Sozialrecht

Rücknahme einer Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a SGB V) – Mammareduktionsplastik und Liposuktion

Aktenzeichen  S 7 KR 409/15

Datum:
16.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 71330
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 13 Abs. 3a S. 6, S. 7
SGB X SGB X § 26 Abs. 1, § 45 Abs. 1, Abs. 2
SGG SGG § 54 Abs. 5, § 96, § 99 Abs. 3 Nr. 2

 

Leitsatz

Über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungbescheides nach § 45 SGB X bzgl. einer gem. § 13 Abs. 3a SGB V eingetretenen Genehmigungsfiktion kann nach § 96 Abs. 1 SGG analog in dem Klageverfahren des Versicherten auf Gewährung der Sachleistung (Leistungsklage) entschieden werden, ohne dass zu dem Rücknahmebescheid noch ein Vorverfahren nach § 78 SGG durchzuführen ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2015 sowie des Bescheides vom 10.06.2016 verurteilt, der Klägerin die mit Schreiben vom 05.11.2014 beantragte Mammareduktionsplastik und Liposuktionsbehandlung als Sachleistung zu gewähren.
II.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Gründe

Die zulässige Klage führt auch in der Sache zum Erfolg. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung der beantragten Mammareduktionsplastik und Liposuktion als Sachleistung durch die Beklagte, da die gesetzliche Genehmigungsfiktion eingetreten ist und diese von der Beklagten nicht wirksam aufgehoben wurde. Die ergangenen entgegenstehenden Bescheide waren daher aufzuheben.
1a) Statthafte Klageart hinsichtlich der Gewährung der chirurgischen Maßnahmen als Sachleistung ist eine echte Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Mit dieser Klageart kann die Verurteilung zu einer Leistung begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Ein solcher Fall ist bei Eintritt der gesetzlichen Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) gegeben (vgl. SG Augsburg, Urteil vom 12.04.2016 – S 10 KR 50/15; SG Augsburg, Urteil vom 03.06.2014 – S 6 KR 339/13; SG Nürnberg, Urteil vom 27.03.2014 – S 7 KR 520/13). Die prozessuale Situation entspricht dem Fall, dass ein erteilter Bewilligungsbescheid von der Verwaltungsbehörde nicht vollzogen wird. Auch dann ist eine echte Leistungsklage zulässig, da ein Verwaltungsakt nicht mehr zu ergehen braucht (vgl. § 54 Abs. 5 SGG). Der Bevollmächtigte der Klägerin hat den zunächst erhobenen Feststellungsantrag auch zulässig nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG in einen Antrag auf Gewährung der Sachleistung und damit auf eine echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG umgestellt.
1b) Hinsichtlich des ergangenen Ablehnungsbescheides vom 11.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2015 ist darüber hinaus die Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG statthaft und auch erforderlich, da diese Bescheide einen der Genehmigungsfiktion entgegenstehenden Rechtsschein setzen, s. dazu unten Ziffer 3.
1c) Mit der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG war darüber hinaus auch der Bescheid der Beklagten vom 10.06.2016 anzufechten. Diese Klage war auch zulässig, da es eines Vorverfahrens hinsichtlich dieses Bescheides nicht bedurfte. Zwar ist der Bescheid nicht in unmittelbarer Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG in das Klageverfahren einbezogen, da die Vorschrift nur dann direkt gilt, wenn nach Klageerhebung ein angefochtener Verwaltungsakt durch einen weiteren Verwaltungsakt geändert oder ersetzt wird, der nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergeht. § 96 SGG ist mit Wirkung zum 01.04.2008 durch das SGGArbGGÄndG vom 26.03.2008 (BGBl. I S. 444) dahingehend konkretisiert worden, dass irgendein rechtlicher oder tatsächlicher Zusammenhang zwischen dem neuen Verwaltungsakt und dem Streitgegenstand des Klageverfahrens nicht mehr ausreicht. Die Neufassung sollte insbesondere einer Rechtsprechung entgegenwirken, die § 96 SGG zeitweise und in bestimmten Reichsgebieten gerade im Bereich von Dauerrechtsbeziehungen sehr weit analog angewandt hatte. Die Neufassung von § 96 Abs. 1 SGG zum 01.04.2008 beschränkt nunmehr § 96 auf eine Einbeziehung der nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangenen Bescheide zum selben Gegenstand (vgl. Breitkreuz in: Breitkreuz/Fichte, SGG, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 96, Rdnr. 4, 5 und 6).
Der Rücknahmebescheid ersetzt hier zwar nicht den mit der Klage auch angefochtenen Ablehnungsbescheid vom 11.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2015, sondern hebt die Genehmigungsfiktion mit Wirkung für die Zukunft auf, so dass eine unmittelbare Anwendung von § 96 Abs. 1 SGG nicht in Betracht kommt.
Nach dem Sinn und Zweck des § 96 Abs. 1 SGG muss nach Auffassung des Gerichts jedoch der Rücknahmebescheid vom 10.06.2016 in der vorliegenden Fallgestaltung nach § 96 SGG in entsprechender Anwendung in das Klageverfahren einbezogen werden. Sinn und Zweck der Vorschrift ist die Ermöglichung einer schnellen, erschöpfenden Entscheidung über das gesamte Streitverhältnis in einem Verfahren (Prozessökonomie) und zu verhindern, dass das Gericht gezwungen wäre, über einen nicht mehr aktuellen Zustand zu entscheiden.
Zudem soll durch die Einbeziehung in das anhängige Klageverfahren auch die Gefahr divergierender Entscheidungen vermieden werden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 11. Aufl. 2014, § 96, Rdnr. 1). Würde man den (noch anfechtbaren) Rücknahmebescheid der Beklagten vom 10.06.2016 bei der Entscheidung in diesem Klageverfahren unberücksichtigt lassen, könnte es zu einer Fallkonstellation kommen, in der der hier erhobenen Klage stattgegeben wird und die Beklagte zur Leistungsgewährung verurteilt wird, während in einem weiteren Prozess über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Genehmigungsfiktion der Beklagten Recht gegeben wird. In diesem Fall stünden sich zwei sich widersprechende Entscheidungen gegenüber. Zwar ist § 96 SGG bei der hier erhobenen echten Leistungsklage grundsätzlich nicht anwendbar (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 11. Aufl. 2014, § 96, Rdnr. 2a). Denn Voraussetzung für § 96 SGG ist, dass ein Verwaltungsakt Gegenstand des anhängigen gerichtlichen Verfahrens ist. Eine analoge Anwendung des § 96 SGG ist in der vorliegenden Fallgestaltung aber aus Sicht des Gerichts gerechtfertigt und geboten, da es beim Klagegegenstand der hier erhobenen Leistungsklage gerade um die Herleitung eines Anspruchs aus einer Genehmigungsfiktion und damit aus einem fingierten Verwaltungsakt geht. Streitgegenstand ist damit ein Recht aus einem fingierten Verwaltungsakt, der nach Klageerhebung durch die Beklagte mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wurde. Genau eine solche Fallkonstellation will § 96 SGG aber seinem oben dargestellten Sinn und Zweck nach erfassen. Über die Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides vom 10.06.2016 konnte daher durch Einbeziehung nach § 96 Abs. 1 SGG analog in diesem Klageverfahren entschieden werden, ohne dass zu diesem Bescheid noch ein Vorverfahren nach § 78 SGG durchzuführen war.
2. Der Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V hinsichtlich der beantragten Mammareduktionsplastik und Liposuktionsbehandlung wurde von der Beklagten zuletzt nicht mehr bestritten, sondern im Schriftsatz und Bescheid vom 10.06.2016 ausdrücklich anerkannt, so dass hierüber vom Gericht nicht mehr zu entscheiden war.
3. Gegenstand des Klageverfahrens war aber noch, ob die Beklagte diese eingetretene Genehmigungsfiktion mit Wirkung für die Zukunft durch Rücknahme der gesetzlichen Fiktion mit Bescheid vom 10.06.2016 wirksam wieder beseitigen konnte mit der Folge, dass der geltend gemachte Sachleistungsanspruch nicht mehr bestehen würde.
In der bislang ergangenen Rechtsprechung, bestätigt auch durch das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 08.03.2016 (B 1 KR 25/15 R), sowie der Kommentarliteratur wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V wie ein positiver Bewilligungsbescheid wirkt. Fingierte Verwaltungsakte haben dabei die gleichen Rechtswirkungen wie tatsächlich erlassene Verwaltungsakte. Durch die Genehmigungsfiktion wird die Leistungsberechtigung des Versicherten, auch im Sinne eines Naturalleistungsanspruchs, wirksam verfügt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 5 KR 222/14 B ER; LSG Saarland, Urteil vom 17.06.2015 – L 2 KR 180/14; BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Als ein solcher fingierter Verwaltungsakt ist die Genehmigungsfiktion grundsätzlich auch der Aufhebung, etwa durch eine Rücknahme nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zugänglich, damit unbillige Ergebnisse damit wieder beseitigt werden können (vgl. LSG Saarland, Urteil vom 17.06.2015 – L 2 KR 180/14; LSG Bayern, Urteil vom 23.02.2016 – L 5 KR 351/14; Noftz in: Hauck/Noftz, SGB V, Kommentar, § 13 SGB V, Stand: Dezember 2015, Rdnr. 58 l, Ziffer 7).
Die nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V fingierte Genehmigung bleibt also wirksam, solange und soweit sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Die fingierte Genehmigung schützt den Adressaten somit dadurch, dass sie ihre Wirksamkeit ausschließlich nach den allgemeinen Grundsätzen über Erledigung, Widerruf und Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts verliert (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R).
Vorliegend hat die Beklagte ihren Rücknahmebescheid vom 10.06.2016 auf § 45 Abs. 1, 2 SGB X gestützt.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist, vgl. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X.
Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang in seinem Urteil vom 08.03.2016 darauf hingewiesen, dass sich die Rechtmäßigkeit der Genehmigungsfiktion nach der Erfüllung der Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V beurteilt, „nicht nach den Voraussetzungen des geltend gemachten Naturalleistungsanspruchs“ (vgl. BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, Rdnr. 32). Diese Aussage hat das Bundessozialgericht nach Auffassung des Gerichts allgemein und nicht nur für den in dem dort zu entscheidenden Fall streitgegenständlichen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V getroffen. Nach hiesigem Dafürhalten kann es auch keinen Unterschied machen, ob die Rechtmäßigkeit der Fiktion, wie sie im Rahmen der Aufhebung nach § 45 SGB X beim Tatbestandsmerkmal „rechtswidriger Verwaltungsakt“ zu prüfen ist, im Rahmen von § 13 Abs. 3a Satz 6 oder Satz 7 SGB V zu beurteilen ist. Denn die Frage, wie sich die Selbstbeschaffung der Leistung im Rahmen der Prüfung des § 45 SGB X auswirkt, spielt nach Meinung des Gerichts erst beim Tatbestandsmerkmal des § 45 Abs. 2 SGB X, der Vertrauensschutzprüfung, eine Rolle. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist der Einwand der Beklagten, dass bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts im Rahmen des § 45 SGB X deshalb auf den materiellen Inhalt des Sachleistungsanspruchs abgestellt werden müsse, da die Genehmigungsfiktion ja überhaupt erst eintreten könne, wenn die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V vorlägen. Wären ausschließlich letztere bei der Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob die fiktive Genehmigung rechtswidrig im Sinne des § 45 SGB X sei, läge ein Zirkelschluss vor. Es sei daher keine Fallkonstellation denkbar, wonach eine nachträgliche Aufhebung der Genehmigungsfiktion in Betracht komme, da die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V nicht vorgelegen hätten. Eine solche Fallgestaltung könnte jedoch beispielsweise darin liegen, dass auf Anfrage des Versicherten diesem seitens der Krankenkasse zunächst bestätigt wird, dass aufgrund des Ablaufs der Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V und der fehlenden schriftlichen Mitteilung eines hinreichenden Grundes die Genehmigungsfiktion eingetreten sei, dies sich jedoch bei nochmaliger Prüfung als unzutreffend herausstellt, da beispielsweise bei der Fristberechnung ein Fehler unterlaufen ist oder festgestellt wurde, dass der Antrag des Versicherten nicht hinreichend bestimmt war oder evtl. ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Versicherten vorlag.
Letztlich kann diese Frage aus Sicht des Gerichts jedoch offen gelassen werden, da in beiden Fällen eine Aufhebung nach § 45 SGB X rechtswidrig ist:
3a) Stellt man mit dem Bundessozialgericht bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit nicht auf die Voraussetzungen des geltend gemachten Naturalleistungsanspruchs ab, sondern auf die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V, war eine Aufhebung auch mit Wirkung für die Zukunft durch die Beklagte nach § 45 SGB X vorliegend nicht möglich, da die Genehmigungsfiktion keinen rechtswidrigen Verwaltungsakt im Sinne des § 45 Abs. 1 SGB X darstellte.
Zweifellos beinhaltet die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V einen begünstigenden Verwaltungsakt, da mit ihr ein Naturalleistungsanspruch des Versicherten gegen die Krankenkasse begründet wird, der es auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ermöglicht, ihren Anspruch zu realisieren (vgl. BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R). Dieser Verwaltungsakt war jedoch nicht rechtswidrig, da die Voraussetzungen für den Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V erfüllt waren. Der hinreichend bestimmte Antrag der Klägerin mit Schreiben vom 05.11.2014 auf Gewährung einer Mammareduktionsplastik sowie einer Liposuktionsbehandlung entsprechend des Arztbriefes von Herrn Dr. C., Chirurgische Klinik A-Stadt- B., vom 08.10.2014 war am 12.11.2014 bei der Beklagten eingegangen, so dass die hier wegen der Einschaltung des MDK und der Unterrichtung der Klägerin hierüber maßgebliche Fünfwochenfrist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V gemäß § 26 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) am 13.11.2014 begann und gemäß § 26 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 188 Abs. 1, 2 BGB am 17.12.2014 ablief. Einen hinreichenden Grund dafür, dass die Beklagte nicht binnen dieser Frist über den Antrag entschieden hat, gab es nicht, insbesondere sind auch Verzögerungen bei der Begutachtung durch den MDK kein hinreichender Grund im Sinne des § 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V, da ein solcher Grund im Risikobereich der Krankenkasse liegt, wie dies beispielsweise auch bei Auswirkungen von Organisationsmängeln, allgemeiner Arbeitsüberlastung der Sachbearbeiter oder verzögert betriebenem Verwaltungsverfahren der Fall ist (vgl. Noftz in: Hauck/Noftz, § 13 SGB V, Kommentar, Stand: Dezember 2015, § 13, Rdnr. 58 k). Bei den geltend gemachten Leistungen handelt es sich auch um solche, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung liegen.
Denn weder bei der Mammareduktionsplastik noch bei der Liposuktionsbehandlung handelt es sich um Maßnahmen, die Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskataloges überwinden, die jedem Versicherten klar sein müssen. Die beantragten Leistungen fallen ihrer Art nach grundsätzlich in den Leistungskatalog der GKV (vgl. BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, Rdnr. 25, 26 und 27). Es handelt sich nicht um eine Fallgestaltung, wonach die Krankenkasse unter keinem Gesichtspunkt sachlich zuständig ist, eine systemfremde Leistung begehrt wird oder der gestellte Antrag willkürlich oder querulatorisch ist (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 23.02.2016 – L 5 KR 351/14, Rdnr. 39 ff.).
3b) Folgt man vorliegend der Auffassung der Beklagten, wonach bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der fingierten Genehmigung auf den Inhalt des geltend gemachten Naturalleistungsanspruchs, hier der beantragten Mammareduktionsplastik und Liposuktionsbehandlung, abzustellen ist, ist nach Auffassung des Gerichts eine Aufhebung nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 SGB X ebenfalls nicht rechtmäßig, da gerade wegen der in § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V angeordneten Genehmigungsfiktion auch eines Naturalleistungsanspruchs bei Erfüllung der dort genannten Voraussetzungen die Vertrauensschutzabwägung im Rahmen des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X zugunsten des Versicherten ausfallen muss.
3b) aa) Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob die fingierte Bewilligung auch der Mammareduktionsplastik vorliegend überhaupt rechtswidrig wäre. Dies wäre nur dann der Fall, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststehen würde, dass die Klägerin vorliegend noch nicht alle konservativen Maßnahmen zur Behebung ihrer Wirbelsäulen- und Schulterschmerzen bzw. Hautreizungen ausgeschöpft hätte bzw. wenn bereits ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesen gesundheitlichen Störungen und der Brustgröße nicht gegeben wäre. Mit Blick auf die bislang zur Liposuktion ergangene obergerichtliche Rechtsprechung dürfte dagegen bei dieser Behandlung von einer Rechtswidrigkeit des fingierten Bewilligungsbescheides auszugehen sein, da auch im stationären Bereich eine Leistungsverpflichtung der GKV derzeit nicht in Betracht kommt, da diese Behandlungsmethode nicht dem Qualitäts- und Wissenschaftlichkeitsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entspricht (vgl. insoweit die überzeugenden Ausführungen der obergerichtlichen Rechtsprechung, z. B. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.04.2012 – L 4 KR 595/11 und Urteil vom 01.03.2013 – L 4 KR 3517/11; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.01.2014 – L 16 KR 558/13; Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 16.01.2014 – L 1 KR 229/10; LSG Hessen, Urteil vom 29.01.2015 – L 8 KR 339/11; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.02.2015 – L 5 KR 228/13).
3b) bb) Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf aber jedenfalls ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit 1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, 2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder 3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Vorliegend liegt zwar kein Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vor, wonach sich der Begünstigte unter den genannten Voraussetzungen nicht auf Vertrauen berufen kann. Auch hat die Klägerin noch keine Vermögensdisposition getroffen, da sie sich die Leistung noch nicht selbst beschafft hat und Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V geltend macht, so dass auch eine der Regelvoraussetzungen für schutzwürdiges Vertrauen nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X nicht erfüllt ist. Gleichwohl ist das Gericht der Meinung, dass vorliegend das Vertrauen der Klägerin in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse auch in der vorliegenden Fallgestaltung bei noch fehlender Selbstbeschaffung der Leistung schutzwürdig ist.
Der Gesetzgeber hat vorliegend mit der Schaffung der Vorschrift des § 13 Abs. 3a SGB V den Naturalleistungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V und den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V gleichwertig nebeneinander gestellt. Zwar war im Gesetzgebungsverfahren zunächst lediglich ein Kostenerstattungsanspruch für erforderliche Leistungen vorgesehen (vgl. Entwurf für ein Patientenrechtegesetz, BT-Drs. 312/12, S. 46; BT-Drs. 17/10488, S. 32). Nach der Beratung im Ausschuss für Gesundheit des Bundestages im November 2012 wurde dann jedoch § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V in die Vorschrift aufgenommen, die eine Genehmigungsfiktion der Leistung neben dem in Satz 7 geregelten Kostenerstattungsanspruch vorsieht. Beide Sätze stehen ihrem klaren Wortlaut nach gleichrangig nebeneinander. Würde man § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V lediglich als unselbstständige Vorstufe des in § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V geregelten Kostenerstattungsanspruchs lesen, käme Satz 6 kein eigenständiger Regelungsgehalt zu. Außerdem würden bei einer solchen Auslegung mittellose Versicherte, die aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind, sich die Leistung nach Ablauf der Frist selbst zu beschaffen, entgegen dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) aus dem Schutzbereich des § 13 Abs. 3a SGB V praktisch ausgeschlossen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.05.2014 – L 5 KR 222/14 B ER mit weiteren Nachweisen). Der Gesetzgeber wollte mit der Schaffung von § 13 Abs. 3a SGB V generalpräventiv die Zügigkeit des Verwaltungsverfahrens verbessern. § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V hat zudem Sanktionscharakter (vgl. BT-Drs. 17/104888 S. 32; BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, Rdnr. 25). Eben dieser Wille des Gesetzgebers, der dem Versicherten bei Erfüllen der Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V nicht nur einen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen gleichberechtigt daneben stehenden Naturalleistungsanspruch zur Seite stellen wollte, muss aus Sicht des Gerichts im Rahmen der Vertrauensschutzabwägung des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X, die weder Ermessen noch Beurteilungsermächtigung darstellt, sondern als gesetzlich vorgegebene Gewichtung gerichtlich voll überprüfbar ist (vgl. von Wulffen, SGB X, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 45, Rdnr. 36), dazu führen, dem Interesse des Versicherten am Bestand der rechtmäßig zustande gekommenen Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V ein höheres Gewicht zukommen zu lassen als dem fiskalischen Interesse der Solidargemeinschaft.
Die Interessenabwägung des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X zielt auf die Feststellung, ob das Interesse der Allgemeinheit an der Herstellung eines gesetzmäßigen Zustands das Vertrauen des gutgläubigen Begünstigten an der Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands überwiegt (vgl. von Wulffen, SGB X, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 45, Rdnr. 36). Die Besonderheit gegenüber einer „regulären“, von der Beklagten tatsächlich ausgesprochenen Bewilligung der entsprechenden Leistungen liegt hier eben gerade darin, dass der Gesetzgeber nach Ablauf der Fristen des § 13 Abs. 3a SGB V Rechtsklarheit zugunsten des Versicherten schaffen wollte und zwar auch zugunsten desjenigen Versicherten, der sich die Leistung mangels finanzieller Mittel gerade nicht selbst beschaffen kann. Dieser gesetzgeberische Wille würde nach Auffassung des Gerichts unterlaufen und ad absurdum geführt, wenn die Krankenkasse nach Fristablauf und trotz Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V die fingierte Genehmigung allein mit der Begründung, die genehmigten Leistungen seien nicht medizinisch erforderlich bzw. erfüllten nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, in allen Fällen, in denen die Leistung noch nicht vom Versicherten selbst beschafft wurde, mit Wirkung für die Zukunft wieder aufheben könnte. Die Beklagte beruft sich (fälschlicherweise im Rahmen der Ermessensausübung) auf das höherrangige Interesse der Solidargemeinschaft an der Wiederherstellung eines „gesetzmäßigen“ Zustands, verkennt dabei aus Sicht des Gerichts aber, dass die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V zugunsten des Versicherten auch bei fehlender medizinischer Notwendigkeit der in Rede stehenden Leistungen einen gesetzmäßigen Zustand gerade fingiert.
Aus den dargestellten Gründen ist – gleich ob man bei der Rücknahme der Genehmigungsfiktion nach § 45 SGB X und der Prüfung von deren Rechtmäßigkeit auf die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a SGB V abstellt oder auf die Voraussetzungen der beantragten Naturalleistungen – die Rücknahme der Genehmigungsfiktion nach § 45 Abs. 1, 2 SGB X durch die Beklagte nicht rechtmäßig erfolgt, so dass der Rücknahmebescheid vom 10.06.2016 aufzuheben und der Klage auf Gewährung der beantragten Mammareduktionsplastik und Liposuktion als Sachleistung stattzugeben war.
4. Der Ablehnungsbescheid vom 11.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2015 durfte nach Eintritt der Genehmigungsfiktion am 18.12.2014 nicht mehr ergehen und war daher als der Fiktion entgegenstehender, formeller Verwaltungsakt aufzuheben. Denn wenn eine Behörde einen Verwaltungsakt erlässt, zu dem sie nicht befugt ist, ist dieser aufzuheben. Der Klägerin muss gerichtlicher Rechtsschutz dahingehend zustehen, dass ein solcher formeller Verwaltungsakt beseitigt wird, um sich nicht mit dem Risiko zu belasten, dass dieser Verwaltungsakt später in anderen Zusammenhängen unzutreffend als bestandskräftiger Verwaltungsakt qualifiziert wird (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 11. Aufl. 2014, Anhang zu § 54, Rdnr. 4; BSG, Urteil vom 03.04.2003 – B 13 RJ 39/02 R; SG Augsburg, Urteil vom 03.06.2014 – S 6 KR 339/13).
5. Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG und orientiert sich am Ausgang der Entscheidung in der Sache.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben