Sozialrecht

Zur Beweiswürdigung widersprechender Gutachten

Aktenzeichen  L 8 U 185/16

Datum:
20.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 121790
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 8 Abs. 1 S. 1, § 56 Abs. 1 S. 1
SGG § 128

 

Leitsatz

1. Zur Beweiswürdigung widersprechender Gutachten bei der Frage des kausalen Zusammenhangs von Somatisierungsstörungen mit einem banalen Primärschaden.
2. Zum Beweismaßstab bei der Feststellung von Primärschäden.
3. Zur Feststellung eines ursächlichen Zusammenhangs einer chronischen Schmerzstörung (ICD 45.4) mit einem Unfallschaden; Anschluss an Urteil des BSG vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R.
4 Stellt ein Gutachter allein aufgrund eines zeitlichen Zusammenhangs einen kausalen Zusammenhang her und setzt sich zudem weder mit Vorerkrankungen noch der Schwere des Unfallereignisses auseinander, so missachtet er die wesentlichen Grundsätze der Kausalität in der Gesetzlichen Unfallversicherung. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
5 Die durch das BSG geforderte exakte Diagnosestellung auch bei psychischen Erkrankungen verbietet bereits definitionsgemäß Jahre nach dem Ereignis die Diagnose “Anpassungsstörung”. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 5 U 213/10 2012-04-05 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 5. April 2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft, weil die Klägerin wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung wurde am 03.05.2012 form- und fristgerecht (zugestellt am 12.04.2012) eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG).
Das SG hat die Klage zutreffend abgewiesen. Ein Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung steht der Klägerin nicht zu. Die in § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII genannten Anspruchsvoraussetzungen liegen nicht vor. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf eine Rente, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist.
Zwar stellt der Unfall vom 12.12.2007 einen Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII dar, weil die Klägerin eine versicherte Tätigkeit als Altenpflegerin ausgeübt hat und während der Arbeit auf das Gesäß gestürzt ist. Der Senat stützt sich insoweit auf die Angaben der Klägerin gegenüber dem Durchgangsarzt am 12.12.2007. Als Erstschaden ist aber nur eine Steißbeinprellung bewiesen. Die Entwicklung des weiteren Schmerzgeschehens ist im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung kausal nicht mehr dem Unfall zuzurechnen.
Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII muss das Unfallereignis bei dem Versicherten zu einem Körperschaden entweder in Gestalt eines Gesundheitsschadens oder des Todes geführt haben. Die Körperschädigung gehört zur Definition des Unfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung. In Abgrenzung von den erst für die Gewährung von Leistungen maßgeblichen Unfallfolgen wird deshalb insoweit von Primärschaden oder Gesundheitserstschaden gesprochen, der vom Unfallversicherungsträger im Vollbeweis festzustellen ist. Der Versicherte hat dementsprechend nicht nur einen Anspruch auf die bindende Feststellung der Folgen eines Arbeitsunfalls, den er durch Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG unabhängig von dem Begehren nach Entschädigung geltend machen kann, sondern auch auf die Feststellung, dass ein bestimmtes Ereignis ein Arbeitsunfall gewesen ist und in diesem Zusammenhang auf die Feststellung, welche Primärschäden Folge der Einwirkung auf seinen Körper gewesen sind (G. Wagner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 8 SGB VII, Rn. 150). Gegenstand des Verfahrens ist hier die Zuerkennung einer Verletztenrente, die die Feststellung von Primärschäden inzidenter verlangt.
1. Für die Feststellung einer Fraktur des Steißbeines als Erstschaden bestehen nach der Beweiswürdigung zu viele Zweifel. Eine Fraktur wird letztlich nur noch von der Sachverständigen Dr. M. angenommen, die aber vom Fachgebiet her Neurologin ist. Selbst der Sachverständige Dr. H., der als einziger zunächst eine solche Feststellung getroffen hat, ist in seinem dritten Gutachten von dieser Ansicht abgerückt. Soweit es die Expertise von Prof. B. betrifft, ist diese zwar aus den Akten der Beklagten entfernt. Eine „Fernwirkung“ in dem Sinne, dass eine bereits erlangte Kenntnis durch andere Sachverständige verwertet wird, ist nach Ansicht des Senats aber nicht unzulässig. Zwar mag für die Expertise selbst ein Beweisverwertungsverbot angenommen werden. Ein gelöschtes Gutachten kann mangels verkörperter Gedankenerklärung nicht mehr als Urkundenbeweis i.S.v. § 118 SGG i.V.m. § 415 ZPO in Betracht kommen. In der Rechtsprechung des BVerfG und einiger obersten Gerichtshöfe wird aber eine Fernwirkung nicht abgelehnt (vgl. Wagner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 200 SGB VII, Rn. 135). Insgesamt sind hier nicht höchstpersönliche Belange der Klägerin berührt, wenn es ohne persönliche Untersuchung um die Auswertung bildgebender Verfahren geht. Entscheidend für einen Eingriff in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechtes wäre es, wenn eine Situation gegeben ist, in der auf Grund von konkreten Hinweisen oder typischerweise und ohne gegenteilige tatsächliche Anhaltspunkte im Einzelfall der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung betroffen wird, etwa im Zuge der Beobachtung von Äußerungen innerster Gefühle oder von Ausdrucksformen der Sexualität (vgl. BVerfG vom 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99 – juris Rn. 127 m.w.N).
Beim Verwaltungshandeln der Beklagten war auch nicht von einem schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstoß auszugehen. Das Auswahlrecht des § 200 Abs. 2 HS 1 SGB VII ist rein verwaltungsverfahrensrechtlicher Natur. Es ermöglicht dem Bürger eine qualifizierte Mitwirkung bei der behördlichen Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 20 SGB X) und dient der Förderung der Akzeptanz des das Verwaltungsverfahren abschließenden Verwaltungsakts des Unfallversicherungsträgers, soweit er dem Gutachten des vom Bürger ausgewählten Gutachters folgt (BSG, Urteil vom 20.07.2010 – B 2 U 17/09 R -, SozR 4-2700 § 200 Nr. 2, Rn. 35). Es ist ein grundrechtlich nicht gebotenes, aber für ein bürgernahes Verwaltungsverfahren nützliches, einfachgesetzliches Verfahrensrecht der Versicherten gegen die Unfallversicherungsträger (BSG, Urteil vom 20.07.2010 – B 2 U 17/09 R -, SozR 4-2700 § 200 Nr. 2, Rn. 42).
Schließlich erfolgte die Interpretation der vorhandenen bildgebenden Materialien (Röntgenbilder, CT und MRT) durch alle befassten Sachverständigen selbstständig, ohne Zutun von Prof. B.. So war sich schon der Durchgangsarzt Dr. F. nicht sicher, ob eine Fraktur vorgelegen hat. Die digital-rektale Untersuchung wurde zwar als sehr schmerzhaft geschildert, aber eine Fraktur war nicht tastbar. Der Befund der Röntgenaufnahmen ergab eine sichtbare Fehlstellung des Steißbeines, jedoch keine scharfen Frakturlinien. Die Befunddeutungen durch den Oberarzt Dr. S. der Inneren Abteilung (Rheumaambulanz) der Kreisklinik M-Stadt ergab auch keine eindeutige Fraktur, wenn diese auch differenzialdiagnostisch erörtert wurde (Arztbrief vom 09.06.2008). Das gleiche gilt für die Vorstellung bei der H. S. und deren Deutung eigener Aufnahmen der Lendenwirbelsäule und des mitgebrachten MRT. Danach leidet die Klägerin wahrscheinlich an einer Sacroiliitis der linken ISG Fuge (Prof W.).
Schon im Juni 2007 – vor dem Unfall – wurde ein CT angefertigt mit einer unvollständigen Darstellung des Steißbeines, dessen Abwicklung als Anomalie gedeutet worden ist (Befund Dr. G. vom 19.06.2007). Nach der Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule und der Ileosakralgelenke vom 14.03.2008 (Dr. R., M-Stadt) zeigte sich ein deutlich abgeknicktes Os coccygeum bei leichter Subluxationsstellung, bei der es sich nach einem Nachtragsbefund vom 20.03.2008 durchaus auch um eine abgelaufene Fraktur im Os sacrum und im os ilium handeln könnte. Die Orthopädin Dr. L. stellte in ihrem Gutachten vom 15.04.2010 fest, dass es durch den Unfall vom 12.12.2007 nur zu einer Prellung des Steißbeins gekommen sei. Auch der Orthopäde Dr. W. fand in seinem Gutachten am 23.02.2011 keine Fraktur. Die radiologischen Befunde ergäben keine Hinweise auf eine Verletzung des Kreuz- oder Steißbeins.
Gerade auch der Sachverständige Dr. R. hat am 03.02.2014 alle erheblichen bildgebenden Befunde seit dem Jahre 2003 in seinem Gutachten aufgeführt und die Einwände des Bevollmächtigten der Klägerin zur Kenntnis genommen. Auch er geht, insbesondere aufgrund des Topogramms der Computertomographie vom 31.06.2007 von einer sicheren anlagebedingten Abwinklung des Steißbeines aus. Ganz besonders aufgrund der Einwände des Klägerbevollmächtigten geht Dr. R. nochmals auf die so genannte Angulierung in seiner ergänzenden Stellungnahme ein.
Insgesamt sieht der Senat damit die Amtsermittlung als ausgeschöpft an. Es bedurfte weder einer weiteren Stellungnahme des Dr. R., noch dessen persönlicher Einvernahme in der mündlichen Verhandlung. Besonders hat dazu der umfangreiche Fragenkatalog beigetragen, zu dessen Erstellung der Senat dem Klägerbevollmächtigten Gelegenheit gegeben hat. Dieser wurde von Dr. R. zur Kenntnis genommen und, soweit es die gutachtliche Fragestellung betrifft, gewürdigt. Die Überzeugung des Gerichts war durch die Antworten des Dr. R. gefestigt und bedurfte keiner weiteren Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Dem am 21.04.2014 und später wiederholt gestellten Antrag auf persönliche Einvernahme des Sachverständigen folgt der Senat daher nicht.
Bei dieser Sachlage besteht zwar eine entfernte Möglichkeit einer Fraktur des Steißbeines durch den Unfall. Eine Überzeugung des Gerichts im Sinne des vollen Beweises lässt sich aber allein aus den Äußerungen von Dr. H. nicht gewinnen. Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 SGG in der Fassung vom 23.9.1975). Eine Tatsache muss – danach in so hohem Grade wahrscheinlich sein, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen. Die erforderliche, an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit kann unter Rekurs auf die zivilgerichtliche Rechtsprechung angenommen werden, wenn beim Richter ein Maß an persönlicher Gewissheit erreicht ist, welches Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie andererseits völlig auszuschließen (Breitkreuz in: Breitkreuz/Fichte, § 128, Rn. 5).
2. Zur richterlichen Überzeugung in diesem Sinne findet sich demnach als Primärschaden eine Prellung nicht nur des Steißbeines, sondern auch der Lendenwirbelsäule und des Beckens. Eine weitergehende Schädigung an der Lendenwirbelsäule ist ebenfalls nicht bewiesen. Insoweit fehlt es an einem weiteren Erstschaden und darüber hinaus werfen zahlreiche dokumentierte Vorschäden Zweifel an dem ursächlichen Zusammenhang auf. Zwar bedingen diese Schäden an der unteren Wirbelsäule auch die folgende Schmerzbehandlung mit ihren psychischen Weiterungen. Bereits seit dem Jahre 2003 waren aber klinisch relevante Vorschäden bekannt. Diese bestanden nicht lediglich in für die Abrechnung relevanten Diagnosen (der Kläger Bevollmächtigte spricht dann später von so genannten Quartalsdiagnosen). Vielmehr lagen diesen Feststellungen tatsächlich erfolgte Behandlungen zu Grunde wegen Beschwerden, die zur ärztlichen Konsultation führten. So erstellte der Radiologe Dr. M. am 08.07.1999 Aufnahmen der Wirbelsäule wegen der Überweisungsdiagnose anhaltender Lumbalgien. Weitere Röntgenaufnahmen unter anderem der Lendenwirbelsäule sowie eine Beckenübersicht fertigte der Orthopädie Dr. G. am 11.02.2003, ohne die Beschwerden funktionell erklären zu können, so dass dieser eine rheumatologische Abklärung empfohlen hat. Darüber hinaus ist verzeichnet, dass die Klägerin beruflich als Altenpflegerin eine rückenbelastende Tätigkeit ausübte und Schmerzmittel nahm (Dolovisan und Ibuprofen). Schließlich erfolgte im Juni 2007 eine Computertomographie der Wirbelsäule von LWK 3 bis SWK 1 (Dr. S. in der Praxis M./R.). Die Überweisung erfolgte durch den Orthopäden Dr. G.. Dieser vermerkte bei der letzten Vorstellung am 18.06.2007 ein akutes Lumbalsyndrom mit Blockierungen (notfallmäßige Vorstellung). Er hatte dokumentiert, dass seit einer Woche Hexenschussbeschwerden bestanden, auch Elektrifizierungsgefühle in der linken Wade. Gleichteilig erfolgte eine Krankschreibung über einen Monat.
3. Am Vorliegen einer chronischen Schmerzstörung mit der Diagnose ICD 45.4 bestehen keine Zweifel. Diese wurde dem Grunde nach erstmals durch Dr. L. im S. 2008 gestellt. Sie erhärtete sich nach der Langzeitbeobachtung bei diversen Kurmaßnahmen, so erstmals in E.. Diese steht aber nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der stattgefundenen Wirbelsäulen- und Steißbeinprellung.
Ein Kausalzusammenhang Sinne der Unfallversicherung mit dieser Schmerzerkrankung zum Unfall geschehen am 12.12.2007 ist nicht gegeben. Dies ist zu allererst eine Fragestellung für gerichtliche Sachverständige, die als Fachärzte berufen sind, Zusammenhänge im seelischen Bereich zu kennen und zu beurteilen. Dies erfordert eine Kenntnis über die Entstehung derartige Erkrankungen und deren Diagnostik. Insoweit haben drei Sachverständige in unterschiedlichen Funktionen, als Beratungsarzt, von der Verwaltung beauftragter Gutachter und gerichtlich bestellter Sachverständiger, einen Zusammenhang verneint. Dies sind als Beratungsarzt der Neurologe Dr. H., im Widerspruchsverfahren der von der Verwaltung beauftragte Sachverständige Dr. K. und im Gerichtsverfahren der Chirurg Dr. R.. Hinsichtlich dieser der sachverständigen medizinischen Beurteilungskompetenz unterliegenden Umstände kann sich der Senat nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Überzeugung vom ursächlichen Zusammenhang bilden.
Hierzu genügt nicht die laienhafte Betrachtungsweise eines zeitlichen Zusammenhangs und der Notwendigkeit, Schmerzmittel einnehmen zu müssen. Diese Überlegungen sind aber die Basis des Gutachtens der Neurologin Dr. M.. Deren Gutachten leidet an erheblichen Mängeln. Darin wird kritiklos ein Zusammenhang hergestellt, der schon sprachlich zum Ausdruck bringt, dass der Gutachterin die wesentlichen Kausalitätsüberlegungen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht bekannt sind. So wenn darin davon die Rede ist, dass ohne jede äußere Einwirkung durch eine normale Verrichtung des privaten täglichen Lebens zu etwa derselben Zeit oder naher Zukunft in etwa demselben Ausmaß der Schaden nicht eingetreten wäre, wird allein ein zeitlicher Zusammenhang im Sinne der conditio sine qua non hergestellt. Die gesetzliche Unfallversicherung verlangt aber eine wertende Zuschreibung im Sinne der Kausalitätsnorm der wesentlichen Mitursache. Der Theorie nach unterliegen zwar auch Manifestationen von anlagebedingten Erkrankungen durch ein Unfallereignis dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Eine solche Argumentation im positiven Sinne verlangt aber eine Auseinandersetzung mit dem Umfang von Vorerkrankungen und der Schwere des Unfallereignisses. Dr. M. bringt zumindest in der Niederlegung des Gutachtens keinerlei Vorerkrankungen in die Diskussion mit ein. Zur lebensgeschichtlichen Bedeutung des Unfallereignisses äußert sie sich ebenfalls nicht. Schließlich ist die von ihr gestellte Diagnose durch Dr. H. maßgeblich in Zweifel gezogen worden. Der Beratungsarzt Dr. H. ist wissenschaftlich ausgewiesen hinsichtlich der Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen (vgl. sein gleichnamiges Werk in 2. Auflage, November 2004, Verlag Urban & Fischer). Danach ist die Diagnose einer Anpassungsstörung nicht mehr zu stellen, wenn die Erkrankung über zwei Jahre andauert. Danach spielt die individuelle Disposition und Vulnerabilität bei dem möglichen Auftreten bei der Form der Anpassungsstörung eine erhebliche Rolle. Es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Erkrankungsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre (a.a.O. S. 196). Als diagnostische Leitlinie gilt die sorgfältige Bewertung der Beziehung zwischen Art, Inhalt und Schwere der Symptome, die Berücksichtigung der Anamnese, der Persönlichkeit und des belastenden Ereignisses, auch der aktuellen Situation zum Zeitpunkt des Unfalls und einer eventuellen zeitgleichen Lebenskrise (a.a.O. S. 197).
Gegen die Überzeugungskraft des Gutachtens von Dr. M. spricht auch, dass diese nicht mehr bereit war in einer ergänzenden Stellungnahme eine Auseinandersetzung mit den Einwänden von Dr. H. vorzunehmen. Demgegenüber wiegt die Äußerung von Dr. H. nicht schwer, dass zweieinhalb Jahre nach dem Unfall die Diagnose einer Anpassungsstörung nicht mehr gestellt werden könnte. Zwar ist diese Äußerung bereits zwei Jahre nach dem Unfall der Klägerin erfolgt, Dr. H. hat sich insoweit – wie der Kläger Bevollmächtigte mehrfach anführt – in der Berechnung vertan, falls er seine Aussage auf die Klägerin bezogen getroffen hat. Für sich betrachtet stimmt die Aussage aber. So werden Anpassungsstörungen nach dem Definitionsschema der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) ihrem zeitlichen Verlauf nach so beschrieben, dass die Störung im allgemeinen innerhalb eines Monats nach dem belastende Ereignis beginnt und meist nicht länger als 6 Monate anhält, außer bei der Entwicklung einer längeren depressiven Reaktion (F43.2). Diese hält aber auch nicht länger als 2 Jahre an und kann lediglich bei anhaltendem Stressor (zum Beispiel einer entstellenden Verletzung oder ähnlichem) zu einer chronischen Anpassungsstörung ohne zeitliche Begrenzung entwickeln.
Der Bevollmächtigte der Klägerin weist zu Recht auf die Bedeutung einer Klassifikation der seelischen Erkrankung nach dem ICD-Schlüssel hin. Dies fordert auch die Rechtsprechung zur Beurteilung eines kausalen Zusammenhanges bei diesem Erkrankungsbild (BSG, 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Voraussetzung für die Anerkennung eines psychischen Gesundheitserstschadens bzw. einer Unfallfolge ist die genaue Feststellung der konkreten Gesundheitsstörung. Die Diagnose sollte i. d. R. aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme (ICD 10; DSM IV) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen (Keller in: Hauck/Noftz, SGB, 05/15, § 8 SGB VII, Rn. 325a).
Aber auch schon mit der Klassifizierung als Anpassungsstörungen durch Dr. M. zeigt sich, dass es um ein schicksalhaft verlaufenes Leiden geht. Denn nach der Definition der Anpassungsstörung handelt es sich um Zustände von subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die im allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen auftreten. Die Belastung kann das soziale Netz des Betroffenen beschädigt haben (wie bei einem Trauerfall oder Trennungserlebnissen) oder das weitere Umfeld sozialer Unterstützung oder soziale Werte (wie bei Emigration oder nach Flucht). Sie kann auch in einem größeren Entwicklungsschritt oder einer Krise bestehen (wie Schulbesuch, Elternschaft, Misserfolg, Erreichen eines ersehnten Zieles und Ruhestand). Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle; es ist aber dennoch davon auszugehen, dass das Krankheitsbild ohne die Belastung nicht entstanden wäre. Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen). Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können.
Damit ist zwar eine Anerkennung als Unfallfolge nicht generell ausgeschlossen. Das Unfallereignis bzw. eine Unfallfolge kann auch dann wesentliche Mitursache einer psychischen Störung sein, wenn bei gewöhnlicher seelischer Reaktionsweise vergleichbar Betroffener keine so ausgeprägte Reaktion auf die Einwirkung zu erwarten gewesen wäre. Bei der Abwägung der Wesentlichkeit des Unfallereignisses und dessen gesundheitlicher Folgen im Einzelfall ist aber auch die Stärke des Unfallereignisses zu berücksichtigen (vgl. Keller in: Hauck/Noftz, SGB, 05/15, § 8 SGB VII, Rn 326 unter Anführung von Rechtsprechung und Literatur).
Während eine solche Auseinandersetzung im Gutachten von Dr. M. fehlt, führen die anderen fachlich berufenen Sachverständigen Dr. H. und Dr. K. für den Senat überzeugend aus, dass es ein ursächlicher Zusammenhang nicht vorliegt.
Dr. H. (Neurologe) vertritt in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2009 die Auffassung, dass eine Steißbeinprellung nicht geeignet ist, langfristige Beschwerden hervorzurufen. Ein Schmerzsyndrom als Unfallfolge ist danach mangels organischen Korrelats nicht nachzuvollziehen. Der Unfall war ausgesprochen banal. Jahre nach einem Unfall ist definitionsgemäß eine Diagnose „Anpassungsstörung“ nicht mehr zu stellen. Andererseits fehlt es nach Dr. H. nicht am Vorliegen relevanter Vorbefunde. Von diesem Umstand ist auch der Senat voll überzeugt. Denn durch die vorhandenen Arztberichte sind massive gesundheitliche Beeinträchtigungen der Klägerin an der Wirbelsäule, insbesondere im unteren Bereich, bewiesen. Insoweit wird zunächst auf die Ausführungen hinsichtlich der bildgebenden Verfahren der Wirbelsäule hingewiesen (oben Seite 10, 3. Absatz). Darüber hinaus sind zahlreiche ärztliche Schilderungen der vorgegebenen Beschwerden vorhanden. So schon im Juli 1999 mit der Angabe anhaltender Lumbalgien bei Dr. R.. Beschwerden im Bereich der unteren Wirbelsäule im Februar 2003 (Röntgen unter anderem der LWS bei Dr. G.). Eine Blockierung bzw. Hexenschuss im Juni 2007 (Befund Dr. G. und der Anfertigung eines CT. Die Fachärztin für physikalische und rehabilitive Medizin Dr. S. berichtete am 20.07.2007 und 05.12.2007 noch vor dem Arbeitsunfall. Im Dezember 2007 wurden dabei eine betriebsinterne Umsetzung bzw. Umschulungsmaßnahmen wegen der bestehenden Beschwerden im Beruf erwogen. Als Diagnosen sind angeführt eine ISG- Funktionsstörung beidseits, ein myofaszialles Schmerzsyndrom, ein chronisch-lumbovertebrales Schmerzsyndrom sowie weitere Beschwerden der unteren Wirbelsäule (Arztbriefe an Dr. G.).
Nach dem Leistungsauszug der AOK vom 26.08.2008 war die Klägerin vom 11.06.2007 bis 14.07.2007 deswegen arbeitsunfähig. Darüber hinaus weisen auch die erfolgten Behandlungen auf ein massives Schmerzgeschehen hin, so zahlreiche Injektion und Infusionsbehandlungen bis hin zur Verordnung eines TENS- Gerätes. Es handelt sich dabei um eine Elektrotherapie zur Behandlung chronischer und akuter Schmerzzustände (Reizstrom).
Schließlich klassifiziert Dr. H. auch die Erkrankung der Klägerin nicht als Anpassungstörung, sondern als Schmerzsyndrom und würdigt dazu auch den Heilverlauf nach dem Unfall, nämlich Entlassungsberichte aus der Fachklinik E. vom 04.09.2008 und 27.11.2008 mit den Diagnosen einer leichten depressiven Episode, akuter Belastungsreaktion und Somatisierungsstörung. Ebenso führt er die Beobachtung des Neurochirurgen Dr. K. vom 26.06.2008 an, wonach das Gangbild demonstrativ mit Gehstöcken algogen verändert war.
Auch der in keinerlei vertraglichen Beziehung zur Beklagten stehende Gutachter Dr. K. verneint einen ursächlichen Zusammenhang. Dessen Gutachten basiert auf einer noch weiteren Entwicklung, nämlich einer letzten Kurmaßnahme in Bad W. und verzeichnet nunmehr auch die sozialversicherungsrechtliche Relevanz des Unfalls bei der Arbeitslosen – und Rentenversicherung. Dr. K. würdigt dann das Geschehen in seiner Entwicklung mit einer erstmaligen Diagnose auf ein somatoformes Schmerzgeschehen im August 2008, der Beurteilung des Neurochirurgen Dr. K., den Aufenthalt in der Fachklinik E. und den Ausführungen der Klägerin selbst im Rahmen der Anamnese zu der Kurmaßnahme in Bad W..
Zusammenfassend gelangt dann Dr. K. zu einer auch den Senat überzeugenden Einschätzung, dass von einer somatoformer Schmerzstörung auszugehen ist, einer Schmerzstörung, die nur zum Teil durch organische Faktoren erklärt werden kann und die unter Berücksichtigung der vorhandenen Befunde bereits vor dem Unfall vorgelegen hatte. Diese hat in den letzten Jahren eine Ausweitung erfahren mit immer neuen körperlichen Beschwerden, die nur bedingt organisch einzuordnen sind. ein sekundärer Krankheitsgewinn spielt – wie Dr. K. ausführt und der Leidensverlauf aufzeigt – auch eine nicht unerhebliche Rolle.
Diese Einschätzung überzeugt den Senat vor allem auch in der Gesamtschau mit allen ihm vorliegenden ärztlichen Entlassungsberichten aus den bereits angeführten stationären Rehabilitationsverfahren. Diese beruhen auf einer Langzeitbeobachtung und zahlreichen von der Klägerin im Rahmen dieser Behandlungen wiedergegebenen Äußerungen. Ihre Hauptdiagnosen lauten auf Somatisierungsstörung (F45.0). Dabei handelt es sich um die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Wenn somatische Störungen vorhanden sind, erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome, das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten. Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die wenigstens zwei Jahre bestehen. Die meisten Patienten haben eine lange und komplizierte Patienten-Karriere hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative Operationen durchgeführt sein können. Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen.
Im Abschlussbericht von Bad W. vom 21.04.2010 wurden die Ursachen des Schmerzleidens nicht Anlass bezogen gesehen, sondern in der Entwicklungsgenese der Klägerin (Seite 9 des Abschlussberichts). Charakteristisch für dieses Krankheitsbild ist – so im Abschlussbericht auf Seite 14 – die Anschuldigung eines einzelnen Ereignisses für den Gesamtzustand. Nach der sozialmedizinischen Epikrise im Abschlussbericht war der Aufbau entsprechender adäquater Bewältigungsstrategien in Anbetracht der Verfestigung kognitiver Grundannahmen (Anschuldigung des Arbeitsunfalls) und einer Einengung auf das Schmerzerleben nicht in ausreichendem Maße möglich. Dies entspricht im Ergebnis auch den Feststellungen, die bereits in E. erfolgt sind.
Gegen einen Kausalzusammenhang sprechen auch die auf orthopädisch/chirurgischem Fachgebiet erstellten Gutachten. Es sind dies bis auf Dr. H. alle mit der Sache befassten Sachverständigen. Dr. H. hält ohnehin neben seiner Beurteilung eine solche durch einen psychiatrisch orientierten Sachverständigen für erforderlich. Dr. R. hingegen weist auf, dass er als langjähriger gerichtlicher Sachverständiger aus einem unfallchirurgischen Wissen schöpfen kann, das auch Kausalverläufe umfasst, die ihren Ausgang aus dramatischen Schädigungen nehmen. Insoweit kann er zu dieser Diskussion beitragen, als er eine traumatische Verursachung des weiter unterhaltenen Schmerzgeschehens ausschließen kann. So führt auch Dr. R. aus, dass hinsichtlich des in der Folge festgestellten depressiven Krankheitsbildes mit gestörter Schmerzverarbeitung eine Unfallursächlichkeit nicht gefunden werden konnte. Das banale Unfallereignis kann demnach für eine posttraumatische Belastungsstörung als Ausgangspunkt einer Depression auch aufgrund der gutachtlichen Erfahrung selbst von Seiten des unfallchirurgischen/orthopädischen Gutachters nicht als plausibel achtet werden. Wenn es demnach aufgrund der Schmerzsymptomatik überhaupt zu einer psychischen Beeinträchtigung gekommen ist, so jedenfalls nicht aufgrund von Unfallfolgen, sondern aufgrund der anhaltenden Beschwerdesymptomatik der mäßigen degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule sowie der vorübergehend akuten Symptomatik seitens des linken Iliosakralgelenkes. Viel wahrscheinlicher scheint aber eine gestörte Schmerzverarbeitung aufgrund einer eigenständigen, anfänglich möglicherweise latenten psychischen Beeinträchtigung. Insoweit schließt sich dieser Sachverständige den Ausführungen von Dr. K. an. Zum Überzeugungsgehalt des schriftlichen Gutachtens wird auf die Ausführungen auf S. 12 zum Antrag auf Ladung des Sachverständigen vom 21.04.2014 Bezug genommen.
Auch die Orthopädin Dr. L. stellte in ihrem Gutachten vom 15.04.2010 als Unfallfolge lediglich eine Prellung der Steißbeines fest, für die außer der Gabe milder Schmerzmittel und Vermeidung des Sitzen eine Behandlung weder möglich noch erforderlich ist. Aber selbst eine Fraktur des Steißbeines kann nicht geeignet sein, organische oder funktionelle Beschwerden zu erklären, wie sie von der Klägerin vorgebracht werden. Der gleichen Ansicht ist auch der gerichtliche Sachverständige Dr. W. in seinem Gutachten vom 23.02.2011. Danach liegt eine organisch nicht erklärbare Hyperpathie im hinteren Becken- und Gesäßbereich vor.
Zusammenfassend besteht somit kein Versicherungsfall im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung, der zu einer Entschädigung mit einer Verletztenteilrente führt. Die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin sind dokumentiert und sozialmedizinisch gewürdigt. Eine Entschädigung findet aber im kausalen System der Unfallversicherung nicht statt. Die Klägerin hat aber Zuwendungen des Sozialsystems erfahren, als sie Lohnfortzahlung, Krankengeld, Arbeitslosengeld und Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Leistungsbeginn ab 01.01.2009 erhalten hat und weiterhin erhält.
Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf Verletztengeld (§§ 45 ff. SGB VII) zu. Dies ist – nach dem zuletzt gestellten Antrag der Klägerin ohnehin – nicht mehr Gegenstand des Verfahrens.
Insgesamt ist die Berufung daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.


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