Verwaltungsrecht

Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  3 ZB 20.50004, 3 ZB 20.50005

Datum:
18.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14679
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 161 Abs. 2 S. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 1, S. 2
VwVfG § 43

 

Leitsatz

1. Ein Bescheid des Bundesamts, mit dem ein Asylantrag wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates für unzulässig erklärt und die Abschiebung in diesen Mitgliedstaat angeordnet wurde (Dublin-Bescheid), erledigt sich grundsätzlich nicht nach § 43 Abs. 2 VwVfG durch Ablauf der Überstellungsfrist. (Rn. 5)
2. Erklären die Beteiligten nach Aufhebung eines Dublin-Bescheids durch das Bundesamt nach vorangegangenem Ablauf der Überstellungsfrist die Hauptsache übereinstimmend für erledigt, so ist maßgeblicher Zeitpunkt für die nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu treffende Billigkeitsentscheidung derjenige der Aufhebung des Dublin-Bescheids; nicht dagegen ist auf den Zeitpunkt unmittelbar vor Ablauf der Überstellungsfrist abzustellen. (Rn. 6 – 8)

Verfahrensgang

M 19 K 19.50509 2020-01-08 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren werden eingestellt. Die Urteile des Verwaltungsgerichts München vom 8. Januar 2020 sind wirkungslos.
II. Die Beklagte hat die Kosten der Verfahren in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten waren die (gemäß § 93 Satz 1 VwGO zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen) Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Die Urteile des Verwaltungsgerichts sind damit wirkungslos (§ 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO).
Ist ein Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, so hat das Gericht gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden; der bisherige Sach- und Streitstand im Zeitpunkt des Eintritts des zur Erledigung führenden Ereignisses ist hierbei zu berücksichtigen.
Billigem Ermessen entspricht es hier, die Verfahrenskosten der Beklagten aufzuerlegen. Denn sie hat mit der Aufhebung ihrer Bescheide vom 30. August 2018 (Kläger zu 1) und vom 24. September 2018 (Klägerinnen zu 2 und 3), mit denen die Asylanträge der Kläger wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung der Kläger nach Italien angeordnet worden war, die Erledigungen der Klagen herbeigeführt. Erledigende Ereignisse waren die Aufhebungsbescheide des Bundesamts vom 30. April 2020 (Kläger zu 1) und 12. Mai 2020 (Klägerinnen zu 2 und 3), denn erst zum Zeitpunkt ihrer Zustellung waren die mit den beiden Klagen verfolgten (prozessualen) Aufhebungsansprüche erfüllt. Dementsprechend haben die Kläger mit ihren Erledigungserklärungen nicht an den Ablauf der vom Bundesamt zugrunde gelegten 18-monatigen Überstellungsfristen (28. Februar bzw. 20. März 2020, Art. 29 Abs. 2 Satz 1, 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 = Dublin-III-VO) angeknüpft, sondern an die Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide, ohne die die Klageverfahren fortgesetzt worden wären (vgl. VG Frankfurt/Oder, B.v. 15.12.2017 – 2 K 1092/17.A – juris Rn. 8, 11, überzeugend gegen eine Erledigung des Bescheids „durch Zeitablauf oder auf andere Weise“, § 43 Abs. 2 VwVfG).
Damit kommt es in der vorliegenden Konstellation nicht auf die Erfolgsaussichten der Zulassungsanträge bis zum Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte an (so etwa BayVGH, B.v. 22.11.2017 – 9 ZB 17.50037 – juris Rn. 3: „bis zum gesetzlichen Eintritt des erledigenden Ereignisses“), sondern auf den Zeitpunkt der Aufhebung des jeweils angefochtenen Bescheids, zu dem das Rechtsschutzbedürfnis für eine Fortführung der Klage entfallen ist. Damit bedarf es auch keines Eingehens auf die Frage, ob die von den Klägern bestrittene zentrale Annahme in den (wirkungslosen) Urteilen, sie seien „flüchtig“ gewesen, zutrifft oder nicht.
Der Annahme des Bundesamts in seinen Schreiben vom 30. April und 12. Mai 2020, die streitgegenständlichen Bescheide seien „aufgrund des Wegfalls des Regelungsobjekts i.S.d. § 43 Abs. 2 VwVfG erledigt“, ist nicht zu folgen. Denn die unter Anordnung der Abschiebung erfolgte Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen anderweitig bestehender internationaler Zuständigkeit führt nicht dazu, dass ein Ablehnungsbescheid nach Ablauf der Überstellungsfrist seine Regelungsfunktion und damit seine rechtliche Wirkung verliert (BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 9; VG München, U.v. 16.12.2015 – 12 K 15.50788 – juris Rn. 24; VG Frankfurt/Oder, a.a.O. Rn. 10).
Für die getroffene Billigkeitsentscheidung spricht weiter, dass die Gründe für die Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide in der Sphäre der Beklagten liegen. Sowohl die sechsmonatige wie auch die 18-monatige Überstellungsfrist sind im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens (Art. 29 Abs. 1, 2 Dublin-III-VO) abgelaufen, ohne dass die Kläger nach Italien überstellt wurden (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 20 ZB 18.50011 – juris Rn. 2; VG Münster, B.v. 24.6.2019 – 8 K 3048/18.A – juris Rn. 6). Damit ist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf die Beklagte übergegangen (vgl. dazu EuGH, U.v. 25.10.2017 – C-201/16 – juris Rn. 34). Dass diese rechtliche Konsequenz auf gesetzlichem Befehl beruht und die nachfolgenden Aufhebungsbescheide (als die prozessual erledigenden Ereignisse) von der Beklagten nicht aus eigenem Willensentschluss („Freiwilligkeit“) erlassen wurden, ist im vorliegenden Fall ohne Bedeutung für die Billigkeitsentscheidung.
Zu keiner anderen Kostenverteilung vermag schließlich der Hinweis des Bundesamts zu führen, nicht ihm, sondern der zuständigen Ausländerbehörde habe die Durchführung der Überstellung oblegen. Zwar trifft es zu, dass es Aufgabe der Ausländerbehörden/Polizei der Länder ist, die Überstellungen zu vollziehen (vgl. § 71 Abs. 1, 5 AufenthG). Parallel hierzu hat allerdings das Bundesamt das Abschiebungsverfahren während seiner Dauer „unter Kontrolle zu halten“, wie sich aus § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ergibt, und dabei stets zu prüfen, ob etwa nachträglich Abschiebungshindernisse entstehen, die zur Aufhebung der Abschiebungsanordnung führen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 9, 10 m.w.N.; BayVGH, B.v. 26.7.2019 – 10 C 19.1304 – juris Rn. 3). In dieser rechtlichen Situation wäre es unbillig, ein bestimmtes Verhalten der Ausländerbehörde beim Vollzug einer Überstellung letztlich den Klägern zuzurechnen, obwohl die Vollzugsbehörden arbeitsteilig mit dem Bundesamt zusammenwirken (vgl. etwa VG Würzburg, B.v. 26.3.2020 – W 10 K 19.50533 – juris Rn. 4; VG Frankfurt/Oder, a.a.O. Rn. 5; a.A. VG München, B.v. 11.7.2014 – M 21 K 14.30481 – juris Rn. 7).
All das ändert nichts daran, dass maßgeblicher Zeitpunkt derjenige der Aufhebung der angefochtenen Bescheide ist. Zu diesen Zeitpunkten aber hätte den mit den Klagen verfolgten Aufhebungsansprüchen entsprochen werden müssen, weil die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren bereits auf die Beklagte übergegangen war. Die Frage, ob die Klagen auf Durchführung eines Asylverfahrens ohne Ablauf der Überstellungsfristen erfolgreich geblieben wären, ist hingegen ohne Belang.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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