Verwaltungsrecht

Anforderung an die Berufungszulassung bei kumulativer Mehrfachbegründung im angefochtenen Urteil

Aktenzeichen  15 ZB 20.2323

Datum:
10.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32665
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2
BayBO Art. 6, Art. 59, Art. 63, Art. 68
BayVwVfG Art. 44 Abs. 1

 

Leitsatz

Im Fall einer kumulativen Mehrfachbegründung eines Urteils erfordert das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2 VwGO, dass der Rechtsmittelführer darlegt, dass in Bezug auf jeden selbstständig tragenden Entscheidungsgrund ein Zulassungsgrund im Sinn von § 124 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 VwGO besteht, da anderenfalls das Urteil mit der nicht in zulassungsbegründender Weise angefochtenen Begründung Bestand haben könnte (ebenso BayVGH BeckRS 2020, 2741). (Rn. 6 – 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 6 K 20.19 2020-09-02 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Kläger – denen auf ihrem Grundstück FlNr. … (Gemarkung B** …*) von der Standortgemeinde unter dem 13. Oktober 2016 für das Vorhaben „Errichtung einer überdachten Pergola“ eine „Genehmigung für die isolierte Befreiung“ von den festgesetzten Baugrenzen des einschlägigen Bebauungsplan erteilt wurde – wenden sich gegen einen auf Art. 76 Satz 1 BayBO gestützten Bescheid des Landratsamts R* … vom 6. Dezember 2019, mit dem der Kläger zu 1 verpflichtet wurde, den auf dem o.g. Grundstück errichteten überdachten Freisitz zu beseitigen und die Klägerin zu 2 verpflichtet wurde, die vorgenannte Beseitigungsanordnung zu dulden.
In der Begründung des Bescheids vom 6. Dezember 2019 wird ausgeführt, der bei einer Baukontrolle vorgefundene Freisitz sei formell und materiell baurechtswidrig. Er entspreche hinsichtlich der Maße und der Ausführung nicht der erteilten isolierten Befreiung. Aufgrund seiner Kubatur sei er nicht gem. Art. 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO verfahrensfrei und benötige daher eine Baugenehmigung. Er halte zudem die gesetzlichen Abstandsflächen von 3 m zum südlich angrenzenden Nachbargrundstück nicht ein. Eine Privilegierung gem. Art. 6 Abs. 9 BayBO sei nicht gegeben. Die Beseitigung des widerrechtlich errichteten Bauwerks liege im Ermessen des Landratsamts (wird weiter ausgeführt).
Die am 3. Januar 2020 von den Klägern erhobene Klage mit dem Antrag, den Bescheid vom 6. Dezember 2019 aufzuheben, wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 2. September 2020 ab. Nach den Entscheidungsgründen sei der von der bauordnungsrechtlichen Verfügung erfasste Freisitz nicht nur formell, sondern – wegen Verstoßes gegen Art. 6 BayBO – auch materiell baurechtswidrig.
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen die Kläger ihr Rechtsschutzbegehren weiter.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Die Kläger wenden sich mit ihrer rechtzeitigen Antragsbegründung – ohne sich ausdrücklich auf einen Berufungszulassungsgrund i.S. von § 124 Abs. 2 VwGO zu berufen – ausschließlich gegen die in den Entscheidungsgründen ausgeführte Ansicht des Verwaltungsgerichts, wonach der Bescheid der Standortgemeinde vom 13. Oktober 2016 nicht als Baugenehmigung i.S. von Art. 68 BayBO zu verstehen sei. Sie bringen vor, das Verwaltungsgericht habe sich bei der Einstufung des Bescheids vom 13. Oktober 2016 als isolierte Befreiung nicht hinreichend mit der Frage der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont auseinandergesetzt. Im Zweifel müssten erstinstanzliche Gerichte zur Ermöglichung eines fairen Verfahrens eine entsprechende Beweisaufnahme hierzu durchführen. Hierbei handele es sich nämlich nicht um eine Rechtsfrage, sondern um eine Tatsachenfrage. Im Zweifel sei gutachterlich zu ermitteln, wie ein durchschnittlich verständiger Bürger die Art der vorliegenden Verbescheidung auffasse. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts werde der durchschnittlich verständige Bürger einen Bescheid wie den vom 13. Oktober 2016 regelmäßig dahin auffassen, dass ihm der Bau des von ihm beantragten Bauvorhabens erlaubt werde und er mit dem Bau ohne weitere Zwischenschritte beginnen könne. Im Berufungsverfahren seien deshalb die Fragen zu klären, (1) welche Anforderungen an den objektiven Empfängerhorizont zu stellen seien und (2) inwieweit über die Art und Weise des objektiven Empfängerhorizonts eine Beweisaufnahme durchzuführen sei. Hierbei handele es sich um rechtserhebliche Fragen, die obergerichtlicher Klärung bedürften.
Sollten die Kläger mit ihren Rügen hinsichtlich der richtigen Auslegung des Bescheids vom 13. Oktober 2016 und einer aus ihrer Sicht gebotenen Beweiserhebung sinngemäß Berufungszulassungsgründe gem. Nr. 1 (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils), Nr. 2 (besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache), Nr. 3 (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) sowie Nr. 5 (Verfahrensmangel) des § 124 Abs. 2 BauGB hinreichend geltend gemacht haben, haben sie dennoch dem Darlegungsgebot gem. § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO nicht genügt.
Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung nicht nur auf die Auslegung des Bescheids vom 13. Oktober 2016 als (bloße) isolierte Befreiung gestützt, sondern – selbständig tragend – auch darauf, dass im Falle der Einordnung des Bescheids der Standortgemeinde vom 13. Oktober 2016 als (mangels sachlicher Zuständigkeit) rechtswidrige, aber nicht gem. Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG nichtige und daher wirksame Baugenehmigung diesem keine Legalisierungswirkung hinsichtlich des Verstoßes gegen Art. 6 BayBO zukomme, weil vom Prüfprogramm des dann einschlägigen vereinfachten Genehmigungsverfahrens gem. Art. 59 BayBO in der hier einschlägigen, bis zum 31. August 2018 gültigen Fassung das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht mangels beantragter Abweichungserteilung nicht umfasst gewesen sei (vgl. hierzu z.B. BayVGH, B.v. 10.1.2020 – 15 ZB 19.425 – juris Rn. 11 m.w.N.).
Im Fall einer solchen kumulativen Mehrfachbegründung eines Urteils erfordert das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO, dass der Rechtsmittelführer darlegt, dass in Bezug auf j e d e n der selbständig tragenden Entscheidungsgründe ein Zulassungsgrund im Sinn von § 124 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 VwGO besteht. Ist das angefochtene Urteil m.a.W. entscheidungstragend auf mehrere selbständige Begründungen gestützt, kann die Berufung nur dann zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede dieser Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht ist und vorliegt, da anderenfalls das Urteil mit der nicht in zulassungsbegründender Weise angefochtenen Begründung Bestand haben könnte (vgl. BayVGH, B.v. 24.2.2020 – 15 ZB 19.1505 – juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 17.4.2020 – 15 ZB 19.2388 – juris Rn. 16; B.v. 1.7.2020 – 22 ZB 19.299 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Mit den ebenso tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts zum Prüfprogramm des Bescheids vom 13. Oktober 2016 im Fall der Deutung als Baugenehmigung hat sich die Antragsbegründung aber nicht auseinandergesetzt.
Ebenso wurde in materiell-rechtlicher Hinsicht die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts, es sei am Maßstab von Art. 6 Abs. 5 Satz 1, Abs. 9 BayBO von einem Verstoß gegen das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht auszugehen und es lägen auch keine Ermessensfehler vor, von den Klägern nicht thematisiert.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1, § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG und folgt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gegen die die Beteiligten keine Einwände erhoben haben.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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