Sozialrecht

Leistungen, Einkommen, Bewilligung, Behinderung, Arzt, Berufung, Bescheid, Bedarfsgemeinschaft, Altersrente, Widerspruchsbescheid, Merkzeichen, Verwaltungsverfahren, Regelbedarf, Attest, Grad der Behinderung, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, Sicherung des Lebensunterhalts

Aktenzeichen  L 7 AS 146/17

Datum:
21.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34351
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

S 46 AS 1361/10 2016-09-29 SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 29. September 2016 und der Bescheid vom 17. Dezember 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2010 abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2010 Leistungen iHv 161 EUR monatlich zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist im tenorierten Umfang begründet.
1. Der Senat konnte ungeachtet des Ablehnungsgesuchs gegen seinen Vorsitzenden unter dessen Mitwirkung verhandeln und entscheiden. Abweichend von § 60 Abs. 1 SGG iVm § 45 Abs. 2 ZPO darf der abgelehnte Richter selbst über ein missbräuchliches oder sonst offensichtlich unzulässiges Ablehnungsgesuch mitentscheiden (Keller in Meyer-Ladewig ua, SGG, 12. Aufl 2017, § 60 RdNr. 10d); in solchen Fällen bedarf es keiner gesonderten Entscheidung über das Ablehnungsgesuch (vgl BSG, Beschluss vom 21.9.2017 – B 14 AS 4/17 B – RdNr. 9). Das am 19.11.2019 und damit nur zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung gegen den Senatsvorsitzenden angebrachte Ablehnungsgesuch ist rechtsmissbräuchlich, weil damit offensichtlich nicht bewirkt werden soll, einen Richter vom Verfahren auszuschließen, sondern eine (abgelehnte) Vertagung zu erreichen. Rechtsmissbrauch liegt dann vor, wenn die Verweigerung einer Terminverlegung – sogar wenn sie zu Unrecht erfolgt ist – zum Anlass genommen wird, durch Anbringung eines auf diese Verweigerung gestützten Ablehnungsgesuchs – gewissermaßen in letzter Minute – eine Terminverlegung doch noch zu erzwingen (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 3.3.2007 – L 1 U 809/01 – RdNr. 31 nach juris mwN). Dass dies allein das angestrebte Ziel des Klägerbevollmächtigten war, ergibt sich aus den Gesamtumständen. Er musste spätestens mit Zugang der richterlichen Verfügung vom 6.11.2019 (also spätestens am 8.11.2019) wissen, dass der Senatsvorsitzende an dem Termin vom 21.11.2019 festhielt; trotzdem hat er erst zwei Tage davor das Befangenheitsgesuch gestellt. Damit lässt die Klägerin schließlich ihre Vorgehensweise im Zusammenhang mit der zunächst für den 6.6.2019 terminierten mündlichen Verhandlung (dort: Befangenheitsantrag am 4.6.2019 gegen die Berichterstatterin) wiederholen. Eine solche Vorgehensweise, die „nur“ als „Notbremse“ benutzt werden soll, ist von der Rechtsordnung nicht gedeckt. Das Gesuch ist weiter offensichtlich unzulässig, soweit die Klägerin ihr Befangenheitsgesuch auf die mangelnde Sachkenntnis des Vorsitzenden stützt. Hierbei handelt es sich um eine Wertung ohne tatsächliche Substanz und jegliche Bezugnahme zum vorliegenden Verfahren.
2. Der Senat konnte die Streitsache in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, da sie mit der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt, Beweis erhoben und entschieden werden kann (vgl § 153 Abs. 1 iVm § 126 SGG). Für eine Aufhebung des Termins im Hinblick darauf, dass die Klägerin um eine Verlegung gebeten hatte, bestand kein Anlass. Soweit die Klägerin und ihr Bevollmächtigter vortragen, krankheits- bzw behinderungsbedingt nicht erscheinen zu können, lag es an ihnen, Vorsorge für eine geeignete Vertretung zu treffen (vgl Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 8.2.2017 – L 17 U 256/15 – RdNr. 27 zitiert nach juris). Hierauf wurde die Klägerin schließlich bereits mit Schreiben des Gerichts vom 5.8.2019 hingewiesen. Die Klägerin hat schließlich durch die Vorlage der Absage eines einzigen Rechtsanwalts über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten nicht dargelegt, ausreichende Vorsorge für eine geeignete Vertretung getroffen zu haben.
3. Die Berufung ist im tenorierten Umfang begründet, soweit sie auf höhere Leistungen im Zeitraum Januar bis Juni 2010 abzielt. Im Übrigen ist sie unbegründet, da die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung insoweit nicht zu beanstanden ist.
I.
Die auf höhere laufende Leistungen im Zeitraum Januar bis Juni 2010 gerichtete Berufung bzw Klage ist im Hinblick auf die Berechnung des Unterkunftsbedarfs bzw die im streitigen Zeitraum noch geltenden Rundungsregelung in geringem Umfang begründet, nicht hingegen im Hinblick auf die im wesentlichen streitigen Mehrbedarfe.
a) Die Klägerin und ihr Ehemann bilden eine sog gemischte Bedarfsgemeinschaft. Hierzu hat das BSG unter dem 15.4.2008 entschieden, dass bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit von dem Einkommen des nicht leistungsberechtigten Mitglieds dessen eigener Bedarf nach dem SGB II abzuziehen sei. Der ungedeckte Gesamtbedarf wächst entgegen der Verteilregelung in § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II allein dem leistungsberechtigten Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu (BSG, Urteil vom 15.4.2008 – B 14/7b AS 58/06 R). Davon dürften grds auch die angefochtenen Bewilligungsentscheidungen ausgegangen sein. Allerdings werden dort zunächst die Gesamtunterkunftskosten um die Gesamtwarmwasserpauschale bereinigt und dann auf die drei Haushaltsmitglieder verteilt. Insoweit ist die Bewilligung zu korrigieren, nachdem zunächst die Gesamtunterkunftskosten auf die Haushaltsmitglieder zu verteilen sind und erst der jeweilige Anteil um die „persönliche“ Warmwasserpauschale zu bereinigen ist (vgl BSG, aaO, RdNr. 35). Die entsprechende Korrektur wirkt sich geringfügig zugunsten der Klägerin aus:
Berechnung des den Bedarf des Ehemanns übersteigenden Einkommens:
nach dem SGB II bereinigtes Einkommen des Ehemanns: 869,15 EUR – 30 EUR (Versicherungspauschale) = 839,15 EUR abzgl Bedarf des Ehemanns nach dem SGB II; Regelbedarf für Partner – 323 EUR 1/3 Kopfteil der KdU iHv 550 EUR – 183,33 EUR zzgl der Kosten der Warmwasserbereitung + 5,82 EUR übersteigendes Einkommen: 339,15 EUR
Hieraus errechnet sich folgender ungedeckter Bedarf der Klägerin:
Regelbedarf für Partner 323 EUR 1/3 Kopfteil der KdU iHv 550 EUR + 183,33 EUR abzgl der Kosten der Warmwasserbereitung – 5,82 EUR Bedarf der Klägerin 500,51 EUR abzgl übersteigendes Einkommen des Ehemanns – 339,15 EUR ungedeckter Bedarf: 161,36 EUR
Unter Anwendung der im streitigen Zeitraum noch geltenden Rundungsregelung nach § 41 Abs. 2 SGB II in der bis zum 31.3.2011 geltenden Fassung, beträgt der monatlich Anspruch 161 EUR monatlich. Dementsprechend waren die angefochtenen Entscheidungen zu korrigieren.
b) Im Ergebnis kann die Klägerin aber mit ihrem eigentlichen Begehren nicht durchdringen, nachdem weder bei ihr selbst noch bei ihrem Ehemann Mehrbedarfe zu berücksichtigen waren.
aa) Ein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen krankheitsbedingt kostenaufwändiger Ernährung (§ 21 Abs. 5 SGB II) ist nicht festzustellen. Die von der Klägerin selbst vorgelegten Atteste hierzu sind nicht aussagekräftig. So wird im Attest für die Klägerin zwar das Bestehen einer verzehrenden Krankheit behauptet, die Krankheit selbst aber nicht genannt. Soweit in der Folge zwar verschiedene Erkrankungen konkret genannt werden, wird nicht angegeben, welche besondere, insbesondere von der in der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts bereits berücksichtigten Vollkost abweichende Ernährung verordnet wurde. Die Bewertung durch den behandelnden Arzt, dass eine vermehrte finanzielle Belastung bestehe, ergibt sich aus diesen Angaben gerade nicht und kann deshalb einen Mehrbedarf nicht begründen. Dass aufgrund der vom behandelnden Arzt benannten Diagnosen eine von der Vollkost abweichende Ernährung erforderlich ist, wurde schließlich auch vom medizinischen Dienst der Bundesagentur nicht festgestellt. Entsprechendes gilt hinsichtlich der für den Ehemann vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen.
b) Auch ein Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung besteht nicht. Insoweit ist insbesondere weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass der Klägerin im streitigen Zeitraum Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 3 SGB XII erbracht wurden (vgl § 21 Abs. 4 S. 1 SGB II). Dass noch anderweitige Mehrbedarfe wegen Schwerbehinderung zugunsten der Kläger vorliegend in Betracht kommen könnten, ist nicht ersichtlich.
c) Entsprechendes gilt für den Ehemann der Klägerin. Insoweit ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass dieser – trotz des ihm zuerkannten Merkzeichens G – die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf nach § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 SGB II nicht erfüllt. Nach der für den streitigen Zeitraum maßgebenden Fassung erhalten nichterwerbsfähige Personen, die voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind, einen Mehrbedarf von 17 vom Hundert der nach § 20 maßgebenden Regelleistung, wenn sie Inhaber eines Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G sind ( …). Diese Voraussetzungen erfüllt der Ehemann der Klägerin nicht, da er im streitigen Zeitraum zwar eine Altersrente wegen Schwerbehinderung bezog, eine volle Erwerbsminderung nach dem SGB VI aber weder von ihm selbst behauptet noch (von der zuständigen Behörde) festgestellt wurde. Die Anknüpfung des Mehrbedarfs an die volle Erwerbsminderung nach dem SGB VI erfolgte zum 1.1.2009 und soll gerade das Entstehen eines Mehrbedarfs bei Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft, die aufgrund ihres Alters zwar nicht mehr erwerbsfähig iS des SGB II, aber nicht voll erwerbsgemindert nach dem SGB VI sind, ausschließen (vgl BT-Drs 16/10810 S. 49; BSG, Urteil vom 6.5.2010 – B 14 AS 3/09 R). Entsprechendes gilt schließlich für erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die Inhaber eines Ausweises mit dem Merkzeichen G sind. Allein eine Schwerbehinderung und die Zuerkennung des Merkzeichens G kann damit den Mehrbedarf nicht begründen (vgl BSG, Urteil vom 21.12.2009 – B 14 AS 42/08 R – RdNr. 23ff; Urteil vom 15.12.2010 – B 14 AS 44/09 R – RdNr. 16).
II.
Die Berufung ist unbegründet, soweit die Klägerin Leistungen in Form einer Erstausstattung für ihren defekten Elektroherd begehrt. Insoweit hat das Sozialgericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, nachdem diese bereits unzulässig ist.
a) Bei den von der Klägerin begehrten Leistungen für einen Elektroherd als Teil der Erstausstattung nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II – nur hierauf ist das Klagebegehren zuletzt noch gerichtet – handelt es sich um einen eigenständigen, abtrennbaren Streitgegenstand, über den isoliert und erstmals unabhängig von den übrigen Grundsicherungsleistungen entschieden werden kann (vgl BSG, Urteil vom 24.2.2011 – B 14 AS 75/10 R – RdNr. 9 mwN).
b) Einer Sachentscheidung des Senats steht vorliegend allerdings das Fehlen des als Klagevoraussetzung von Amts wegen zu prüfende Rechtsschutzbedürfnisses entgegen, nachdem die Klägerin zwischenzeitlich (mehrmals) umgezogen ist und der Beklagte für die von der Klägerin Ende Mai/Anfang Juni 2011 bezogene Wohnung Leistungen für die (Erst-) Ausstattung der dortigen Küche inkl eines Elektroherdes gewährte.
aa) Ein Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn die Klägerin mit ihrer Anfechtungs- und Leistungsklage ein „berechtigtes Interesse“ geltend machen kann und dieses nicht auf einfachere und schnellere Art und Weise zu erreichen ist (Bezug nehmend auf § 55 Abs. 1 SGG am Ende vgl BSG, aaO, RdNr. 10).
bb) Ein solches Rechtsschutzbedürfnis hatte die Klägerin zweifelsohne, solange sie in der Wohnung in der M-Straße lebte und über einen (teilweise) defekten Elektroherd verfügte. Indem sie aber aus dieser Wohnung aus- und in eine Wohnung mit Küche einzog, für deren (Erst-) Ausstattung inkl Elektroherd der Beklagte Leistungen gewährte (vgl Bescheid vom 7.4.2011, Bl 434 der Beklagtenakte), ist dieses Rechtschutzbedürfnis entfallen. Der der streitigen Leistung zugrundeliegende Bedarf hat sich damit erledigt. Die auf die Leistungen für einen Elektroherd gerichtete Klage ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden. Die Berufung der Klägerin muss damit insoweit ohne Erfolg bleiben.
cc) Nachdem die Klägerin zwischenzeitlich 72 Jahre alt ist, ist sie nicht mehr nach dem SGB II leistungsberechtigt. Es besteht damit keine Gefahr, dass eine gleichartige Entscheidung (durch den Beklagten) ergeht. Da anderweitige Gesichtspunkte, die ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründen könnten, weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich sind, wäre auch eine Umstellung der Klage in eine Fortsetzungsfeststellungsklage nicht zielführend. Entsprechendes gilt für die Umstellung des Klageantrags auf eine Erstattung der Kosten für eine zwischenzeitlich erfolgte Beschaffung des Herdes aus eigenen Mitteln. Es ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass eine solche bis zum Auszug aus der M-Straße erfolgt ist.
III.
Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend, soweit die Klägerin darlehensweise Leistungen für die Kosten einer anwaltlichen Beratung zum Erhalt ihrer Ende Mai/Anfang Juni 2011 aufgegebenen Wohnung in der M-Straße geltend macht. Damit ist auch insoweit die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts im Ergebnis nicht zu beanstanden, so dass die Berufung zurückzuweisen ist.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass das Obsiegen der Klägerin nur geringfügig ins Gewicht fällt. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht ersichtlich.


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