33 SGB V und zugleich aber auch die Ablehnung der über den Festbetrag hinausgehenden Kosten für eine Hörgeräteversorgung. Der Kläger ist durch die (konkludente) Ablehnung der Beigeladenen auf Übernahme der Mehrkosten auch belastet.
Bereits aufgrund der Hörgeräteversorgung im Jahr 2007 hätte die Beigeladene sich veranlasst sehen müssen, zu klären, ob der Kläger wiederum eine besondere Hörgeräteversorgung benötigte oder für erforderlich hielt, nachdem bereits dort der besondere berufliche Bezug vom Kläger geltend gemacht worden war und auch Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens gewesen war. Dies hat die Beigeladene jedoch nicht getan. Der Antrag des Klägers bei der Beklagten vom 08.10.2013 macht ebenfalls deutlich, dass der Kläger eine umfassende Prüfung seines Anspruchs auf Hörgeräteversorgung wollte, also auch eine Kostenübernahme im Wege einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben.
Wegen des Entscheidungsinhalts des Bescheids der Beigeladenen vom 20.06.2013 ist – so auch die Ansicht des BSG – der Antrag des Klägers vom 08.10.2013 bei der Beklagten als Widerspruch gegen den ablehnenden Teil des Bescheids der Beigeladenen vom 20.06.2013 zu werten. Da die Beigeladene dem Bescheid keine Rechtsbehelfsbelehrung:beigefügt hat, beginnt mit Bekanntgabe des Bescheids nach § 66 Abs. 2 SGG eine Jahresfrist zu laufen. Der Antrag des Klägers vom 08.10.2013 ist innerhalb der Jahresfrist gestellt worden, so dass bei der Beigeladenen immer noch der Widerspruch gegen den Bescheid vom 20.06.2013 anhängig ist, mit dem (konkludent) die Übernahme der Mehrkosten von der Beigeladenen abgelehnt worden war. Über diesen Widerspruch wurde bislang von der Beigeladenen noch nicht entschieden.
Eine Entscheidung über den Widerspruch des Klägers vom 08.10.2013 kann auch nicht in dem (bestandskräftigen) Bescheid der Beigeladenen vom 03.07.2014 gesehen werden, den die Beigeladene wegen eines weiteren Antrags des Klägers vom 06.04.2013 erlassen hatte. Die Ablehnung eines Antrags ist keine Entscheidung über einen Widerspruch, zudem hat auch das zuständige Gremium nicht über einen Widerspruch entschieden. Aufgrund dieses noch bei der Beigeladenen anhängigen Widerspruchsverfahrens ist eine Entscheidung des Senats auf der Grundlage des § 75 Abs. 5 SGG nicht möglich.
Die Beklagte wiederum war nicht befugt, über den Antrag des Klägers vom 08.10.2013 zu entscheiden, weil das Verfahren nach wie vor beim sog. erstangegangenen Leistungsträger, der Beigeladenen, anhängig war. Sie hätte deshalb den hier streitgegenständlichen Bescheid vom 11.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.03.2014 nicht erlassen dürfen, sondern hätte das Verfahren – wie sie dies ja auch nach Erlass der Bescheide getan hat – an die Beigeladene zur weiteren Entscheidung abgeben müssen. Mangels Entscheidungskompetenz ist der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 11.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.03.2014 aufzuheben und infolge dessen auch das Urteil des SG vom 11.02.2015.
Im Übrigen hat der Kläger aber auch keinen Anspruch auf Übernahme der über den von der Beigeladenen bewilligten Festbetrag hinausgehenden Kosten. Ein weitergehender Anspruch auf der Grundlage der §§ 33, 36 SGB V gegen die Beigeladene selbst besteht nicht, weil das vom Kläger gewünschte Hörgerät im Hilfsmittelverzeichnis unter der Nr. 13.20.12.1781 gelistet ist und dieses Hörgerät also zu Lasten der Beigeladenen zum Festbetrag abgegeben werden kann. Insoweit besteht rechtlich keine Verpflichtung der Beigeladenen, die vom Hörgeräteakustiker angesetzten Mehrkosten zu übernehmen. Gegebenenfalls ist aber ein Akustiker zu benennen, der das gewünschte Gerät zum Festbetrag abgeben würde.
Soweit der Kläger eine besondere berufliche Betroffenheit geltend gemacht hat, hat das SG in seinem Urteil zu Recht darauf hingewiesen, dass eine besondere berufliche Betroffenheit, die einen entsprechenden Anspruch gegen die Beklagte auf der Grundlage des § 33 Abs. 8 Nr. 4 SGB IX begründen könnte, vorliegend nicht gesehen werden kann. Der Behinderungsausgleich durch die gewünschte Hörgeräteversorgung umfasst den sogenannten unmittelbaren Behinderungsausgleich, der von der gesetzlichen Krankenkasse mit dem Ziel des vollständigen funktionellen Ausgleichs geleistet werden muss. Die Beigeladene wäre deshalb verpflichtet, dem Kläger die erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen, die ihm ein Hören und Verstehen in großen Räumen und bei störenden Nebengeräuschen ermöglichen und hierzu die nach dem Stand der Hörgerätetechnik jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen. Dies schließt auch die Versorgung mit digitalen Hörgeräten ein (BSG, Urteil vom 30.10.2014, Az. B 5 R 8/14 R, veröffentlicht bei juris). Wie oben bereits ausgeführt, sind die vom Kläger gewünschten und getesteten Hörgeräte Siemens Aquaris 7mi im Hilfsmittelverzeichnis gelistet und können zum Festbetrag abgegeben werden. Der benötigte Ausgleich der Hörminderung betrifft aber beim Kläger nicht ausschließlich seine besondere berufliche Situation, sondern ist auch für alltägliche Lebenssituationen erforderlich. Darüber hinaus ist aber auch die berufliche Betroffenheit des Klägers dadurch aktuell nicht mehr gegeben, weil er seit 25.05.2016 von der Arbeitsleistung freigestellt ist und das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2017 beendet worden ist. Ein neues Arbeitsverhältnis, bei dem sich gegebenenfalls die Frage der besonderen beruflichen Betroffenheit erneut stellen könnte, ist der Kläger noch nicht eingegangen.
Nach Änderung des Klageantrages im Rahmen des Erörterungstermins vom 20.07.2016 ist unter Berücksichtigung der genannten Rechtsprechung des BSG die Berufung insoweit erfolgreich, als der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 11.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2014 mangels Entscheidungskompetenz der Beklagten aufzuheben war, und in Folge dessen auch das Urteil des SG Würzburg vom 11.02.2015.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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