Sozialrecht

Postbariatrische Straffungsoperation wegen fiktiver Genehmigung

Aktenzeichen  L 5 KR 502/16

Datum:
5.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 48169
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3a

 

Leitsatz

1. Die fingierte Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V kann als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung qualifiziert werden, da sie in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus Wirkungen zeitigt.
2. Für die Rücknahme einer fingierten Genehmigung gilt die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X, welche nach Einschaltung des MDK bei Erlass des Bescheides, spätestens aber des Widerspruchsbescheides zu Laufen beginnt.

Verfahrensgang

S 3 KR 590/14 2016-09-01 SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 01.09.2016 wird zurückgewiesen.
II. Der Bescheid vom 07.12.2016 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 25.04.2017 wird aufgehoben.
III. Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch für die Berufung von der Beklagten zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet.
1. Das Begehren der Klägerin ist in Form einer allgemeinen Leistungsklage und isolierten Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 25.09.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.04.2014 (§§ 54 Abs. 5, 54 Abs. 1 S. 1, 56 SGG) Gegenstand der Klage- und des Berufungsverfahrens (BSG, Urt. v. 11.07.2017 – B 1 KR 1/17 R). Zudem ist der Rücknahmebescheid der Beklagten vom 07.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.04.2017 Gegenstand des Verfahrens geworden (§ 96 SGG, BSG, Urt. v. 07.11.2017 – B 1 KR 15/17 R).
2. Die Berufung ist unbegründet, denn die Genehmigungsfiktion für die beantragten Behandlungen ist gemäß § 13 Abs. 3a SGB V eingetreten.
a) Der Antrag der Klägerin vom 01.09.2013 ist fiktionsfähig.
Hierzu wird das Folgende festgestellt: Die Klägerin ist als Mitglied der Beklagten leistungsberechtigt. Ihr Antrag enthielt durch die Bezugnahme auf die konkrete Therapieempfehlung des D.-Krankenhauses vom 12.06.2013 eine spezielle Leistung. Er ist damit hinreichend bestimmt (§ 33 SGB X) im Sinne eines vollstreckungsfähigen Verfügungssatzes (BSG, Urt. v. 11.07.2017 – B 1 KR 1/17 R). Die Klägerin durfte die beantragten Leistungen für erforderlich halten, denn die aktenkundigen ärztlichen Atteste haben der Klägerin durch den Hautüberschuss nach Gewichtsverlust funktionelle Beeinträchtigungen, Ekzeme und Pilzerkrankungen bestätigt, welche nach fachärztlicher Einschätzung operativ zu behandeln waren. Bei dieser Sachlage liegt der Gedanke des Rechtsmissbrauchs fern (BSG, Urt. v. 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Insoweit Spätere Erkenntnisse bleiben für die maßgebliche subjektive Einschätzung der Klägerin eventuelle spätere Erkenntnisse außer Betracht (Urteile des BayLSG v. 12.01.2017 – L 4 KR 37/15 und 22.02.2018 – L 4 KR 526/16, anhängig unter Az.: B 1 KR 18/18 R)
b) Die Beklagte hat keine fristgerechte Entscheidung getroffen.
Ausgehend vom Antragseingang am 03.09.2013 ist tatsächlich die Dreiwochenfrist (§ 13 Abs. 3a S. 1 SGB V) am 24.09.2013, 24 Uhr, abgelaufen gewesen (§§ 26 Abs. 1 SGB X, 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Die Fünfwochenfrist ist nicht einschlägig, da die Beklagte die Klägerin über die Einschaltung des MDK nicht unterrichtet hat (BSG, Urt. v. 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Damit ist der Eintritt der Genehmigungsfiktion auf den 25.09.2013, 0 Uhr, festzustellen.
c) Rechtsfolge des Eintritts der Genehmigungsfiktion ist die Kostenerstattungspflicht nach § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V hinsichtlich der selbstbeschafften Leistung sowie nach der Rechtsprechung des BSG ein Anspruch auf die weiteren begehrten Operationen als Naturalleistung (ausführlich zur Gleichstellung von Naturalleistung und Kostenerstattung unter Wahrung des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, BSG, Urt. v. 07.11.2017 – B 1 KR 24/17 mwN).
Die Inanspruchnahme der Gesäßstraffungsoperation am 22.07.2014 war – wie festgestellt – erforderlich im Sinne des § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V. Die selbstbeschaffte Krankenbehandlung entsprach in Art und Umfang der Genehmigungsfiktion.
Grundsätzlich stehen Leistungen der GKV unter dem Vorbehalt §§ 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 SGB V, jedoch gilt im Rahmen der Genehmigungsfiktion die Einschränkung dahingehend, dass die Leistung nach der subjektiven Einschätzung der Versicherten nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen darf (BSG, Urt. v. 11.07.2017 – B 1 KR 1/17 R). Bei Beachtung von Art und Umfang der fingierten Genehmigung durfte vorliegend die Klägerin zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung davon ausgehen, dass die fingierte Genehmigung weiterhin Wirkung trägt. Die Fiktion schützt den Adressaten so lange bis eine – für den Versicherten erkennbare – Erledigung eingetreten ist. Die Klägerin durfte vorliegend der fachärztlichen Einschätzung der behandelnden Ärzte nach deren vorgelegten Attesten vertrauen.
Festzustellen ist, dass keine Erledigung durch geänderte Umstände gegeben ist. Der Vortrag der Beklagten zur mangelnden Erforderlichkeit stellt allein auf die medizinischen Gutachten ab, die im Verwaltungs- und (im Ergebnis unnötigerweise) im Gerichtsverfahren eingeholt worden sind und den Attesten der behandelnden Ärzte der Klägerin widersprechen. Diese Gutachten führten für die Beklagte eine positive Beweislage herbei, falls es allein auf die medizinische Notwendigkeit der Leistung ankäme. Sie haben jedoch – wie auch die ablehnenden Bescheide der Beklagten (BSG, Urt. 26.09.2017 – B 1 KR 6/17 R) – keinen Einfluss auf die subjektive Erforderlichkeit nach § 13 Abs. 3a S. 7 SGB V. Die Genehmigungsfiktion könnte nicht den vom Gesetzgeber gewollten Effekt erzielen, wenn sie in ihren Auswirkungen durch eine – überflüssige und zudem zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene – gerichtliche Beweisaufnahme ausgehebelt werden könnte. Damit ist Beweisanregung der Beklagten, Dr. L. zu befragen, ob er der Klägerin bereits am 26.06.2014 das Gutachtensergebnis mitgeteilt hat, mangels Entscheidungsrelevanz nicht nachzukommen gewesen. Im Übrigen ist im vorliegenden Klageverfahren die Klägerin auch nach der Begutachtung von Dr. L. weiterhin von der medizinischen Erforderlichkeit und einem Anspruch aus §§ 27, 39 SGB V ausgegangen, was ihr Antrag nach § 109 SGG im November 2014 zeigt.
d) Die fingierte Genehmigung ist weder durch den Bescheid der Beklagten vom 07.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.04.2017 rechtswirksam gem. § 45 SGB X zurückgenommen worden noch in sonstiger Weise erloschen.
aa) Folgt man der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG fehlt es bereits an der Rechtswidrigkeit der Genehmigungsfiktion und damit an der Anwendbarkeit von § 45 SGB X. Der durch § 13 Abs. 3a SGB V fingierte Verwaltungsakt erwirkt verfahrensrechtlichen Vertrauensschutz durch die Schranken für seine Beseitigung. Eine Genehmigung ist rechtmäßig, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Es fehlt auch jeder Grund, eine Durchbrechung der Regelung des § 45 Abs. 1 SGB X aus einer entsprechenden Anwendung des § 42a Abs. 1 S. 1 VwVfG abzuleiten (Urt. v. 07.11.2017- B 1 KR 15/17 R und B 1 KR 24/17 R).
bb) Wenn man mit dem 3. Senat (Urt. v. 11.05.2017 – B 3 KR 30/15 R) grundsätzlich eine Anwendung von § 45 SGB X aufgrund einer Verletzung des materiellen Rechts im Sinne der Leistungsvoraussetzungen der §§ 27, 39 SGB V für möglich hält, sind vorliegend jedenfalls die weiteren Voraussetzungen der Rücknahme anzuzweifeln.
aaa) Die Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 S.1 SGB X nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts (hier Eintritt der Fiktion am 25.09.2013) ist am 24.09.2015 verstrichen. Der Rücknahmebescheid datiert auf den 07.12.2016.
Die fingierte Genehmigung nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V kann als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung qualifiziert werden, da sie in rechtlicher Hinsicht über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus Wirkungen zeitigt (zur Definition vgl. BSG, Urt. v. 20.06.2001 – B 11 AL 10/01 R). Bescheide, deren Regelungswirkung sich auf einmalige Leistungen beschränken (Bewilligung bzw. Ablehnung einer Krankenbehandlung), sind grundsätzliche keine Dauerverwaltungsakte. Eine Genehmigungsfiktion begründet jedoch über den Zeitpunkt des Eintritts hinaus ein Rechtsverhältnis, das bis zur Inanspruchnahme der Naturalleistungen oder der Kostenerstattung – d.h. wie vorliegend über mehrere Jahre hinweg – Wirkungen entfaltet. Damit ist der Schutzgedanke des § 45 Abs. 3 SGB V, nämlich die Stärkung des Begünstigten mit zunehmenden zeitlichen Abstand vom Zeitpunkt der Leistungsbewilligung, auch auf Genehmigungsfiktionen anzuwenden (aA LSG NRW Urt. v. 06.04.2017 – L 16 KR 202/16 ohne weitere Begründung bei Abstellen auf die der Fiktion unterliegende einmalige Leistung).
Fristverlängernde Sachverhalte nach § 45 Abs. 3 S. 2 und 3 SGB X sind nicht gegeben. Die Voraussetzungen von § 45 Abs. 3 S. 2 SGB X (Wiederaufnahme nach § 580 ZPO) liegen nicht vor. Eine Bösgläubigkeit der Klägerin nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X ist auszuschließen (§ 45 Abs. 3 S. 3 SGB X). Dies ist zu Recht auch von der Beklagten im Bescheid vom 07.12.2016 bestätigt worden.
bbb) Hinsichtlich einer Rücknahme für die Vergangenheit – mit dem beabsichtigten Ergebnis des Wegfalls des Kostenerstattungsanspruchs für die am 22.07.2014 durchgeführte Operation – gilt zudem die Rücknahmefrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X. Die Jahresfrist, in der die Verwaltung tätig werden muss, stellt auf die Kenntnis sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung erforderlichen Tatsachen ab (BSG, Urt. v. 25. 10. 1995 – 5/4 RA 66/94), nicht jedoch auf die zutreffende rechtliche Bewertung. Bei Erlass des Bescheids vom 25.09.2013, spätestens mit Erlass des Widerspruchsbescheids nach wiederholter Einschaltung des MDK am 09.04.2014, hat die Behörde Kenntnis von den Tatsachen gehabt, die zum Eintritt der Genehmigungsfiktion trotz Nichtvorliegens der medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsbewilligung führen könnten. Vom fehlenden Vertrauensschutz der Klägerin (im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X) war die Beklagte, wie sie in ihrer Berufungsbegründung ausführt, subjektiv bereits aufgrund der „diametral entgegenstehenden Gutachten“ des MDK, spätestens aufgrund des gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. vom Juli 2014 überzeugt. Damit ist die Jahresfrist im Juli 2015 abgelaufen.
Der Bescheid vom 07.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.04.2017 ist im Ergebnis rechtswidrig und aufzuheben.
cc) Die Genehmigungsfiktion hat auch nicht anderweitig ihre Wirkung verloren, insbesondere liegen die Voraussetzungen eines Widerrufs (§ 47 SGB X) nicht vor.
3. Der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin besteht in Höhe von 4.767,14 EUR.
Die Klägerin hat in dieser Höhe eine Honorarleistungsvereinbarung mit dem Chefarzt des D.-Krankenhaus W-Stadt, Herrn Dr. R., abgeschlossen. Ausweislich der Liquidation vom 22.07.2014 hat Dr. R. diesen Betrag am 09.07.2014 per Überweisung erhalten. Die Klägerin ist durch die Liquidation belastet, da sie aus der Honorarvereinbarung zur Zahlung zivilrechtlich verpflichtet war (vgl. BSG, Urt. v. 11.07.2017 – B 1 KR 1/17 R). Etwaige Abrechnungsunstimmigkeiten des Krankenhauses, wie etwa eine zweifache Geltendmachung bestimmter Abrechnungsposten im Zusammenhang mit der ebenfalls am 22.07.2014 zu Lasten der Beklagten durchgeführten Faszienduplikatur mit Nabelinsertion, sind im Hinblick auf den Erstattungsanspruch der Klägerin ohne Relevanz. Sie sind gegebenenfalls zwischen der Beklagten und ihrem nach § 108 SGB V zugelassenen Leistungserbringer zu klären.
Die Berufung der Beklagten ist vollumfänglich zurückzuweisen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 193, 183 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


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