Verwaltungsrecht

Aserbaidschan, Folgeschutzgesuch, statthafte Antragsart, ausländische Urkunde, Beweiswert, Wiederaufgreifen im weiteren Sinne

Aktenzeichen  W 7 S 22.30097

Datum:
21.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 7242
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 123
AufenthG § 60 Abs. 5, 7
VwVfG § 51 Abs. 1, 5
VwVfG § 49
ZPO § 438

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz in einem Verfahren zur Abänderung einer bestandskräftigen Versagung zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutzes.
1. Der Antragsteller wurde am 14. April 1984 geboren und ist Staatsangehöriger von Aserbaidschan. Nach eigenen Angaben verließ er sein Herkunftsland gemeinsam mit seinen Familienangehörigen am 6. April 2015 und reiste am 8. April 2015 in das Bundesgebiet ein. Die Asylanträge des Antragstellers und seiner Familienangehörigen – der am 17. August 1991 geborenen Ehefrau sowie der am 8. Januar 2012 und 23. Februar 2013 geborenen gemeinsamen Töchter – vom 28. Mai 2015 wurden mit Bescheid des Bundesamtes für … (Bundesamt) vom 15. Dezember 2016 abgelehnt, wobei ihnen die Abschiebung nach Aserbaidschan oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht wurde. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 3. Januar 2019 abgewiesen (Az.: W 7 K 17.30006), der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. Februar 2019 abgelehnt (Az.: 2 ZB 19.30554). Der Asylfolgeantrag des Antragstellers vom 18. März 2019, zu dessen Begründung er ein Dokument vorlegte, welches augenscheinlich einen Fahndungsbeschluss eines aserbaidschanischen Gerichts aus dem Jahr 2016 darstellte, wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 21. Mai 2019 als unzulässig abgelehnt. Des Weiteren wurde die Abänderung der negativen Feststellung zum zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt. Auch dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden (VG Würzburg, B.v. 5.7.2019 – W 7 K 19.31044, Einstellung des Verfahrens nach Klagerücknahme). Ein weiterer Folgeantrag des Antragstellers vom 11. Juli 2019 wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 18. September 2019 erneut als unzulässig abgelehnt, wobei auch der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 15. Dezember 2016 hinsichtlich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 7 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet wurden. Auf die hiergegen erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Würzburg mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 13. Juli 2020 (Az.: W 7 K 19.31784) die Beklagte unter entsprechender Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheides vom 18. September 2019, über den Antrag des Antragstellers auf Abänderung des Bescheides vom 15. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Das Urteil ist rechtskräftig geworden (BayVGH, B.v. 24.9.2020, Az.: 2 ZB 20.31839).
2. Mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 beantwortete das Auswärtige Amt ein Amtshilfeersuchen des Bundesamtes dahingehend, dass die Echtheit des vom Antragsteller vorgelegten Fahndungsbeschlusses nicht habe verifiziert werden können. Mehrere, im Einzelnen aufgeführte inhaltliche und formelle Unstimmigkeiten deuteten nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes und Überprüfung durch einen Vertrauensanwalt auf eine Fälschung hin (vgl. S. 211/212 der eAkte zum Az. 7874110-1-425).
Hierzu gab das Bundesamt dem Antragstellerbevollmächtigten Gelegenheit zur Stellungnahme. Eine Äußerung ist nicht eingegangen.
3. Mit Bescheid vom 26. Januar 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 15. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erneut ab.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG seien, wie bereits durch das VG Würzburg festgestellt, nicht erfüllt. Des Weiteren lägen Gründe, welche unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG gemäß § 49 VwVfG rechtfertigen würden, nicht vor. Auf der Basis der Auskunft des Auswärtigen Amtes bestehe für den Antragsteller keine Lebensgefahr im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan. Durch die Auskunft stehe rechtssicher fest, dass entgegen der Erklärung des Antragstellers keine Fahndungs- oder Festnahmeersuchen in Aserbaidschan gegen ihn bestünden und der Antragsteller auch nicht Teil eines Strafverfahrens in Aserbaidschan sei. Die Antragsgegnerin schließe sich den Zweifeln an der Echtheit des vorgelegten Dokuments vollumfänglich an. Eine schlüssige Erklärung, weshalb der aserbaidschanische Staat seine eigenen Formalia durchbrechen sollte, sei weder vorgetragen, noch erkennbar. Der Antragsteller habe keine Stellungnahme abgegeben. Insofern könne mit hinreichender Sicherheit von der Unechtheit des Dokuments ausgegangen werden.
4. Am 14. Februar 2022 ließ der Antragsteller Klage erheben (Az.: W 7 K 22.30096), über die noch nicht entschieden ist.
Zugleich ließ er gemäß § 80 Abs. 5 VwGO beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der angegriffene Bescheid gehe zu Unrecht davon aus, dass es sich bei dem Fahndungsbeschluss um eine Fälschung handele. Diese Behauptung habe vom Auswärtigen Amt nicht bestätigt werden können. Es seien lediglich Unstimmigkeiten angeführt worden, ohne dass diese derart konkret und sicher wären, dass man auch mit einer entsprechenden Wahrscheinlichkeit von einer Fälschung ausgehen könne. Auf dieser unsicheren Grundlage beruhe der Bescheid. Der Antragsteller habe ausführlich dargestellt, weshalb ihm in seiner Heimat Verfolgung durch die Justiz und Strafbehörden drohe. Es sei zu berücksichtigen, dass die Entscheidung für sein Leben und seine Gesundheit sehr weitreichend sei, wenn er in seine Heimat abgeschoben werden könne. Es sei nicht zulässig, eine solche Entscheidung nur auf gewisse Zweifel an einem Dokument zu stützen. Solange die Antragsgegnerin nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen könne, dass es sich bei dem vorgelegten Dokument um eine Fälschung handele, habe sie im Zweifel davon auszugehen, dass die durch den Antragsteller ansonsten schlüssig und nachvollziehbar geschilderten Tatsachen zutreffend seien. Anderenfalls würden entgegen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) die Anforderungen an einen widerspruchsfreien und nachvollziehbaren Sachvortrag überspannt. Eine Stellungnahme des Antragstellers hierzu werde nachgeholt. Weiterer Vortrag bleibe vorbehalten.
5. Für die Antragsgegnerin beantragt das Bundesamt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde auf den angefochtenen Bescheid verwiesen.
6. Die angekündigte Stellungnahme bzw. weiterer Vortrag des Antragstellers sind bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht eingegangen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig.
a) Der wörtlich gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 26. Januar 2022, mit welchem der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 15. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt wurde, ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO unstatthaft. Denn in der Hauptsache ist allein eine Verpflichtungsklage die statthafte Klageart, gerichtet auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG und Abänderung der bestandskräftigen Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hierüber gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Offenbleiben kann, ob in Anbetracht der nunmehr vorliegenden Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1. Dezember 2021 die Anwendung des § 51 Abs. 1 VwVfG erneut eröffnet ist, oder ob dem nach wie vor die rechtskräftige Feststellung im Urteil vom 13. Juli 2020 (Az.: W 7 K 19.31784) entgegensteht, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen (§ 121 Nr. 1 VwGO). Jedenfalls hat die Antragsgegnerin keine mit der Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO anzugreifende Unzulässigkeitsentscheidung getroffen, welche das Gesetz im Falle des vorliegenden sog. Folgeschutzgesuchs, also des isolierten Begehrens auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens hinsichtlich § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG auch nicht vorsieht. Ebenso wenig enthält der Bescheid eine mit der Anfechtungsklage anzugreifende Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34 ff. AsylG, da eine solche bereits im Bescheid vom 15. Dezember 2016 enthalten und bestandskräftig geworden ist. Daraus folgt für das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, dass nach § 123 Abs. 5 VwGO allein der Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Sicherungs-)Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO statthaft ist, und zwar mit dem Ziel der vorläufigen Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers aufgrund der bestandskräftigen Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 15. Dezember 2016. In diesem Sinne legt das Gericht den Antrag rechtsschutzorientiert aus (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO).
b) Der Antrag nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere besteht für Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz in der vorliegenden Fallgestaltung keine Antragsfrist. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist schon deshalb nicht anwendbar, weil es sich nicht um einen Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1, 4 AsylG handelt.
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Voraussetzungen für eine einstweilige Anordnung ist demnach das Vorliegen eines Rechts, dessen Sicherung die Anordnung dient (Anordnungsanspruch) sowie die drohende Vereitelung oder Erschwerung dieses Anspruchs (Anordnungsgrund). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
a) Gemessen daran liegt zwar ein Anordnungsgrund vor. Denn aufgrund der Regelung des § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG, wonach der Termin der Abschiebung nach Ablauf der Ausreisefrist nicht angekündigt werden darf, muss der vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller, der die ihm zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist fruchtlos hat verstreichen lassen, jederzeit mit seiner Abschiebung rechnen. Er hat deshalb ein nach Art. 19 Abs. 4 GG anzuerkennendes rechtliches Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung, mit der die Abschiebung vorläufig untersagt wird (BVerfG, B.v. 11.4.2017 – 2 BvR 809/17 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 CE 17.2453 – juris Rn. 15 m.w.N.).
b) Es fehlt jedoch an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Denn es steht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG) nicht mit der erforderlichen beachtlichen, d.h. überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, dass die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zur Feststellung nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG oder zumindest auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen im weiteren Sinne) vorliegen. Weder das vorgelegte Beweismittel noch der dazugehörige Vortrag des Antragstellers sind gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bzw. 2 VwVfG geeignet, eine günstigere Entscheidung über den zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz zu seinen Gunsten herbeizuführen.
Ebenso wenig kann angenommen werden, dass aufgrund des grundrechtsschützenden Gehaltes des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG die Abänderung der darauf bezogenen Feststellung zugunsten des Antragstellers im Wege des Wiederaufgreifens des Verwaltungsverfahrens im weiteren Sinne rechtlich alternativlos wäre (Ermessensreduzierung auf Null). Sind die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht erfüllt, hat das Bundesamt im Rahmen eines Folgeschutzgesuchs bezogen auf die Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige Entscheidung zurückgenommen oder widerrufen wird (BVerwG, B.v. 15.1.2001 – 9 B 475.00 – juris Rn. 5). Denn für die Prüfung und Feststellung eines betreffenden verfolgungsunabhängigen Abschiebungshindernisses bleibt das Bundesamt auch dann zuständig, wenn der Folgeantrag die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des eigentlichen Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylG nicht erfüllt, was vorliegend aufgrund des rechtskräftig gewordenen Urteils vom 13. Juli 2020 (Az.: W 7 K 19.31784) gemäß § 121 Nr. 1 VwGO feststeht. Insoweit setzt ein Erfolg des neuerlichen Schutzbegehrens auch nicht zwingend voraus, dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG gegeben sind. Auch wenn das Schutzbegehren diesen Anforderungen nicht gerecht wird, hat das Bundesamt nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige frühere Entscheidung zurückgenommen bzw. widerrufen wird. Insoweit hat der Antragsteller einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (BVerwG, U.v. 21.3.2000 – 9 C 41.99 – juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 6.6.2002 – 23 B 02.30222 – juris). Dieser verdichtet sich dann mit Blick auf das Schutzgebot in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu einem Rechtsanspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG und erlaubt damit ein Durchentscheiden des Gerichts zugunsten des Antragstellers, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Antragsteller bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.10.2004 – 1 C 15.03 – juris).
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, denn es bestehen durchgreifende Zweifel an der Echtheit des vorgelegten Dokuments. Damit erweist sich auch der darauf bezogene Sachvortrag des Antragstellers, er werde in Aserbaidschan wegen seiner Nähe zur Gülen-Bewegung verfolgt, als nicht geeignet, sein Schutzbegehren zu stützen. Soweit der Antragsteller sinngemäß vorträgt, es müsse in Anbetracht der Folgen einer Abschiebung im Zweifel zu seinen Gunsten von der Echtheit des Dokuments ausgegangen werden, verkennt er die Verteilung der materiellen Beweislast im Asylprozess hinsichtlich der Tatsachen, welche ein Schutzbegehren begründen sollen. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO setzt ein Erfolg des Rechtsschutzbegehrens auch im Asylprozess die volle richterliche Überzeugung von der Wahrheit des Vorbringens voraus (BVerwG, B.v. 29.11.1996 – 9 B 293/96 – juris Rn. 2; U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris Rn. 11, 14 m.w.N.). Aufgrund der sachtypischen Beweisnot, in welcher sich der Antragsteller als Asylbewerber hinsichtlich der allgemeinen Umstände in seinem Herkunftsland sowie der konkreten verfolgungsbegründenden Tatsachen befindet, kann freilich nicht der volle Beweis dieser Tatsachen verlangt werden. Deshalb ist bei der richterlichen Überzeugungsbildung den glaubhaften Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen. Deshalb muss der Antragsteller die Tatsachen, welche sein Schutzbegehren stützen, schlüssig und nachvollziehbar darlegen und in seinem Machtbereich befindliche Beweismittel vorlegen. Auf dieser Grundlage muss das zur Zuerkennung eines Schutzstatus oder zur Feststellung des zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutzes vorgetragene Geschehen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Vielmehr genügt, soweit der Antragsteller unverschuldet noch erforderliche Beweismittel nicht benennen oder nicht beibringen kann und auch das Gericht nicht in der Lage ist, solche Beweismittel von sich aus heranzuziehen, eine beachtliche, d.h. überwiegende Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris Rn. 14; U.v. 1.10.1985 – 9 C 20.85 – juris Rn. 10; Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 108 Rn. 3). Damit ist aber gerade keine Umkehr der materiellen Beweislast zugunsten des Antragstellers verbunden. Deshalb gehen durchgreifende Zweifel am Vorliegen der Tatsachen, welche das Schutzbegehren begründen sollen, zu seinen Lasten. Dies gilt auch für die Echtheit und damit die Überzeugungskraft der vorgelegten Urkunde. Kann das Gericht aufgrund des Vortrags des Antragstellers und der gegebenenfalls in den Prozess eingeführten Beweismittel nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Tatsachenvortrag zutrifft, so bleibt das Schutzbegehren somit ohne Erfolg.
So liegen die Dinge hier. Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass aufgrund des – lediglich als Kopie vorgelegten – Dokuments neue Tatsachen im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vorliegen oder dass dieses eine andere Entscheidung zugunsten des Antragstellers im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG herbeigeführt hätte, weil nicht ausgeräumte Zweifel an seiner Echtheit bestehen. Für die Beweiskraft des als Kopie vorgelegten Fahndungsbeschlusses, der den Anschein einer ausländischen öffentlichen Urkunde erweckt, gelten auch im Verwaltungsprozess die Regeln des § 438 ZPO i.V.m. § 98 VwGO (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.7.1986 – 9 C 8.86 – juris Rn. 25). Da eine gemäß § 438 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 98 VwGO zum Beweis der Echtheit einer solchen Urkunde genügende Legalisation durch einen Konsul oder Gesandten des Bundes nach dem KonsularG nicht vorliegt, hat das Gericht gemäß § 438 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 98 VwGO „nach den Umständen des Falles zu ermessen“, ob eine Urkunde, die als von einer ausländischen Behörde oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person des Auslandes errichtet sich darstellt, ohne näheren Nachweis als echt anzusehen ist. Somit hat das Gericht die Echtheit einer solchen Urkunde nach eigenem Ermessen zu beurteilen. Dabei ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, den Nachweis der Unechtheit der fraglichen Urkunde in jedem Fall im Rahmen einer Beweisaufnahme herbeizuführen (vgl. BVerfG, B.v. 11.2.1992 – 2 BvR 1003/91 – juris Rn. 7; B.v. 7.3.2002 – 2 BvR 191/02 – juris Rn. 5; B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 21). Hat das Verwaltungsgericht jedoch Zweifel an der Echtheit, so muss es sich durch weitere Ermittlungen, etwa durch Einholung einer Auskunft über das Auswärtige Amt, die erforderliche Überzeugungsgewissheit in dem einen oder anderen Sinne verschaffen (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 21 m.V.a. BVerwG, B.v. 28.6.2010 – 5 B 49.09 – juris Rn. 4). In einem solchen Fall kann es angezeigt sein, dem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz stattzugeben und die erforderlichen Ermittlungen im Rahmen des Hauptsacheverfahrens durchzuführen (BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 21).
Gemessen an diesen Anforderungen ist das Gericht im vorliegenden Verfahren nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit von der Exchtheit des vorgelegten Fahndungsbeschlusses überzeugt. Denn es liegen nicht nur vage Anhaltspunkte für eine Fälschung vor, wie es der Antragstellerbevollmächtigte suggerieren will, sondern es bestehen aufgrund der substantiierten Stellungnahme des Auswärtigen Amtes begründete und vom Antragsteller bisher nicht ausgeräumte Zweifel an der Echtheit des Dokuments. Das Auswärtige Amt hat hierzu – nach Konsultation eines Vertrauensanwaltes im Herkunftsland des Antragstellers – ausgeführt, dass formelle und inhaltliche Mängel auf eine Fälschung hindeuteten. Die neunstellige Registrierungsnummer von Strafverfolgungsfällen (in Aserbaidschan) beginne immer mit den letzten beiden Ziffern des laufenden Jahres. In diesem Fall hätte diese Ziffer also entsprechend der behaupteten Strafverfolgung im Jahr 2016 mit der 16 beginnen müssen. Insofern weise die Fallzahl 132006105 einen formellen Fehler auf. Inhaltlich erscheine der zeitliche extrem kurze Zusammenhang zwischen der Beschuldigung am 1. September 2016 und der Ausschreibung zur Fahndung nur einen Tag später, am 2. September 2016, auffallend. Zudem hätten in offiziellen Datenbanken für den Antragsteller weder Fahndung oder Festnahmeersuchen gefunden werden können, noch führten sie den Antragsteller als Beschuldigten oder Verurteilten in einem Strafverfahren. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die bei der Prüfung der Echtheit des Dokuments zu Tage getretenen Unstimmigkeiten anhand einer weiteren, davon unabhängigen Quelle überprüft worden sind, indem offizielle Datenbanken hinsichtlich einer Fahndung oder eines Festnahmeersuchens gegen den Antragsteller ausgewertet worden sind.
Weitere Ermittlungen des erkennenden Gerichts sind auch unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. zuletzt BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 21 m.w.N. sowie die Ausführungen im vorstehenden Absatz) nicht angezeigt. Es kommt deshalb auch nicht in Betracht, dem Antrag stattzugeben, um den erforderlichen zeitlichen Aufschub für weitere Ermittlungen im Klageverfahren herbeizuführen. Anders als in dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Sachverhalt hat die Antragsgegnerin vorliegend bereits aus eigener Initiative eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zur Echtheit der Urkunde eingeholt. Aus dieser Auskunft geht des Weiteren – wie dargestellt – hervor, dass das Auswärtige Amt sich nicht auf eine Echtheitsprüfung des Dokuments beschränkt, sondern außerdem die Validität der dort bezeugten Tatsachen auch anhand anderer Erkenntnismittel in der Form offizieller Datenbanken des Herkunftslandes des Antragstellers überprüft hat. Damit beziehen sich das Auswärtige Amt und ihm folgend das Bundesamt auch auf solche Tatsachen, die außerhalb der Urkunde selbst liegen und somit auch durch eine Echtheitsüberprüfung nicht ohne Weiteres erschüttert werden könnten (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris Rn. 22). Überdies decken sich die in der Auskunft wiedergegebenen Erkenntnisse, insbesondere zum Aufbau des Aktenzeichens eines Ermittlungsverfahrens, mit anderen Auskünften des Auswärtigen Amtes in Asylverfahren aserbaidschanischer Staatsangehöriger (vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF v. 1.3.2022 – Az.: 508-9-10-b-516.80/55401). Gerade in dieser Unstimmigkeit betreffend das neunstellige Aktenzeichen liegt nach der Einschätzung des erkennenden Gerichts ein gewichtiges Indiz für eine unechte Urkunde, weil kein plausibler Grund erkennbar oder vorgetragen ist, weshalb von dem üblichen Aufbau eines Aktenzeichens im Falle des Antragstellers hätte abgewichen werden sollen. Aus den Erkenntnismitteln ist des Weiteren bekannt, dass in Asylverfahren häufig gefälschte Dokumente oder echte Dokumente unwahren Inhalts aus Aserbaidschan vorgelegt werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Aserbaidschan v. 7.2.2022 – Stand Juni 2021 – S. 22). Weitere Erkenntnismöglichkeiten sind im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht ersichtlich.
Somit überwiegen vorliegend die Gesichtspunkte, welche für eine Fälschung bzw. für eine echte Urkunde unwahren Inhalts sprechen, gegenüber denjenigen, welche für die Echtheit und inhaltliche Richtigkeit des vorgelegten Dokuments sprechen, weshalb das Gericht im Rahmen seines nach § 438 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 98 VwGO bestehenden Ermessens nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit von der Echtheit des vorgelegten Dokuments ausgehen kann. Angesichts dessen sind weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG noch diejenigen einer Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG glaubhaft gemacht. Vielmehr hat die Antragsgegnerin das Folgeschutzgesuch ermessensfehlerfrei abgelehnt.
3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.


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