Sozialrecht

Rüge der Verfassungswidrigkeit des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Sozialgesetzbuches

Aktenzeichen  S 4 AS 789/16 ER

Datum:
7.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 51
GG GG Art. 1, Art. 20 Abs. 1, Art. 103

 

Leitsatz

1. Sozialgerichte sind für die enumerativen sozialrechtlichen Streitigkeiten nach § 51 SGG zuständig, die nicht verfassungsrechtlicher Art sind. (Rn. 17)
2. Ob eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliegt, bemisst sich nach dem Grundsatz der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit. (Rn. 18)

Tenor

I. Der Antrag vom 31.10.2016 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Gesetzesänderung des Zweiten Buches – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) ab 01.08.2016 bzw. 01.01.2017.
Die Pressemitteilung (Auszug der SGB II-Änderung) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 03.02.2016 beschreibt die Änderung wie folgt:
„Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des SGB II – Rechtsvereinfachung Um die Aufnahme von Ausbildungen zu erleichtern, wird die bestehende Schnittstelle zwischen der Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz beziehungsweise dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch und der Grundsicherung für Arbeitsuchende entschärft. Künftig ist es auch für Auszubildende möglich, aufstockend Arbeitslosengeld II unter Anrechnung von Ausbildungsvergütung und Ausbildungsförderung zu erhalten. Auch wenn kein Anspruch auf Ausbildungsförderung während einer betrieblichen oder außerbetrieblichen Ausbildung besteht, kann künftig Arbeitslosengeld II beantragt werden. Dadurch wird die Aufnahme einer Ausbildung erleichtert sowie die Bereitschaft zur Aufnahme einer Ausbildung gestärkt.“
Zudem sind Vereinfachungen in unterschiedlichen Bereichen vorgesehen (u. a. bei der Einkommensanrechnung, der Bewilligung von Leistungen für Wohnkosten sowie den Erstattungstatbeständen). Zur Vermeidung von Erfüllungsaufwand in den Jobcentern und bei den Leistungsberechtigten wird der Regelbewilligungszeitraum für das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld auf zwölf Monate verlängert.
Außerdem enthält der Entwurf folgende Regelungen:
„Als Ergebnis der Fachdiskussion in der Arbeitsgruppe Eingliederung SGB II des Bund-Länder-Ausschusses wird die Beratung der leistungsberechtigten Personen im Zweiten Buch deutlich gestärkt. Hierzu gehört auch die stärkere Nutzung der Potenzialanalyse und des Instruments der Eingliederungsvereinbarung als kooperatives Gestaltungsmittel im Eingliederungsprozess. Neu vorgesehen wird eine nachgehende Betreuung von erwerbstätigen Leistungsberechtigten auch nach Entfallen der Hilfebedürftigkeit (§ 16g SGB II).
Personen, die neben Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld auch Arbeitslosengeld II beziehen, erhalten ihre Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik künftig nicht mehr von den Jobcentern, sondern von den Agenturen für Arbeit. Dies entspricht dem Versicherungsgedanken des SGB III, dass Personen, die Ansprüche gegen die Arbeitslosenversicherung erworben haben, auch alle Leistungen – einschließlich solcher der aktiven Arbeitsförderung – von den Agenturen für Arbeit erhalten.“
Der Gesetzentwurf wurde in der 179. Sitzung am 23.06.2016 mit beigefügten Maßgaben, im Übrigen aber unverändert angenommen (Bundestagsdrucksache 343/16 vom 24.06.2016).
Die Regelung der Kosten der Unterkunft in § 22 SGB II blieb durch das 9. Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch im Wesentlichen unverändert. Es wurde Absatz 1a eingefügt, der sich mit leistungsberechtigten Personen beschäftigt, die einer Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 1 und 3 des Aufenthaltsgesetzes unterliegen.
Der Antragsteller steht im Leistungsbezug beim Antragsgegner. Im Bewilligungsbescheid vom 31.05.2016 wurden dem Kläger im Zeitraum 01.07.2016 bis 30.06.2017 Leistungen in Höhe von 729,00 € zugestanden. Zuletzt wurden ihm mit Änderungsbescheid vom 13.07.2016 Leistungen in Höhe von 877,03 € für Juli 2016 bewilligt sowie in Höhe von 754,00 € für die Zeit vom 01.08.2016 bis 30.06.2017. Anlass für die Änderung war die Vorlage einer Mieterhöhung, die Erhöhung des Abzweigungsbetrages an die Vermieterin sowie eine einmalige Übernahme der Betriebskostennachzahlung 2014 im Juli 2016.
Am 31.10.2016 reicht der Antragsteller den Abdruck eines Schriftsatzes an das Bundesverfassungsgericht mit gleichem Datum ein (Verfahren AR 6648/16). Darin ändert er seine Untätigkeitsklage und Verfassungsbeschwerde vom 29.09.2016 gegen die Bundesregierung nach Art. 1, 20 Abs. 1-4 oder Art. 103 Grundgesetz (GG) und erhebt Anzeige wegen Hochverrat gegen das Bundesverfassungsgericht, die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung, die Arbeitsministerin und den früheren Bundeskanzler.
Im gleichen Schreiben stellt er einen Eilantrag an das Sozialgericht Bayreuth (nach der Gliederung V). Ein sofortiger Rechtsschutz für die Grundrechtsträger müsse alle Bürger vor einem rechtswidrigen Gesetz beschützen. Der Schadensersatz als Rückgriff wegen Amtspflichtverletzung sei zu gewähren oder sein Eilantrag schnellstmöglich an die nächste höhere Instanz weiterzugeben. Das Sozialgericht habe für den ordentlichen Rechtsweg die eindeutige Zuständigkeit der Rechtslage. Er bittet um Vollzug der beantragten Amtspflichtverletzung und die Aufhebung des Hochverrats durch das Zweite Buch Sozialgesetzbuch.
Am 04.11.2016, in einer geänderten Fassung seines Schreibens vom 02.11.2016, ergänzt er das Aktenzeichen des Gerichts.
Der Antragsteller beantragt,
die Gesetzesänderung des SGB II vom 01.08.2016 und 01.01.2017 als verfassungswidrig aufzuheben.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner sei nach Art. 20 Abs. 3 GG als Teil der vollziehenden Gewalt an Recht und Gesetz gebunden. Die Gesetzesänderung müsse er deshalb beachten.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die beigezogene Behördenakte und die Prozessakte verwiesen.
II.
Gegenstand des Verfahrens ist der Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vom 31.10.2016.
Der Antrag ist unzulässig. Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten (§ 51 SGG) ist nicht eröffnet. Vielmehr handelt es sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit. Eine Verweisung an das Bundesverfassungsgericht kam nicht im Betracht, da dort ein Verfahren bereits anhängig ist und auch seine Schreiben an das Sozialgericht dort vorliegen.
Der Sozialrechtsweg ist in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten nicht gegeben. § 51 SGG greift nur einen Teil der Rechtsstreite aus § 40 VwGO heraus, sodass der Vorbehalt für Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art auch vor dem Sozialgericht gilt (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 11. Aufl. 2014, § 51 Rn. 12).
Nach dem Grundsatz der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit liegt eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vor, wenn Verfassungssubjekte über verfassungsrechtliche Gewährleistungen streiten.
Der Antragsteller hat sich offensichtlich als Grundrechtsträger bezeichnet und rügt eine Verletzung von Art. 1, 20 Abs. 1 – 4 und Art. 103 GG.
Eine andere Interpretation seines Begehrens erschließt sich dem Gericht nicht. Soweit er Schadensersatzansprüche wegen Amtspflichtverletzung als sein primäres Rechtsschutzziel hätte verstanden haben wollen, hätte er Klage vor den ordentlichen Gerichten (Art. 34 Satz 2 GG) erhoben. Offensichtlich hält er aber für seine Ansprüche trotz Kenntnis des ordentlichen Rechtswegs Sozialgerichte für „eindeutig“ zuständig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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