Strafrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung

Aktenzeichen  1 BvR 142/05

Datum:
8.3.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20110308.1bvr014205
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend LG Hamburg, 10. Dezember 2004, Az: 614 Qs 38/04, Beschlussvorgehend AG Hamburg-Altona, 30. April 2004, Az: 325 Cs 7101 Js 18/04 (171/04), Beschluss

Tenor

Der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Altona vom 30. April 2004 – 325 Cs 7101 Js 18/04 (171/04) – und der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 10. Dezember 2004 – 614 Qs 38/04 – verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 104 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit sie die gegenüber dem Beschwerdeführer am 27. und 28. September 2003 ergangenen Maßnahmen der Polizeibehörden der Freien und Hansestadt Hamburg auch nach Vorlage und Überprüfung seiner Ausweispapiere als rechtmäßig feststellen.
Die Beschlüsse werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Hamburg-Altona zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € festgesetzt.

Gründe

1
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen gegen Beschlüsse des Amtsgerichts und Landgerichts,
mit denen eine mehrstündige Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers durch die Polizei zur Identitätsfeststellung für rechtmäßig
erklärt wurde.

I.
2
1. Am Nachmittag des 27. September 2003 betrat der Beschwerdeführer mit einer Gruppe von circa 100 Personen aus dem Umfeld
der sogenannten Bauwagenszene in Hamburg ohne entsprechende Erlaubnis oder Billigung der Berechtigten ein Grundstück in der
Absicht, das Gelände für sich als neuen Wohnsitz und ständigen Aufenthaltsort sowie als Abstellort für vier mitgeführte Bauwagen
zu nutzen. Der Aktion vorausgegangen waren Verhandlungen zwischen der Stadt und Vertretern der Bauwagenszene über dieses Gelände
als Ersatzstandort für einen im Jahre 2002 geschlossenen Bauwagenplatz.

3
Gegen 18.00 Uhr versperrte die angerückte Polizei die Ausgänge des Geländes, so dass die an der Aktion beteiligten Personen
das Gelände nicht mehr verlassen konnten. Um 18.35 Uhr stellte ein Vertreter der Berechtigten Strafantrag gegen die auf dem
Gelände befindlichen Personen. Die Polizei stellte die Identität der betreffenden Personen vor Ort fest. Gegen 19.55 Uhr umstellte
die Polizei die sich auf dem Gelände befindlichen Personen. Die Feuerwehr leuchtete den Platz mit Flutlicht aus und die Polizei
gab den Eingeschlossenen um 20.12 Uhr über Megaphon bekannt, dass sie wegen des Verdachts des Hausfriedensbruchs vorläufig
festgenommen seien. Insgesamt handelte es sich hierbei einschließlich des Beschwerdeführers noch um circa 80 Personen. Die
Polizei führte die Personen ab circa 20.20 Uhr nacheinander aus dem Kessel; die Räumung dauerte bis 21.55 Uhr. Der Beschwerdeführer
wies sich dabei nach Aufforderung erneut unter Vorlage eines gültigen Reisepasses samt Meldebestätigung aus. Die Polizei verbrachte
ihn zusammen mit anderen Personen zu einer Polizeiwache, wo der Beschwerdeführer bis circa 3.00 Uhr in einer Zelle festgehalten
wurde, ohne dass die Polizei in der Zwischenzeit ihn betreffende Maßnahmen durchführte. Gegen 3.00 Uhr verbrachte die Polizei
den Beschwerdeführer zum Polizeipräsidium, wo der Beschwerdeführer wiederum eine Stunde in einer Zelle verbrachte, bis er
erkennungsdienstlich behandelt wurde (Anfertigung von zwei Lichtbildern). Die Polizei stützte diese Maßnahme auf § 81b Alt.
1 StPO. Sie entließ den Beschwerdeführer am 28. September 2003 gegen 4.30 Uhr.

4
2. Am 27. Oktober 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht die nachträgliche Feststellung, dass die Freiheitsentziehung
von 18.00 Uhr bis 4.30 Uhr von Anfang an dem Grunde und der Dauer nach sowie die Behandlung während der Freiheitsentziehung
rechtswidrig waren. Mit Beschluss vom 30. April 2004 stellte das Amtsgericht fest, dass die zum Nachteil des Beschwerdeführers
vollzogene Freiheitsentziehung ungeachtet der falschen Bezeichnung als vorläufige Festnahme gemäß § 163b StPO rechtmäßig gewesen
sei. In Anbetracht der großen Anzahl der Beschuldigten sei eine Identitätsfeststellung vor Ort nur unter sehr erschwerten
Bedingungen möglich gewesen.

5
3. Mit Beschluss vom 10. Dezember 2004 verwarf das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers. Diese sei schon unzulässig,
da ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit erledigter Ermittlungsmaßnahmen nicht vorliege. Im Übrigen
sei die Beschwerde auch unbegründet. Es habe sich bei der Maßnahme ersichtlich nicht um eine vorläufige Festnahme nach § 127
Abs. 2 StPO gehandelt. Die Polizei habe die Identität des Beschwerdeführers feststellen und ihn dafür auch nach § 163b StPO
festhalten und gemäß § 81b StPO erkennungsdienstlich behandeln dürfen.

6
Auf eine Gegenvorstellung des Beschwerdeführers beschloss das Landgericht, die Entscheidung nicht abzuändern.

7
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG. Es habe sich um eine Freiheitsentziehung
gehandelt. Eine Rechtsgrundlage für die Verwahrung habe nicht vorgelegen; jedenfalls sei der Eingriff nicht verhältnismäßig.
Die Gerichte hätten wegen der Verkennung des Vorliegens einer Freiheitsentziehung auch übersehen, dass das Unverzüglichkeitsgebot
des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt sei.

8
5. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat von der Gelegenheit zur Äußerung keinen Gebrauch gemacht.

9
6. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Aus ihnen ergibt sich, dass das Amtsgericht
das gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfahren wegen Hausfriedensbruchs gemäß § 153a Abs. 2 StPO nach der Zahlung eines
Bußgeldes in Höhe von 150 € endgültig eingestellt hat.

II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung
anzunehmen, da dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist; im Übrigen ist sie nicht zur Entscheidung
anzunehmen.

11
1. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen insoweit vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs.
2 Buchstabe b BVerfGG).

12
Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt für die verfassungsrechtlichen
Maßstäbe im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs.
1 und 2 GG einschließlich der besonderen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BVerfGE 10, 302 ; 29, 312 ;
94, 166 ; 105, 239 ).

13
a) Die Verfassungsbeschwerde, die sich bei verständiger Würdigung nur gegen die die polizeilichen Maßnahmen bestätigenden
Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts und nicht auch unmittelbar gegen die polizeilichen Maßnahmen selbst richtet,
ist zulässig. Dem Beschwerdeführer fehlt es insbesondere nicht an einem allgemeinen Rechtsschutzinteresse, weil der Freiheitseingriff
beendet ist. Es würde der Bedeutung des Schutzes der persönlichen Freiheit in der im Grundgesetz garantierten Form nicht entsprechen,
wenn das Recht auf eine verfassungsgerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in das Freiheitsrecht bei Wiedergewährung
der Freiheit ohne Weiteres entfiele (vgl. BVerfGE 9, 89 ; 10, 302 ; stRspr).

14
b) Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit auch im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.

15
aa) Die angegriffenen Beschlüsse verletzen, indem sie die gegen den Beschwerdeführer gerichteten polizeilichen Maßnahmen bestätigen,
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

16
(1) Der Schutzbereich des Grundrechts umfasst sowohl freiheitsbeschränkende als auch freiheitsentziehende Maßnahmen. Eine
Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen
Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Eine Freiheitsentziehung
als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung ist nur dann gegeben, wenn die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene körperliche
Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 94, 166 ).

17
Eingriffe in die Freiheit der Person bedürfen einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 2, 118 ; 29, 183 ), wobei
die Formvorschriften dieser Gesetze von den Gerichten so auszulegen sind, dass ihnen eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene
Wirkung zukommt (vgl. BVerfGE 65, 317 ; 96, 68 ). Bei der Beschränkung im Einzelfall muss die Stellung des Grundrechts
auch im Rahmen des Abwägungsprozesses angemessen berücksichtigt werden. Insbesondere ist sorgfältig abzuwägen, ob ein Eingriff
in den Grenzen bleibt, die ihm durch den im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden, mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit gezogen werden (vgl. BVerfGE 29, 312 ). Diesen zu beachten, ist bei allen Eingriffen durch die öffentliche
Gewalt ein zwingendes verfassungsrechtliches Gebot (vgl. BVerfGE 30, 173 ). Ein Eingriff ist jedenfalls dann unverhältnismäßig,
wenn er nicht zur Erreichung des angestrebten Zwecks erforderlich ist. Dies wiederum ist nicht der Fall, wenn ein gleich geeignetes,
milderes Mittel zur Erreichung des Zwecks ausreichend ist (vgl. BVerfGE 67, 157 ; 81, 156 m.w.N.).

18
(2) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts nicht, die das
Festhalten des Beschwerdeführers und die Aufrechterhaltung der Ingewahrsamnahme bis zur Entlassung durch die Polizei gegen
4.30 Uhr für rechtmäßig erklären. Es kann im Ergebnis dahin stehen, ob die Polizei den Beschwerdeführer auf der Grundlage
von § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO oder aufgrund von § 81b StPO festgehalten hat, denn die Maßnahmen erweisen sich jedenfalls nicht
als erforderlich.

19
Die Vorschrift des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur Identitätsfeststellung nur zu, wenn die Identität sonst
nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Die Vorschrift stellt insofern eine gesetzliche
Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots dar und soll sicherstellen, dass ein Eingriff in die
persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur Feststellung der Identität unerlässlich ist. Ein solcher Fall lag hier
nicht vor. § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO ermächtigt Polizeibeamte, gegenüber einem Verdächtigen die notwendigen Maßnahmen zur
Identitätsfeststellung zu treffen, also den Betreffenden nach seinen Personalien zu befragen und diesen aufzufordern, mitgeführte
Ausweisdokumente auszuhändigen. Nur dann, wenn die Identität des Betreffenden auch unter Ausschöpfung dieser Maßnahmen nicht
mit der erforderlichen Sicherheit geklärt werden kann oder dies mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, kommt ein
weiteres Festhalten nach Satz 2 in Betracht. Ein weiterer Eingriff in das Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf
also nur dann erfolgen, wenn die Polizei auf der Basis der bereits bekannten Daten berechtigte Zweifel an der Identität der
Person hat. Hiervon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hat sich gegenüber der Polizei
vor Ort mit einem Reisepass samt Meldebestätigung ausgewiesen. Diese amtlichen Dokumente sind zur Feststellung der Identität
geeignet. Anhaltspunkte dafür, dass der Pass des Beschwerdeführers gefälscht war oder seine Person nicht mit dem Passinhaber
übereinstimmte, etwa, weil das Foto keine oder nur geringe Ähnlichkeit mit ihm aufwies, sind weder von der Polizei noch vom
Landgericht benannt worden noch sind sie ansonsten ersichtlich. Daher ist – insbesondere im Hinblick auf das verfassungsrechtlich
fundierte Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen bloßer Identitätsfeststellung und weiterem Festhalten – davon auszugehen, dass
es den Polizeibeamten möglich war, die Identität aufgrund des vorgelegten Reisepasses vor Ort hinreichend sicher festzustellen.
Ein Festhalten aus reinen Praktikabilitätserwägungen vermag schon die Erforderlichkeit der Maßnahme nicht zu begründen und
dürfte im Übrigen auch auf die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer derartigen Maßnahme keinen Einfluss
haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1992 – 2 BvR 658/90 -, NVwZ 1992, S. 767 ).

20
Auch ein Festhalten des Beschwerdeführers auf der Grundlage des § 81b Alt. 2 StPO war jedenfalls unverhältnismäßig, denn es
verkannte die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Insoweit ist zwischen der Anordnung der Maßnahme
und der Durchführung zu unterscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juli 2006 – 2 BvR 1255/04
-, NStZ-RR 2006, S. 381 ). Selbst wenn man in Bezug auf die Anordnung der Maßnahme mit dem Landgericht davon ausgeht,
dass trotz eindeutig festgestellter Identität des Beschwerdeführers und aller anderen Personen die Erinnerung der einzelnen
Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet
gewesen wäre und es als Erinnerungsstütze noch ein Bedürfnis an weiteren im Strafprozess zu verwertenden Beweismitteln gab,
rechtfertigt dies für die Durchführung jedenfalls nicht ein stundenlanges Festhalten und Einsperren des Beschwerdeführers
auf verschiedenen Polizeiwachen. Die Gerichte verkennen die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips,
dass in der Formulierung “soweit (…) notwendig” in § 81b StPO seinen Niederschlag auch in der einfachgesetzlichen Regelung
gefunden hat. Sie haben insoweit nicht ausgeführt, dass ein stundenlanges Festhalten des Beschwerdeführers für das Anfertigen
der Lichtbilder des Beschwerdeführers notwendig war. Zwar kann die Masse der zu bearbeitenden Fälle eine zeitliche Verzögerung
rechtfertigen, jedoch fehlt es an Ausführungen zum Vorliegen von Erschwernissen solchen Ausmaßes. Allerdings ist die Polizei
als Strafverfolgungsbehörde – soweit nicht ein genereller entsprechender Bedarf besteht – nicht gezwungen, Personal und Material
für erkennungsdienstliche Maßnahmen in solchem Maß vorzuhalten, dass eine Bearbeitung in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher
Nähe erfolgen kann. Vielmehr kann es durchaus verhältnismäßig sein, derartige spezielle Ressourcen insbesondere räumlich zusammenzufassen.
Eine Verbringung an diesen Ort und eine organisatorisch nicht zu vermeidende und gemäßigte Wartefrist können jedenfalls bei
hinreichend gewichtigen Straftaten angemessene Eingriffe im Verhältnis zur Bedeutung des staatlichen Strafanspruches sein.
Ein solcher Fall liegt aber auf der Basis des festgestellten Sachverhalts nicht vor. Der Beschwerdeführer ist nach mehreren
Stunden ausschließlich in der Art erkennungsdienstlich behandelt worden, dass von ihm zwei einfache Fotos angefertigt wurden.
Weitere Aufnahmen insbesondere solche, die besondere fotografische oder kriminalistische Erfahrung oder Ausrüstung erforderten,
sind vom Landgericht weder festgestellt noch Teil seiner Verhältnismäßigkeitserwägungen geworden. Insofern stellt sich die
erkennungsdienstliche Behandlung als die Anfertigung von einfachen, alltäglichen Fotoaufnahmen dar. Für die Annahme der Erforderlichkeit
in diesem Fall hätte es einer genaueren Auseinandersetzung mit anderen Möglichkeiten bedurft, zeitlich früher Aufnahmen des
Beschwerdeführers in der gleichen Qualität und Machart anzufertigen, die den Zweck des § 81b StPO nicht schlechter erfüllt
hätten. Hierbei hätten die Gerichte insbesondere prüfen müssen, ob die Beamten entsprechende Aufnahmen nicht mit einer verfügbaren
oder kurzfristig herbeizuschaffenden Kamera auch vor Ort, als die Personen einzeln aus dem Kessel zur Identitätsfeststellung
herausgeführt wurden, hätten machen können oder sonst spätestens auf den einzelnen Polizeiwachen.

21
bb) Die das Festhalten des Beschwerdeführers auf der Polizeiwache sowie dem Polizeipräsidium einschließlich der Verbringung
dorthin bestätigenden Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts verletzen den Beschwerdeführer auch in seinem grundrechtsgleichen
Recht aus Art. 104 Abs. 2 GG.

22
(1) Das Einsperren des Beschwerdeführers in eine Gewahrsamszelle auf der Polizeiwache beziehungsweise auf dem Polizeipräsidium
sowie als Verbindungsglied zwischen beiden das Verbringen dorthin mittels Polizeifahrzeugen stellen eine Freiheitsentziehung
im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG und nicht lediglich eine Freiheitsbeschränkung dar. Während eine Freiheitsbeschränkung schon
dann anzunehmen ist, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen
oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist, liegt eine Freiheitsentziehung erst
dann vor, wenn die tatsächlich und rechtlich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin aufgehoben wird
(vgl. BVerfGE 94, 166 ). Die Freiheitsentziehung ist der schwerste Fall der Freiheitsbeschränkung (vgl. BVerfGE 10, 302
). Beide Begriffe sind entsprechend ihrer Intensität abzugrenzen (vgl. BVerfGE 105, 239, 248). Jedenfalls muss die Unterbringung
einer Person gegen ihren Willen in einem Haftraum als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG angesehen werden
(vgl. BGHZ 82, 261 und BVerwGE 62, 317 ). Nur kurzfristige Aufhebungen der Bewegungsfreiheit stellen dagegen keine
Freiheitsentziehung dar (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Mai 2004 – 2 BvR 715/04 -, NJW 2004,
S. 3697).

23
Nach Art. 104 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG ist die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung allein
dem Richter vorbehalten, wobei bei nicht vorgelagerter richterlicher Entscheidung diese unverzüglich nach Beginn der Freiheitsentziehung
zu bewirken ist.

24
(2) Die Polizei hat den Beschwerdeführer jedenfalls von 19.55 Uhr bis 4.30 Uhr festgehalten und von dem Ort der Festsetzung
zunächst zur Polizeiwache und dann zum Polizeipräsidium verbracht, wobei er zweimal für jeweils zumindest eine Stunde in eine
Gewahrsamszelle eingesperrt wurde. Das Festhalten des Beschwerdeführers in Gewahrsamszellen auf der Polizeiwache und im Polizeipräsidium
sowie die jeweilige Verbringung dahin stellen eine vollständige Aufhebung seiner Bewegungsfreiheit dar. Dabei stellt der Einschluss
in Zellen den typischen Fall der hoheitlichen Freiheitsentziehung dar, den das Grundgesetz unter die besonderen Voraussetzungen
des Art. 104 Abs. 2 GG stellen wollte (vgl. BVerwGE 62, 317 ). Anders als im Regelfall von § 81b StPO wurde der Beschwerdeführer
nicht allein zur Dienststelle verbracht und im Weiteren umgehend erkennungsdienstlich behandelt, sondern über eine Dauer von
mehreren Stunden allein verwahrt für eine nachfolgende erkennungsdienstliche Behandlung. Dies hat aber – umso mehr im Vergleich
zu dem verfolgten Ziel, nämlich der Anfertigung von zwei Fotos – eigenes Gewicht. Insbesondere ist die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung
nicht nur als kurzfristig anzusehen, denn sie umfasst jedenfalls einen Zeitraum, der nicht mehr unbedeutend ist.

25
Die Gerichte haben damit die Auswirkungen des Festhaltens des Beschwerdeführers in tatsächlicher und in der Folge auch in
verfassungsrechtlicher Hinsicht verkannt und sich nicht mit den Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG auseinandergesetzt.
Bei der gebotenen Qualifikation der Maßnahme als Freiheitsentziehung hätten sich die Gerichte mit der Frage der Notwendigkeit
der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung sowie den hierzu getroffenen organisatorischen Voraussetzungen sowie den
Maßnahmen im Einzelfall befassen müssen.

26
c) Die Sache ist zur erneuten Rechtsprüfung an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

27
d) Ob die angegriffenen Entscheidungen zugleich gegen die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verstoßen, kann ebenso
dahinstehen wie die Frage, ob der Beschluss des Landgerichts gegen das Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz
aus Art. 19 Abs. 4 GG verstößt.

28
2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Der erfolglose Teil der Verfassungsbeschwerde ist von untergeordneter Bedeutung, so dass trotz teilweisen Unterliegens des
Beschwerdeführers die vollständige Erstattung seiner Auslagen anzuordnen ist.

29
3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG.


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