Strafrecht

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG und Art 104 Abs 2 GG durch gerichtlichen Beschluss, durch den eine mehrstündige Ingewahrsamnahme durch die Polizei zur Identitätsfeststellung für rechtmäßig erklärt wurde

Aktenzeichen  1 BvR 47/05

Datum:
8.3.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2011:rk20110308.1bvr004705
Normen:
Art 104 Abs 2 GG
Art 20 Abs 3 GG
Art 2 Abs 2 S 2 GG
§ 93c Abs 1 S 3 BVerfGG
§ 163b Abs 1 S 2 StPO
§ 81b Alt 1 StPO
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend LG Hamburg, 5. Oktober 2004, Az: 612 Qs 53/04, Beschlussvorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 26. November 2004, Az: 1 Ws 211/04, Beschlussvorgehend LG Hamburg, 5. Oktober 2004, Az: 612 Qs 53/04, Prozesskostenhilfebeschluss

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 5. Oktober 2004 – 612 Qs 53/04 – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 104 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit er die gegenüber dem Beschwerdeführer am 27. und 28. September 2003 ergangenen Maßnahmen der Polizeibehörden der Freien und Hansestadt Hamburg auch nach der Vorlage und Überprüfung seines Personalausweises für rechtmäßig erklärt. Der Beschluss wird insoweit aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € festgesetzt.

Gründe

1
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen gegen einen Beschluss des Landgerichts,
mit dem eine mehrstündige Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers durch die Polizei zur Identitätsfeststellung für rechtmäßig
erklärt wurde.

I.
2
1. Am Nachmittag des 27. September 2003 betrat der Beschwerdeführer mit einer Gruppe von circa 100 Personen aus dem Umfeld
der sogenannten Bauwagenszene in Hamburg ohne entsprechende Erlaubnis oder Billigung der Berechtigten ein Grundstück in der
Absicht, das Gelände für sich als neuen Wohnsitz und ständigen Aufenthaltsort sowie als Abstellort für vier mitgeführte Bauwagen
zu nutzen. Der Aktion vorausgegangen waren Verhandlungen zwischen der Stadt und Vertretern der Bauwagenszene über dieses Gelände
als Ersatzstandort für einen im Jahre 2002 geschlossenen Bauwagenplatz.

3
Gegen 18 Uhr versperrte die angerückte Polizei die Ausgänge des Geländes, so dass die an der Aktion beteiligten Personen das
Gelände nicht mehr verlassen konnten. Um 18.35 Uhr stellte ein Vertreter der Berechtigten Strafantrag gegen die auf dem Gelände
befindlichen Personen. Die Polizei stellte die Identität der betreffenden Personen vor Ort fest. Nach seinen Angaben verwehrte
die Polizei dem Beschwerdeführer, sich nach Vorlage seines Ausweises zu entfernen. Gegen 19.55 Uhr umstellte die Polizei die
sich auf dem Gelände befindlichen Personen. Die Feuerwehr leuchtete den Platz mit Flutlicht aus und die Polizei gab den Eingeschlossenen
um 20.12 Uhr über Megaphon bekannt, dass sie wegen des Verdachts des Hausfriedensbruchs vorläufig festgenommen seien. Insgesamt
handelte es sich hierbei einschließlich des Beschwerdeführers noch um circa 80 Personen. Die Polizei führte die Personen ab
circa 20.20 Uhr nacheinander aus dem Kessel; die Räumung dauerte bis 21.55 Uhr. Der Beschwerdeführer wies sich dabei nach
Aufforderung wiederum unter Vorlage eines gültigen Bundespersonalausweises aus. Die Polizei verbrachte ihn zusammen mit anderen
Personen zu einer Polizeiwache, wo er gegen 20.30 Uhr eintraf. Ungefähr anderthalb Stunden verbrachte der Beschwerdeführer
in einer Zelle, ohne dass die Polizei in der Zwischenzeit ihn betreffende Maßnahmen durchführte. Gegen 23.00 Uhr brachte die
Polizei den Beschwerdeführer zum Polizeipräsidium, wobei die Fahrt circa eine Stunde dauerte. Dort verbrachte der Beschwerdeführer
eine Stunde in einer Zelle, bis er erkennungsdienstlich behandelt wurde (Anfertigung von drei Lichtbildern). Die Polizei stützte
diese Maßnahme auf § 81b Alt. 1 StPO. Sie entließ den Beschwerdeführer am 28. September 2003 gegen 1.30 Uhr.

4
2. Am 27. Oktober 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht die nachträgliche Feststellung, dass die Freiheitsentziehung
von 18 Uhr bis 01.30 Uhr von Anfang an dem Grunde und der Dauer nach sowie die Behandlung während der Freiheitsentziehung
rechtswidrig waren. Mit Beschluss vom 14. Juni 2004 stellte das Amtsgericht in analoger Anwendung von § 98 Abs. 2 StPO fest,
dass die am 27. September 2003 ab 19.55 Uhr bis zum 28. September 2003, 1.30 Uhr zum Nachteil des Beschwerdeführers vollzogene
Freiheitsentziehung nach der Vorlage und Überprüfung seines Personalausweises rechtswidrig gewesen sei und wies den Antrag
im Übrigen zurück.

5
3. a) Mit Beschluss vom 5. Oktober 2004 hob das Landgericht auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft den Beschluss des Amtsgerichts
insoweit auf, als in ihm die Feststellung enthalten ist, dass die ab 19.55 Uhr bis 1.30 Uhr zum Nachteil des Beschwerdeführers
vollzogene Freiheitsentziehung nach der Vorlage und Überprüfung seines Personalausweises rechtswidrig gewesen sei, lehnte
den Feststellungsantrag des Beschwerdeführers ab, verwarf seine Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss und lehnte
seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Zutreffend sei das Amtsgericht davon ausgegangen, dass das Festhalten
des Beschwerdeführers auf der Grundlage von § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO zur Feststellung seiner Identität jedenfalls bis zur
Vorlage seines Bundespersonalausweises rechtmäßig gewesen sei. Die daran anschließende Verbringung des Beschwerdeführers zunächst
zur Polizeiwache und sodann ins Polizeipräsidium, um dort bis zu seiner Entlassung Lichtbilder anzufertigen, finde ihre gesetzliche
Grundlage in § 81b Alt. 1 StPO. Für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens sei es notwendig gewesen, Lichtbilder
vom Beschwerdeführer anzufertigen. Schon angesichts der Vielzahl der Besetzer sei es für eine eindeutige Beweisführung über
die tatsächliche Anwesenheit einzelner Personen auf dem Grundstück erforderlich gewesen, das tatsächliche damalige Aussehen
des Beschwerdeführers zu dokumentieren. Zu diesem Zweck habe der Beschwerdeführer auch zwangsweise zur Polizeibehörde verbracht
und dort bis zur Erledigung festgehalten werden dürfen. Hierin sei weder eine Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 Satz
1 GG noch eine vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO zu sehen, sondern allein eine Maßnahme des unmittelbaren Zwangs
zur Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung. Dass für die Vornahme der Maßnahmen eine Zeit von einigen Stunden
benötigt worden sei, sei angesichts der Vielzahl der festgehaltenen und zu erfassenden Personen auch verhältnismäßig gewesen,
zumal die Zeitdauer deutlich unter der vom Gesetzgeber in § 163c Abs. 3 StPO (heute: § 163c Abs. 2 StPO) als hinnehmbar festgelegten
Höchstdauer von 12 Stunden geblieben sei. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe sei bereits deshalb abzulehnen,
da es dafür im strafprozessualen Beschwerdeverfahren an einer Rechtsgrundlage fehle.

6
b) Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer, mit Ausnahme der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe, eine Gegenvorstellung,
auf die das Landgericht ihm mitteilte, es gebe keinen Anlass, vom Beschluss abzurücken.

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c) Soweit der Beschluss des Landgerichts dem Beschwerdeführer die Gewährung von Prozesskostenhilfe versagte, legte der Beschwerdeführer
Beschwerde ein, die das Oberlandesgericht verwarf.

8
d) Gegen den Prozesskostenhilfebeschluss des Oberlandesgerichts erhob der Beschwerdeführer eine Gegenvorstellung, die das
Oberlandesgericht zurückwies.

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4. a) Mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts, soweit er die Rechtmäßigkeit der gegen ihn gerichteten
Maßnahme bestätigt, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 2
Abs. 2 Satz 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG. Es habe sich um eine Freiheitsentziehung
gehandelt. Eine Rechtsgrundlage für die Verwahrung habe nicht vorgelegen; jedenfalls sei der Eingriff nicht verhältnismäßig.
Das Landgericht habe wegen der Verkennung des Vorliegens einer Freiheitsentziehung auch übersehen, dass das Unverzüglichkeitsgebot
des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt sei.

10
b) Mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts sowie den Beschluss des Landgerichts betreffend
die Versagung von Prozesskostenhilfe rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG.

11
5. Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg hat von der Gelegenheit zur Äußerung keinen Gebrauch gemacht.

12
6. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Aus ihnen ergibt sich, dass das Amtsgericht
das gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfahren wegen Hausfriedensbruchs gemäß § 153a Abs. 2 StPO nach der Zahlung eines
Bußgeldes in Höhe von 150 € endgültig eingestellt hat.

II.
13
Die Verfassungsbeschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung
anzunehmen, da dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist.

14
1. In Bezug auf die angegriffenen Prozesskostenhilfeentscheidungen ist die Verfassungsbeschwerde allerdings unzulässig und
ist deshalb insoweit nicht zur Entscheidung anzunehmen.

15
Der Beschwerdeführer hat insoweit den Grundsatz der materiellen Subsidiarität, der aus § 90 Abs. 2 BVerfGG abzuleiten ist
(vgl. BVerfGE 77, 275 ; 85, 80 ), nicht eingehalten. Dieser verlangt über die Erschöpfung des Rechtswegs hinaus,
dass der Beschwerdeführer im Rahmen des Zumutbaren die ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um
eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl.
BVerfGE 84, 203 ; 85, 80 ; 112, 50 ). Diesen Anforderungen wird der Beschwerdeführer nicht gerecht, denn er legt
nicht dar, dass – abgesehen von der Beantragung von Prozesskostenhilfe – keine weitere Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts
auf Kosten der öffentlichen Hand bestand. Im vorliegenden Fall hätte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Bestellung eines
Pflichtverteidigers analog § 140 Abs. 2, § 141 StPO stellen können (vgl. LG Karlsruhe, Beschluss vom 27. April 2001 – 6 Qs
18/01 -, StV 2001, S. 390; Laufhütte, in: KK-StPO, 6. Aufl. 2008, § 141 Rn 11; Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26.
Aufl. 2007, § 140 Rn 117 ff. ).

16
2. Im Übrigen, also in Bezug auf den die polizeilichen Maßnahmen bestätigenden Beschluss des Landgerichts liegen die Voraussetzungen
für eine stattgebende Kammerentscheidung vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht
hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt für die verfassungsrechtlichen Maßstäbe
im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG einschließlich
der besonderen Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BVerfGE 10, 302 ; 29, 312 ; 94, 166 ; 105,
239 ).

17
a) Die Verfassungsbeschwerde, die sich bei verständiger Würdigung nur gegen den die polizeilichen Maßnahmen bestätigenden
Beschluss des Landgerichts und nicht auch unmittelbar gegen die polizeilichen Maßnahmen selbst richtet, ist insoweit zulässig.
Dem Beschwerdeführer fehlt es insbesondere nicht an einem allgemeinen Rechtsschutzinteresse, weil der Freiheitseingriff beendet
ist. Es würde der Bedeutung des Schutzes der persönlichen Freiheit in der im Grundgesetz garantierten Form nicht entsprechen,
wenn das Recht auf eine verfassungsgerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in das Freiheitsrecht bei Wiedergewährung
der Freiheit ohne Weiteres entfiele (vgl. BVerfGE 9, 89 ; 10, 302 ; stRspr).

18
b) Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auch offensichtlich begründet.

19
aa) Der Beschluss des Landgerichts verletzt, insoweit er die gegen den Beschwerdeführer gerichteten polizeilichen Maßnahmen
bestätigt, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

20
(1) Der Schutzbereich des Grundrechts umfasst sowohl freiheitsbeschränkende als auch freiheitsentziehende Maßnahmen. Eine
Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen
Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Eine Freiheitsentziehung
als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung ist nur dann gegeben, wenn die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene körperliche
Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 94, 166 ).

21
Eingriffe in die Freiheit der Person bedürfen einer gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 2, 118 ; 29, 183 ), wobei
die Formvorschriften dieser Gesetze von den Gerichten so auszulegen sind, dass ihnen eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene
Wirkung zukommt (vgl. BVerfGE 65, 317 ; 96, 68 ). Bei der Beschränkung im Einzelfall muss die Stellung des Grundrechts
auch im Rahmen des Abwägungsprozesses angemessen berücksichtigt werden. Insbesondere ist sorgfältig abzuwägen, ob ein Eingriff
in den Grenzen bleibt, die ihm durch den im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden, mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit gezogen werden (vgl. BVerfGE 29, 312 ). Diesen zu beachten, ist bei allen Eingriffen durch die öffentliche
Gewalt ein zwingendes verfassungsrechtliches Gebot (vgl. BVerfGE 30, 173 ). Ein Eingriff ist jedenfalls dann unverhältnismäßig,
wenn er nicht zur Erreichung des angestrebten Zwecks erforderlich ist. Dies wiederum ist nicht der Fall, wenn ein gleich geeignetes,
milderes Mittel zur Erreichung des Zwecks ausreichend ist (vgl. BVerfGE 67, 157 ; 81, 156 m.w.N.).

22
(2) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt der Beschluss des Landgerichts nicht, der das Festhalten des Beschwerdeführers
und die Aufrechterhaltung der Ingewahrsamnahme bis zur Entlassung durch die Polizei gegen 1.30 Uhr für rechtmäßig erklärt.
Es kann im Ergebnis dahin stehen, ob die Polizei den Beschwerdeführer auf der Grundlage von § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO oder
aufgrund von § 81b StPO festgehalten hat, denn die Maßnahmen erweisen sich jedenfalls nicht als erforderlich.

23
Die Vorschrift des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur Identitätsfeststellung nur zu, wenn die Identität sonst
nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Die Vorschrift stellt insofern eine gesetzliche
Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots dar und soll sicherstellen, dass ein Eingriff in die
persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur Feststellung der Identität unerlässlich ist. Ein solcher Fall lag hier
nicht vor. § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO ermächtigt Polizeibeamte, gegenüber einem Verdächtigen die notwendigen Maßnahmen zur
Identitätsfeststellung zu treffen, also den Betreffenden nach seinen Personalien zu befragen und diesen aufzufordern, mitgeführte
Ausweisdokumente auszuhändigen. Nur dann, wenn die Identität des Betreffenden auch unter Ausschöpfung dieser Maßnahmen nicht
mit der erforderlichen Sicherheit geklärt werden kann oder dies mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, kommt ein
weiteres Festhalten nach Satz 2 in Betracht. Ein weiterer Eingriff in das Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf
also nur dann erfolgen, wenn die Polizei auf der Basis der bereits bekannten Daten berechtigte Zweifel an der Identität der
Person hat. Hiervon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Der Beschwerdeführer hat sich gegenüber der Polizei
vor Ort mit einem Bundespersonalausweis ausgewiesen. Der Bundespersonalausweis ist dabei in besonderer Weise als Dokument
zur Feststellung der Identität geeignet, da er gemäß § 1 PAuswG die erforderlichen Daten für eine Identifikation und strafrechtlich
relevante Erfassung der Person enthält und darüber hinaus mit besonderen Fälschungssicherungen versehen ist. Anhaltspunkte
dafür, dass der Ausweis des Beschwerdeführers gefälscht war oder seine Person nicht mit dem Ausweisinhaber übereinstimmte,
etwa, weil das Foto keine oder nur geringe Ähnlichkeit mit ihm aufwies, sind weder von der Polizei noch vom Landgericht benannt
worden noch sind sie ansonsten ersichtlich. Daher ist – insbesondere im Hinblick auf das verfassungsrechtlich fundierte Regel-Ausnahme-Verhältnis
zwischen bloßer Identitätsfeststellung und weiterem Festhalten – davon auszugehen, dass es den Polizeibeamten möglich war,
die Identität aufgrund des vorgelegten Bundespersonalausweises vor Ort hinreichend sicher festzustellen. Ein Festhalten aus
reinen Praktikabilitätserwägungen vermag schon die Erforderlichkeit der Maßnahme nicht zu begründen und dürfte im Übrigen
auch auf die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer derartigen Maßnahme keinen Einfluss haben (vgl.
BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1992 – 2 BvR 658/90 -, NVwZ 1992, S. 767 ).

24
Auch ein Festhalten des Beschwerdeführers auf der Grundlage des § 81b Alt. 2 StPO war jedenfalls unverhältnismäßig, denn es
verkannte die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Insoweit ist zwischen der Anordnung der Maßnahme
und der Durchführung zu unterscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juli 2006 – 2 BvR 1255/04
NStZ-RR 2006, S. 381 ). Selbst wenn man in Bezug auf die Anordnung der Maßnahme mit dem Landgericht davon ausgeht,
dass trotz eindeutig festgestellter Identität des Beschwerdeführers und aller anderen Personen die Erinnerung der einzelnen
Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet
gewesen wäre und es als Erinnerungsstütze noch ein Bedürfnis an weiteren im Strafprozess zu verwertenden Beweismitteln gab,
rechtfertigt dies für die Durchführung jedenfalls nicht ein stundenlanges Festhalten und Einsperren des Beschwerdeführers
auf verschiedenen Polizeiwachen. Das Landgericht verkennt die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips,
dass in der Formulierung “soweit (…) notwendig” in § 81b StPO seinen Niederschlag auch in der einfachgesetzlichen Regelung
gefunden hat. Es hat insoweit nicht ausgeführt, dass ein stundenlanges Festhalten des Beschwerdeführers für das Anfertigen
der Lichtbilder des Beschwerdeführers notwendig war. Zwar kann die Masse der zu bearbeitenden Fälle eine zeitliche Verzögerung
rechtfertigen, jedoch hat das Landgericht keine Ausführungen zum Vorliegen von Erschwernissen gemacht, die die Dauer in dem
hier festgestellten Umfang rechtfertigten. Allerdings ist die Polizei als Strafverfolgungsbehörde – soweit nicht ein genereller
entsprechender Bedarf besteht – nicht gezwungen, Personal und Material für erkennungsdienstliche Maßnahmen in solchem Maß
vorzuhalten, dass eine Bearbeitung in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe erfolgen kann. Vielmehr kann es durchaus
verhältnismäßig sein, derartige spezielle Ressourcen insbesondere räumlich zusammenzufassen. Eine Verbringung an diesen Ort
und eine organisatorisch nicht zu vermeidende und gemäßigte Wartefrist können jedenfalls bei hinreichend gewichtigen Straftaten
angemessene Eingriffe im Verhältnis zur Bedeutung des staatlichen Strafanspruches sein. Ein solcher Fall liegt aber auf der
Basis des festgestellten Sachverhalts nicht vor. Der Beschwerdeführer ist im Polizeipräsidium nach mehreren Stunden ausschließlich
in der Art erkennungsdienstlich behandelt worden, dass von ihm drei einfache Fotos angefertigt wurden. Weitere Aufnahmen insbesondere
solche, die besondere fotografische oder kriminalistische Erfahrung oder Ausrüstung erforderten, sind vom Landgericht weder
festgestellt noch Teil seiner Verhältnismäßigkeitserwägungen geworden. Insofern stellt sich die erkennungsdienstliche Behandlung
als die Anfertigung von einfachen, alltäglichen Fotoaufnahmen dar. Für die Annahme der Erforderlichkeit in diesem Fall hätte
es einer genaueren Auseinandersetzung mit anderen Möglichkeiten bedurft, zeitlich früher Aufnahmen des Beschwerdeführers in
der gleichen Qualität und Machart anzufertigen, die den Zweck des § 81b StPO nicht schlechter erfüllt hätten. Hierbei hätte
das Landgericht insbesondere prüfen müssen, ob die Beamten entsprechende Aufnahmen nicht mit einer verfügbaren oder kurzfristig
herbeizuschaffenden Kamera auch vor Ort, als die Personen einzeln aus dem Kessel zur Identitätsfeststellung herausgeführt
wurden, hätten machen können oder sonst spätestens auf den einzelnen Polizeiwachen.

25
bb) Der das Festhalten des Beschwerdeführers auf der Polizeiwache sowie dem Polizeipräsidium einschließlich der Verbringung
dorthin bestätigende Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus
Art. 104 Abs. 2 GG.

26
(1) Das Einsperren des Beschwerdeführers in eine Gewahrsamszelle auf der Polizeiwache beziehungsweise auf dem Polizeipräsidium
sowie als Verbindungsglied zwischen beiden das Verbringen dorthin mittels Polizeifahrzeugen stellen eine Freiheitsentziehung
im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG und nicht lediglich eine Freiheitsbeschränkung dar. Während eine Freiheitsbeschränkung schon
dann anzunehmen ist, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen
oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist, liegt eine Freiheitsentziehung erst
dann vor, wenn die tatsächlich und rechtlich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin aufgehoben wird
(vgl. BVerfGE 94, 166 ). Die Freiheitsentziehung ist der schwerste Fall der Freiheitsbeschränkung (vgl. BVerfGE 10, 302
). Beide Begriffe sind entsprechend ihrer Intensität abzugrenzen (vgl. BVerfGE 105, 239 ). Jedenfalls muss die Unterbringung
einer Person gegen ihren Willen in einem Haftraum als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG angesehen werden
(vgl. BGHZ 82, 261 und BVerwGE 62, 317 ). Nur kurzfristige Aufhebungen der Bewegungsfreiheit stellen dagegen keine
Freiheitsentziehung dar (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Mai 2004 – 2 BvR 715/04 -, NJW 2004,
S. 3697).

27
Nach Art. 104 Abs. 2 Satz 2, 3 GG ist die Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung allein
dem Richter vorbehalten, wobei bei nicht vorgelagerter richterlicher Entscheidung diese unverzüglich nach Beginn der Freiheitsentziehung
zu bewirken ist.

28
(2) Die Polizei hat den Beschwerdeführer nach den Feststellungen des Landgerichts jedenfalls von 19.55 Uhr bis 1.30 Uhr festgehalten
und von dem Ort der Festsetzung zunächst zur Polizeiwache und dann zum Polizeipräsidium verbracht, wobei er zweimal für jeweils
zumindest eine Stunde in eine Gewahrsamszelle eingesperrt und einmal circa eine Stunde lang in einem Polizeifahrzeug untergebracht
wurde. Das Festhalten des Beschwerdeführers in Gewahrsamszellen auf der Polizeiwache und im Polizeipräsidium sowie die jeweilige
Verbringung dahin stellen eine vollständige Aufhebung seiner Bewegungsfreiheit dar. Dabei stellt der Einschluss in Zellen
den typischen Fall der hoheitlichen Freiheitsentziehung dar, den das Grundgesetz unter die besonderen Voraussetzungen des
Art. 104 Abs. 2 GG stellen wollte (vgl. BVerwGE 62, 317 ). Anders als im Regelfall von § 81b StPO wurde der Beschwerdeführer
nicht allein zur Dienststelle verbracht und im Weiteren umgehend erkennungsdienstlich behandelt, sondern über eine Dauer von
mehreren Stunden allein verwahrt für eine nachfolgende erkennungsdienstliche Behandlung. Dies hat aber – umso mehr im Vergleich
zu dem verfolgten Ziel, nämlich der Anfertigung von drei Fotos – eigenes Gewicht. Insbesondere ist die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung
nicht nur als kurzfristig anzusehen, denn sie umfasst jedenfalls einen Zeitraum, der nicht mehr unbedeutend ist.

29
Das Landgericht hat in dem angegriffenen Beschluss festgestellt, dass das Festhalten des Beschwerdeführers weder eine Freiheitsentziehung
im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG noch eine vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO dargestellt habe, sondern allein eine
Maßnahme unmittelbaren Zwangs. Damit hat es die Auswirkungen des Festhaltens des Beschwerdeführers in tatsächlicher und in
der Folge auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht verkannt und sich nicht mit den Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 Satz 2
GG auseinandergesetzt. Bei der gebotenen Qualifikation der Maßnahme als Freiheitsentziehung hätte sich das Landgericht mit
der Frage der Notwendigkeit der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung sowie den hierzu getroffenen organisatorischen
Voraussetzungen sowie den Maßnahmen im Einzelfall befassen müssen.

30
c) Soweit die Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, ist die Sache zur erneuten Rechtsprüfung an das Landgericht zurückzuverweisen
(§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

31
d) Ob die angegriffene Entscheidung zugleich gegen das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie die Versammlungsfreiheit
aus Art. 8 Abs. 1 GG verstößt, kann dahinstehen.

32
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Der erfolglose Teil der Verfassungsbeschwerde ist von untergeordneter Bedeutung, so dass trotz teilweisen Unterliegens des
Beschwerdeführers die vollständige Erstattung seiner Auslagen anzuordnen ist.

33
4. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG.


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