Sozialrecht

Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben

Aktenzeichen  L 19 R 8/16

Datum:
25.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 131468
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1, § 16
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Für die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, welche Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (Umschulung) im Einzelnen zu gewähren ist, ist eine Prognoseentscheidung zu treffen, die gerichtlich nur eingeschränkt dahingehend zu überprüfen ist, ob die Beklagte bei ihrer Prognoseentscheidung alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hat und ob diese Prognose im Zeitpunkt ihrer Entscheidung offensichtlich unrichtig gewesen ist. (Rn. 49)

Verfahrensgang

S 3 R 11/15 2015-12-07 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten hin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.12.2015 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 04.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2014 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). Sie ist auch begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.12.2015 ist rechtswidrig. Die Klägerin kann im Wege des Überprüfungsantrags nach § 44 SGB Xkeine Aufhebung des Bescheids vom 02.09.2013 verlangen. Der hier streitgegenständliche Bescheid vom 04.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2014, mit dem eine Aufhebung des bestandskräftigen Bescheids vom 02.09.2013 von der Beklagten abgelehnt wurde, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Entgegen der Ansicht des SG ist § 44 Abs. 1 SGB X die relevante Anspruchsgrundlage, da die Klägerin von der Beklagten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Umschulung zur Podologin wollte. Dies hatte die Beklagte mit dem Bescheid vom 02.09.2013 ausdrücklich abgelehnt, so dass die von der Klägerin gewünschte Sozialleistung in Form der notwendigen Sachleistungen zur beruflichen Umschulung nicht erbracht wurde.
Gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Die Beklagte ist bei Erlass des Bescheids vom 02.09.2013 aber nicht von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen und hat auch das Recht nicht unrichtig angewendet.
Zwischen den Beteiligten war unstreitig, dass die Klägerin aufgrund ihrer psychischen Erkrankung ihren bisherigen Beruf als Arzthelferin nicht mehr verrichten könne und dass dem Grunde nach Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich waren. Die Beklagte hat dementsprechend mit bestandskräftigem Bescheid vom 21.08.2013 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach bewilligt. Fraglich war aber zwischen den Beteiligten, welche berufliche Rehabilitation für die Klägerin in Betracht zu ziehen war. Entgegen der Ansicht des SG hatte die Beklagte dabei sehr wohl die von der Klägerin gewünschte Umschulung zur Podologin in ihre Entscheidung mit einbezogen. Sie hat hierbei die bei der Klägerin bestehenden psychischen und orthopädischen Erkrankungen berücksichtigt und nach Einholung einer prüfärztlichen Stellungnahme diese berufliche Tätigkeit als auf Dauer nicht leidensgerecht abgelehnt.
Entscheidend ist hierbei, dass für die Entscheidung der Beklagten, welche Leistung zur Teilhabe im Einzelnen zu gewähren ist, eine Prognoseentscheidung zu treffen ist, die gerichtlich nur eingeschränkt dahingehend zu überprüfen ist, ob die Beklagte bei ihrer Prognoseentscheidung alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt hat und ob diese Prognose im Zeitpunkt ihrer Entscheidung offensichtlich unrichtig gewesen ist (vgl. auch BSG, Urteil vom 11.05.2000, B 8 AL 18/99 R, veröffentlicht bei juris).
Die Beklagte hat alle relevanten Gesichtspunkte in ihre Prognoseentscheidung eingestellt.
Eine offensichtlich unrichtige Prognoseentscheidung der Beklagten, die dem Bescheid vom 02.09.2013 zu Grunde lag, liegt nicht vor.
Die Beklagte hatte die Notwendigkeit der beruflichen Neuorientierung der Klägerin akzeptiert, nachdem sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen und dem Reha-Entlassungsbericht der R.Klinik H., Bad K., doch eine erhebliche psychische Erkrankung der Klägerin dokumentierte, nämlich eine Persönlichkeitsstörung vom Borderline Typus mit rezidivierenden depressiven Episoden. Die R.Klinik wies darauf hin, dass die Klägerin aufgrund ihrer psychischen Erkrankung eine klare Struktur sowohl in Bezug auf die Arbeitsanforderungen als auch auf die sozialen Strukturen im Arbeitsumfeld benötige. Zu vermeiden waren „helfende Tätigkeiten“ mit ständig wechselndem Kontakt zu Patienten, notwendig war eine sachbezogene Tätigkeit mit weitgehender Selbständigkeit der Klägerin, ohne strikten hierarchischen Strukturen unterworfen zu sein. Die Tätigkeit einer Podologin ist unzweifelhaft eine Tätigkeit aus dem Bereich der ärztlichen Hilfsberufe. Nach der Beschreibung der Tätigkeit im berufenet der Bundesagentur für Arbeit führen Podologen auf ärztliche Anordnung oder unter ärztlicher Aufsicht Behandlungsmaßnahmen am Fuß durch. Sie erkennen pathologische Veränderungen, die eine medizinische Behandlung erfordern, sie erbringen vorbeugende und pflegerische Maßnahmen am Fuß und sie behandeln Hühneraugen, Verhornungen sowie alle Arten von Nagelmissbildungen (aus berufenet, Tätigkeit der Podologin).
Unzweifelhaft handelt es sich also um einen helfenden Beruf mit intensivem Kontakt zu den einzelnen Patienten und wechselnden Situationen im Hinblick auf die Person des Patienten, dessen Erkrankung und den Räumlichkeiten, an denen die Behandlung stattfindet. Ferner erfolgt die Behandlung auch nach ärztlicher Verordnung und unter ärztlicher Überwachung und damit in einer vergleichbaren Situation, die die Klägerin selbst als „seelische Prostitution“ umschrieben hatte. Es handelt sich sicherlich nicht um eine sachbezogene (sachorientierte) Tätigkeit mit klaren Strukturen mit weitestgehender Selbstbestimmung.
Die Beklagte hatte aufgrund des von der Klägerin eingelegten Widerspruchs gegen den Bescheid vom 02.09.2013 die Notwendigkeit einer Arbeitserprobung im bfw gesehen, der sich die Klägerin auch unterzogen hat. Aber auch im Rahmen dieser Arbeitserprobung wurden seitens des bfw erhebliche Zweifel an der Eignung der Klägerin für die Tätigkeit einer Podologin gesehen und darauf hingewiesen, dass vor einer Entscheidung gegebenenfalls eine 3monatige Erprobung im Beruf als Podologin in einem anderen bfw erfolgen müsste. Die bei der Klägerin bestehenden psychischen Einschränkungen wurden auch zu diesem Zeitpunkt als erheblich umschrieben. Zu dieser Testung ist es jedoch nicht mehr gekommen, nachdem die Klägerin selbst den Wunsch äußerte, eine Umschulung zur Verwaltungsfachangestellten in M-Stadt aufnehmen zu wollen und nach entsprechender Bewilligung durch die Beklagte ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.09.2013 zurücknahm.
Neue Erkenntnisse gegenüber der Entscheidungslage bei Erlass des Bescheids vom 02.09.2013, mit dem die Umschulung zur Podologin abgelehnt worden war, lagen im Zeitpunkt des von der Klägerin gestellten Überprüfungsantrags nicht vor, weder rechtlich noch sachlich. Im Gegenteil: das bfw M-Stadt beschrieb in seiner Vorab-Mitteilung über den Reha-Vorbereitungslehrgang, dass die Klägerin nach den aktuellen Eindrücken in ihrer jetzigen Verfassung nicht vorstellbar in einer dieser späteren Berufstätigkeiten sei. Sowohl Kundenkontakt bei der Tätigkeit als Podologin als auch der Umgang in Hierarchien insbesondere mit Vorgesetzten bei der Tätigkeit als Verwaltungsfachangestellte wurden als hochproblematisch eingestuft. Die Beklagte holte zudem eine Stellungnahme der Leiterin der Berufsfachschule für Podologie ein, die mit Schreiben vom 23.06.2014 darauf hinwies, dass Hausbesuche erforderlich seien und nur bedingt vermieden werden könnten, dass eine gehobene Verantwortung im Sinne einer Eigenverantwortung des Podologen gegenüber dem Patienten bestehe, Entscheidungen selbstständig im rechtlichen Rahmen zu treffen. Dies könne zumindest dadurch reduziert werden, indem man bei unklaren Diagnosen oder komplizierten Krankheitsbildern den Patienten an entsprechende Fachärzte verweise und eng mit den behandelnden Ärzten zusammenarbeite und deren Therapie- und Behandlungsanweisungen umsetze. Ferner benötige man eine sorgfältige wirtschaftliche Analyse, eine gesicherte Finanzierung, gutes Zeitmanagement, Selbstdisziplin und sehr strukturiertes Vorgehen. Gerade die hier aufgezeigte Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten der Patienten und der Umsetzung von deren Therapievorschlägen stellt aber die Situation dar, die zu einer psychischen Dekompensation der Klägerin in der Vergangenheit geführt hat und die sie selbst als „seelische Prostitution“ bezeichnet hatte.
Soweit das SG unter Hinweis auf das Gutachten von Dr. K. vom 07.09.2015 die Tätigkeit einer Podologin als grundsätzlich geeignet und damit in die Ermessensausübung einzubeziehend gewertet hat, kommt es hierauf nicht an.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 25.10.2017 darauf hingewiesen, dass der Senat nicht an die Bewertung des Sachverständigen Dr. K. gebunden ist. Sie ist für den Senat auch nicht überzeugend. Der Sachverständige Dr. K. gelangte nach einer ausführlichen Untersuchung und Darlegung der psychischen Problematik der Klägerin zu dem Ergebnis, dass eine deutliche kombinierte Persönlichkeitsstörung mit sehr auffälliger Selbst- und Weltsicht gegeben, das psychische und psychosomatische Funktionsniveau der Klägerin deutlich reduziert und eine deutliche Einengung der Stressresistenz und der Frustrationstoleranz und auch der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit gegeben ist. Die Klägerin habe keine Verantwortungskompetenz, d.h. sie könne sicherlich keine Tätigkeiten mit Führungsverantwortung übernehmen. Es handle sich um eine sehr schwerwiegende Persönlichkeitsstörung mit sehr auffälligen Interaktionsmustern. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass eine Konstanz der Beschwerden im Bericht der Klägerin nicht eindeutig gegeben sei, insbesondere im Hinblick auf die sozialen Schwierigkeiten, und dass sich Hinweise für Inkonsistenzen und eine leichte negative Antwortverzerrung im psychiatrischen Befund gefunden hätten. Trotz dieses Befundes gelangt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Tätigkeit geeignet wäre, weil der Publikumsverkehr auf eine Zweierbeziehung reduzierbar sei und hierarchische Strukturen vermieden werden könnten. Die Klägerin könne eine strukturierte sachbezogene Tätigkeit im Beruf der Podologin realisieren. Zur Frage der Vermeidung eines helfenden Berufs in der Zukunft – wie bereits in den Berichten der Klinik W-Stadt und im Rahmen der stationären medizinischen Rehabilitation im Juli 2013 ausgeführt – und der notwendigen Unterordnung unter ärztliche Diagnosen und Behandlungsvorgaben erklärt sich der Sachverständige nicht.
Dies kann jedoch dahingestellt bleiben, weil die nachträgliche Leistungseinschätzung von Dr. K. die Frage der Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der von der Beklagten im September 2013 getroffenen Prognoseentscheidung nicht zu beeinflussen vermag. Aspekte, die in diese Prognoseentscheidung zwingend mit hätten einfließen müssen und die die Beklagte nicht beachtet hätte, sind aus dem Gutachten von Dr. K. nicht zu entnehmen.
Die Beklagte hat im Übrigen auch zutreffend darauf hingewiesen, dass Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nur dann erbracht werden dürfen, wenn der Versicherte dadurch in der Lage ist, sämtliche Bereiche einer Umschulungstätigkeit zu verrichten. Tätigkeiten als Podologin sind auch und vor allem in abhängiger Beschäftigung möglich und auch üblich. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass insbesondere eine selbständige Tätigkeit zusätzliche belastende Faktoren mit sich bringt, wie etwa den wirtschaftlichen Erfolgsdruck, die Auseinandersetzung mit Abrechnungsstellen, Patienten, Ärzten, Finanzamt etc., dass aber eine Umschulung in einen Beruf, der nur in Form der Selbständigkeit ausgeübt werden kann, gerade nicht den Anforderungen entspricht, nach denen die Beklagte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den §§ 9 ff. SGB VI zu erbringen hat.
Die von der Beklagten vor Erlass des Bescheids vom 02.09.2013 getroffene Prognoseentscheidung wird auch nicht dadurch rechtlich offensichtlich unrichtig, dass die Klägerin zwischenzeitlich die Ausbildung zur Podologin auf eigene Kosten durchgeführt und zwischenzeitlich auch die Prüfung bestanden hat. Nachträglich Umstände vermögen die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Prognoseentscheidung nicht zu beeinflussen. Der Abschluss einer Ausbildung als solcher ist auch kein Indiz dafür, dass dieser Beruf – auch in abhängiger Tätigkeit – von der Klägerin auf Dauer verrichtet werden kann und leidensgerecht ist.
Es kann – nachdem es sich um die Berufung der Beklagten gegen den sie verurteilenden Gerichtsbescheid des SG Bayreuth vom 07.12.2015 handelt – auch dahingestellt bleiben, ob die Klägerin infolge der abgeschlossenen Ausbildung überhaupt noch ein Rechtsschutzbedürfnis geltend machen könnte und sich der Bescheid vom 04.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2014 gegebenenfalls bereits anderweitig erledigt haben könnte. Aufgrund der abgeschlossenen Ausbildung kann die Klägerin von der Beklagten nicht mehr die Erbringung von Leistungen zur Teilhabe in Form der Umschulung zur Podologin mehr verlangen, weil sie bereits den Abschluss als Podologin innehat. Der Sachleistungsanspruch würde sich gegebenenfalls in einen Kostenerstattungsanspruch nach § 15 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wandeln. Hierfür wäre aber notwendig, dass die Beklagte eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht hat oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Eine unaufschiebbare Leistung lag nicht vor. Eine Ablehnung zu Unrecht ebenfalls nicht.
Nach alledem ist auf die Berufung der Beklagten hin der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.12.2015 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 04.07.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2014 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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