Verwaltungsrecht

Asylantrag, Abschiebung, Bescheid, Einreise, Migration, Griechenland, Syrien, Asylbewerber, Unterkunft, Versorgung, Schutzstatus, Abschiebungsandrohung, Asyl, Bundesamt, erniedrigende Behandlung, Bundesrepublik Deutschland, Kosten des Verfahrens

Aktenzeichen  AN 17 K 18.50329

Datum:
28.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2474
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG  § 26 Abs. 5, Abs. 3, § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34, § 35, § 38 Abs. 1
AsylG  § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1
RL 2013/32/EU (Verfahrens-RL) Art. 33 Abs. 2 Buchst. a
(Anerkennungs-RL) Art. 23 RL 2011/95/EU
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Die Gewährung internationalen Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat hindert nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG findet in Fällen des § 26 Abs. 5, Abs. 1 bis 3 AsylG keine Anwendung (Anschluss an BVerwG, U.v. 17.11.2020 – 1 C 8.19)
2. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für das Vorliegen der Minderjährigkeit des Stammberechtigten gemäß § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG derjenige der letzten mündlichen Verhandlung. Selbst wenn man auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung der ableitenden Familienangehörigen abstellte, so müssten zu diesem Zeitpunkt alle Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 AsylG vorliegen (Anschluss an OVG Münster, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A – BeckRS 2020, 3903)
3. In § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG liegt überschießende Umsetzung des Art. 23 der RL 2011/95/EU (Anerkennungs-RL)
4. Bei einer in Griechenland anerkannt schutzberechtigten, alleinstehenden, jungen, gesunden und arbeitsfähigen Frau droht derzeit und unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verschlechterungen infolge der Corona-Pandemie bei Rückkehr dorthin eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK; die Arbeitsmarktchancen für Frauen in Griechenland sind aktuell signifikant schlechter als für Männer; in informellen Unterkünften und wilden Camps besteht für alleinstehende Frauen eine erhöhte Gefahr von (sexuellen) Übergriffen.

Tenor

1. Die Bescheide des Bundesamtes für … vom 15. März 2018 und vom 12. Oktober 2020 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Der hilfsweise gestellte Verpflichtungsantrag in Ziffer 2. des Schriftsatzes der Klägerbevollmächtigten vom 27. Januar 2021, dass die Beklagte zu verpflichten sei, den Klägerinnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, wird nach § 88 VwGO dergestalt ausgelegt, dass die Bedingung für die Entscheidung über diesen Hilfsantrag die Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes für … (Bundesamt) vom 15. März 2018 aufgrund des Vorranges der Regelung des § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG zum internationalen Schutz für Familienangehörige („Familienasyl“) vor dem Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist (sog. unechter Hilfsantrag). Denn nur dann ist die Zulässigkeit eines Antrags auf ein teilweises „Durchentscheiden“ des Verwaltungsgerichts auf Basis des § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG zumindest diskutabel. Wenn hingegen die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen eines drohenden Verstoßes gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK bei einer angenommenen Rückführung nach Griechenland als dort anerkannte Schutzberechtigte im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris) auf die Anfechtungsklage hin aufgehoben wird, ist ein weiterer Durchentscheidensantrag nach der Rechtsprechung unter anderem des Bundesverwaltungsgerichts unzulässig (BVerwG, U.v. 1.7.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625 Rn. 15; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 20 ff.) und damit nicht im wohlverstandenen Rechtsschutzinteresse der Klägerinnen.
Die Klagen sind bereits im Hauptantrag zulässig und begründet. Über die hilfsweise gestellten Anträge war mangels Bedingungseintritt nicht mehr zu entscheiden.
1. Die durch die Klägerinnen erhobenen Anfechtungsklagen sind die statthafte Klageart gegen die Unzulässigkeitsentscheidung und die auf ihr aufbauenden Folgeentscheidungen.
Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Zuge der Änderung des Asylverfahrensgesetzes infolge des Inkrafttretens des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I Nr. 39 v. 5.8.2016). Danach ist die Anfechtungsklage gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen, die alleinige statthafte Klageart. Hintergrund hierfür ist der Umstand, dass die Asylanträge in diesen Fällen ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, abgelehnt werden. Insoweit kommt auch kein eingeschränkter, auf die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkter Verpflichtungsantrag in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris). Bei einer erfolgreichen Klage führt die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelung zur weiteren Prüfung der Anträge durch die Beklagte und damit zum erstrebten Rechtsschutzziel. Dabei bleibt es auch nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; zuvor schon angelegt in EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris), der lediglich inhaltliche Vorgaben im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz für international Anerkannte im Sinne des Art. 47 GRCh und Art. 46 Verfahrens-RL macht, aber keine prozessualen oder verfahrensrechtlichen Vorgaben, die dem nationalen Recht überlassen sind.
2. Die zulässigen Anfechtungsklagen sind begründet. Die Bescheide des Bundesamtes vom 15. März 2018 und vom 12. Oktober 2020 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten. Sie sind daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
a) Das Bundesamt hat die Asylanträge der Klägerinnen zu Unrecht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Den Klägerinnen wurde am 12. Juni 2017 durch Griechenland internationaler Schutz gewährt.
Gleichwohl darf eine Unzulässigkeitsentscheidung nicht getroffen werden, wenn entweder die Voraussetzungen für die Gewährung des nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 17.11.2020 – 1 C 8.19 -) gegenüber § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorrangigen Familienasyls nach § 26 AsylG vorliegen oder wenigstens hinreichend konkrete Anhaltspunkte hierfür bestehen (letzteres lassen ausreichen VG Magdeburg, U.v. 23.10.2017 – 8 A 413/17 MD – BeckRS 2017, 155608 Rn. 9; VG Lüneburg, U.v. 15.3.2017 – 8 A 201/16 – juris Ls., Rn. 24) oder dem bereits in einem anderen Mitgliedstaat als schutzberechtigt anerkannten Asylantragsteller bei einer Rückführung dorthin Lebensverhältnisse drohen, die ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine gegen Art. 4 GRCh verstoßende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris).
Die Unzulässigkeitsentscheidung hinsichtlich der Klägerinnen gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist hier rechtswidrig, weil ihnen bei einer angenommenen Rückkehr nach Griechenland eine gegen Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung drohen würde (c). Die Voraussetzungen des § 26 AsylG hingegen liegen zugunsten der Klägerinnen nicht vor beziehungsweise bestehen diesbezüglich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte (b).
b) Die Klägerinnen haben keinen von ihrem am … 2003 geborenen Sohn bzw. Bruder …, dem in Deutschland subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG zuerkannt wurde, abgeleiteten Anspruch auf „Familienasyl“ in Form des internationalen Schutzes für Familienangehörige aus § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 AsylG.
Nach § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG sind auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten die Absätze 1 bis 4 des § 26 AsylG entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt dabei nach § 26 Abs. 5 Satz 2 AsylG die Flüchtlingseigenschaft oder eben der subsidiäre Schutz. Nach dem so in Bezug genommenen § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG wiederum „werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten (…) auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn
1.die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2.die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3.sie vor der Anerkennung des Asylberechtigteneingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben,
4.die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und
5.sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben.“
Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten – dies betrifft die Klägerin zu 2) – gilt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG entsprechend, § 26 Abs. 3 Satz 2 AsyG.
aa) Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG im Übrigen vorliegen, ist allein das Merkmal des „minderjährigen Asylberechtigten“ problematisch. Zum grundsätzlich gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 28. Januar 2021 war der subsidiären Schutzstatus genießende Sohn und Bruder der Klägerinnen mit Geburtsdatum … 2003 bereits volljährig, womit ein Anspruch auf Familienasyl für die Klägerinnen aus § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG ausscheidet.
bb) Jedoch wird in Teilen des Schrifttums und der instanzgerichtlichen Rechtsprechung für einen von § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG abweichenden Beurteilungszeitpunkt plädiert und zwar denjenigen der Asylantragstellung des potentiell durch § 26 Abs. 3 AsylG Begünstigten – also der Klägerinnen, die am 12. Januar 2018 in Deutschland ihren Asylantrag gestellt haben (etwa Blechinger in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 6. Ed. 1.10.2019, § 26 AsylG Rn. 52; VG Freiburg, U.v. 3.8.2020 – A 4 K 466/17 – juris Rn. 20 ff.; VG Gelsenkirchen, U.v. 22.1.2019 – 15a K 5551/18.A – juris Rn. 23 ff.; VG Oldenburg, U.v. 21.9.2018 – 15 A 8994/17 – juris Rn. 35 ff.; VG Stuttgart, U.v. 23.5.2018 – A 1 K 17/17 – juris Rn. 24 ff.; VG Karlsruhe, U.v. 8.2.2018 – A 2 K 7425/16 – juris Rn. 20 ff.). Für diese Ansicht werden zum einen systematisch-teleologische Argumente angeführt: Wenn für den umgekehrten Fall, dass ein minderjähriges lediges Kind den Schutzstatus seiner Eltern als Stammberechtigte ableiten wolle, gemäß § 26 Abs. 2 AsylG auf den Zeitpunkt von dessen Asylantragstellung abgestellt werde, weil die behördliche und gerichtliche Verfahrensdauer sich nicht auf das Entstehen des Familienasyls auswirken solle und es auch nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG für die Minderjährigkeit des Ableitenden auf dessen Asylantragstellung ankomme, so sei für § 26 AsylG insgesamt auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen, da dieser einheitlich der Wahrung der Familieneinheit und dem Schutz Minderjähriger diene (so VG Stuttgart, U.v. 23.5.2018 – A 1 K 17/17 – juris Rn. 26 ff.; s.a. VG Karlsruhe, U.v. 8.2.2018 – A 2 K 7425/16 – juris Rn. 25: ansonsten „widersprüchlich“). Weiter wird die europarechtliche Überformung des § 26 AsylG durch die RL 2011/95/EU (Anerkennungs-RL) geltend gemacht: Aus deren Art. 23 Abs. 1 – Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann – und der von Art. 23 Abs. 2 der Anerkennungs-RL geforderten Gleichstellung des Familienangehörigen mit dem Schutzberechtigten hinsichtlich der Rechte aus den Art. 24 bis 35 der Anerkennungs-RL ergebe sich nach deren Sinn und Zweck, dass es keinen Unterschied machen könne und dürfe, ob die Kinder von ihren Eltern oder die Eltern von ihren Kindern eine Schutzberechtigung ableiteten (so Blechinger in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 6. Ed. 1.10.2019, § 26 AsylG Rn. 52; VG Freiburg, U.v. 3.8.2020 – A 4 K 466/17 – juris Rn. 21; VG Karlsruhe, U.v. 8.2.2018 – A 2 K 7425/16 – juris Rn. 25 ff.). Andernfalls würde man den Anspruch auf Familienschutz allein von der Bearbeitungsdauer der Behörden und Gerichte abhängig machen (VG Stuttgart, U.v. 23.5.2018 – A 1 K 17/17 – juris Rn. 30). Dabei könne es dahinstehen, ob der deutsche Gesetzgeber europarechtlich zur Regelung des § 26 Abs. 3 AsylG verpflichtet sei, denn nach der Zielsetzung des deutschen Gesetzgebers habe es zu vermeiden gegolten, den begünstigten Personenkreis der abgeleitet Schutzberechtigten in einer Vielzahl von Einzelgesetzen den originär Schutzberechtigten entsprechend der Art. 24 bis 35 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU gleichzustellen. Dieses Ziel habe sich mit der wörtlichen Bezugnahme auf Art. 2 Buchst. j der Anerkennungs-RL auch im Wortlaut des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG niedergeschlagen (VG Freiburg, U.v. 3.8.2020 – A 4 K 466/17 – juris Rn. 21). Teilweise wird eine europarechtliche Verpflichtung zum Erlass des eine statusrechtliche Gleichstellung herbeiführenden § 26 Abs. 3 AsylG abgelehnt und davon ausgegangen, dass der deutsche Gesetzgeber die Verpflichtung aus Art. 23 Abs. 2 der Anerkennungs-RL, den Familienangehörigen des Stammberechtigten die Rechte aus den Artikeln 24 bis 35 der Anerkennungs-RL zu gewähren, in § 26 Abs. 3 AsylG gleichsam überschießend umgesetzt hat. Trotzdem zieht diese Ansicht sowohl Art. 2 Buchst. j als auch Art. 23 der Anerkennungs-RL für die Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunktes, in dem die Minderjährigkeit vorliegen muss, heran – zunächst mit dem Ergebnis, dass beide keine explizite Regelung hierzu enthielten. Daher sei die Frage anhand des Ziels der Richtlinie unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs, in den sie sich einfügt, und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beantworten (VG Oldenburg, U.v. 21.9.2018 – 15 A 8994/17 – juris Rn. 63 bis 84). Insoweit sei festzustellen, dass mit der Anerkennungs-RL 2011/95/EU nicht nur allgemein das Ziel verfolgt werde, der stammberechtigten Person und ihren Familienangehörigen die Aufrechterhaltung des Familienverbandes innerhalb des Mitgliedstaates zu ermöglichen, sondern dass die Richtlinie ausweislich ihrer Erwägungsgründe 18 und 19 – die insbesondere das Wohl des Kindes und den Grundsatz des Familienverbandes als Leitbild betonen – ein besonderes Augenmerk auf die Situation der Minderjährigen lege. Daher liefe es der praktischen Wirksamkeit von Art. 23 Abs. 2 der Anerkennungs-RL zuwider, wenn das Recht auf Wahrung des Familienverbandes davon abhänge, zu welchem Zeitpunkt die Behörde oder das Gericht über den Antrag des Familienangehörigen des Stammberechtigten entscheidet. Maßgeblicher Zeitpunkt müsse daher die Antragstellung desjenigen sein, der das Familienasyl begehre (VG Oldenburg, a.a.O. Rn. 85 ff.).
Folgte man dieser Ansicht, bestünde ein Anspruch auf subsidiären Familienschutz der Klägerinnen aus § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG, weil ihr Sohn und Bruder im Zeitpunkt ihrer eigenen Antragstellung im Jahr 2018 noch minderjährig war.
cc) Die Kammer vermag der dargestellten Ansicht, die durchaus gewichtige Argumente für eine Vorverlegung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes anführen kann, letztendlich nicht zu folgen und hält im Anschluss an das Oberverwaltungsgericht Münster (OVG NW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A – juris) für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals Minderjährigkeit entsprechend § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung für maßgeblich, jedenfalls aber müssten, wenn schon eine zeitliche Vorverlegung vertreten wird, zu diesem früheren Zeitpunkt alle Voraussetzung des § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG vorgelegen haben.
Zunächst enthält schon der Wortlaut des § 26 Abs. 5, Abs. 3 Satz 1 AsylG keine Aussage darüber, welcher Zeitpunkt für das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals der Minderjährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich ist, was im Umkehrschluss dafür spricht, auf den allgemeinen Grundsatz des § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG zurückzugreifen, nämlich, dass das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat. Dies führt hier auch zu einem sachgerechten Ergebnis, da die eine besondere Schutzbedürftigkeit begründende Minderjährigkeit des Sohnes und Bruders der Klägerinnen schlicht nicht mehr vorliegt und das Gericht auch durch eine insofern nachträgliche Gewährung von subsidiärem Familienschutz nicht mehr rückwirkend den schützenswerten Familienverband aus Mutter und minderjährigem Kind herstellen könnte. Soweit die Gegenansicht das beredte Schweigen des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG durch eine systematische Betrachtung unter Einschluss der explizit den Zeitpunkt der Asylantragstellung erwähnenden § 26 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 AsylG überwinden will, weil die Wahrung der Familieneinheit nur durch eine einheitliche Betrachtung zu gewährleisten sei, ist ihr entgegenzuhalten, dass systematische Erwägungen genauso gut das hier vertretene Ergebnis tragen würden und damit unergiebig sind (dies einräumend VG Stuttgart, U.v. 23.5.2018 – A 1 K 17/17 – juris Rn. 27; VG Oldenburg, U.v. 21.9.2018 – 15 A 8994/17 – juris Rn. 58 f.): Wenn nämlich § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG anders als § 26 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 2 AsylG gerade nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abstellt, obwohl dem Gesetzgeber bei Erlass des § 26 Abs. 3 AsylG (Gesetz zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 28. August 2013, BGBl. Teil I 2013 Nr. 54, S. 3474) die schon zuvor bestehende Regelung des § 26 Abs. 2 AsylG bekannt war, liegt der Schluss auf eine bewusst abweichende Formulierung des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nahe. Davon abgesehen haben § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG und § 26 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 AsylG unterschiedliche Bezugsobjekte und lassen sich schon deshalb nicht in dasselbe systematische Korsett zwängen. Bei § 26 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 AsylG geht es um die Minderjährigkeit des ableitenden Asylantragstellers, bei § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG kommt es hingegen auf die Minderjährigkeit des Stammberechtigten, von dem eine Asylberechtigung bzw. subsidiärer Schutzstatus abgeleitet werden soll, zu dem umstrittenen Zeitpunkt an (VG Oldenburg, a.a.O.). Die allgemeine Billigkeitserwägung, dass Verfahrenslaufzeiten und damit einhergehende Veränderungen im Alter von Beteiligten nicht zu Lasten von Asylantragstellern gehen sollen, rechtfertigt nicht, die dargestellte Differenzierung zu ignorieren (OVG NW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A – juris Rn. 40).
Ebenso wenig vermag eine europarechtskonforme Auslegung des § 26 Abs. 3 AsylG im Lichte des Art. 23 der RL 2011/95/EU (Anerkennungs-RL) eine Vorverlagerung des für die Bestimmung der Minderjährigkeit des Stammberechtigten maßgeblichen Zeitpunktes zu rechtfertigen.
Nach Art. 23 Abs. 1 der Anerkennungs-RL tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann und nach Abs. 2, dass die Familienangehörigen der stammberechtigten Person, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 der Anerkennungs-RL genannten Leistungen haben. Dabei handelt es sich im Falle des subsidiären Familienschutzes überblicksartig um einen Aufenthaltstitel, der mindestens ein Jahr gültig und verlängerbar sein muss (Art. 24 Abs. 2 Anerkennungs-RL), einen Anspruch auf Reisedokumente für Reisen außerhalb Deutschlands (Art. 25 Anerkennungs-RL), Zugang zur Beschäftigung, Bildung, zu Verfahren für die Anerkennung von Befähigungsnachweisen, zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung, zu Wohnraum und zu Integrationsmaßnahmen nach Maßgabe der Art. 26 bis 32 und 34 der Anerkennungs-RL und schließlich einen Anspruch auf Freizügigkeit (Art. 33 Anerkennungs-RL). Was Art. 23 der Anerkennungs-RL hingegen nicht fordert, § 26 Abs. 3 AsylG aber unter bestimmten Voraussetzungen gewährt, ist eine statusrechtliche Gleichstellung der Familienangehörigen mit dem Stammberechtigten. Insofern handelt es sich um eine überschießende Umsetzung des deutschen Gesetzgebers, die zwar gemäß Art. 3 der Anerkennungs-RL zulässig, jedoch nicht mehr europarechtlich überformt ist. Damit ist Art. 23 der Anerkennungs-RL für die Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht mehr zwingend heranzuziehen, wenngleich die Möglichkeit hierzu bestehen bleibt (Nettesheim in Grabitz/Hilfs/Nettesheim, Das Recht der EU, 71. EL August 2020, Art. 288 AEUV Rn. 131; Schroeder in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 116; s.a. EuGH, U.v. 18.10.1990 – Dzodzi, C-297/88, C-197/89 – BeckRS 2004, 73015 Rn. 41 f.).
Selbst wenn man aber das Vorstehende ablehnte und als maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorliegen der Minderjährigkeit des (ledigen) subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 26 Abs. 5, Abs. 3 Satz 1 AsylG denjenigen der Asylantragstellung der Eltern – hier der Klägerin zu 1) – bzw. der Geschwister – hier die Klägerin zu 2) – ansähe, so müsste doch zu diesem Zeitpunkt auch der subsidiäre Schutz des Stammberechtigten, also des Sohnes bzw. Bruders der Klägerinnen, vorgelegen haben. Andernfalls käme es zu einer, mit dem OVG Münster gesprochen „willkürliche[n] Ausweitung des Anspruchs auf Familienschutz, wenn die drei Merkmale des Stammberechtigten, nämlich minderjährig, ledig und asylberechtigt bzw. international schutzberechtigt, nur irgendwann einmal jeweils für sich zwischen Antragstellung des um Familienschutz Nachsuchenden (oder gar nur zwischen dessen Meldung als Asylsuchender) und mündlicher Verhandlung vorgelegen haben müssen, nie aber gleichzeitig. Eine solche verselbständigende Atomisierung einzelner Tatbestandselemente würde sich nicht nur vom Wortlaut, sondern auch vom gesetzgeberischen Ziel lösen, den Familienverband zwischen minderjährigem ledigem international Schutzberechtigten und seinen Eltern bzw. Geschwistern zu wahren“ (OVG NW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A – juris Rn. 60). Zum Zeitpunkt der Asylantragstellung der Klägerinnen am 12. Januar 2018 war ihr Sohn bzw. Bruder zwar mit 15 Jahren minderjährig, jedoch noch nicht subsidiär schutzberechtigt gemäß § 4 AsylG; dieser Status wurde ihm erst mit Bescheid des Bundesamtes vom 15. August 2018 zuerkannt. Dieser Auslegung lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass die subsidiäre Schutzberechtigung schon vor der förmlichen Anerkennung durch das Bundesamt besteht. Von einem rein deklaratorischen Charakter der Behördenentscheidung im Falle der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geht zwar der 21. Erwägungsgrund der RL 2011/95/EU (Anerkennungs-RL) aus: „Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist ein deklaratorischer Akt“. Doch zum einen fehlt eine solche Regelung für den subsidiären Schutz, zum anderen fordert der insoweit nicht europarechtlich determinierte § 26 Abs. 5, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG (s.o.), dass die Anerkennung des subsidiär Schutzberechtigten unanfechtbar ist und weist damit einen rein deklaratorischen Charakter zurück (OVG NW a.a.O. Rn. 62).
dd) Nach alldem muss ein Anspruch der Klägerinnen auf abgeleiteten subsidiären Familienschutz gemäß § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG ausscheiden bzw. bestehen, sofern man den Vorrang des § 26 vor § 29 AsylG schon bei Vorliegen hinreichend konkreter Anhaltspunkte aktivieren möchte, solche nicht. Der subsidiär schutzberechtigte Sohn und Bruder der Klägerinnen als Stammberechtigter ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG – der letzten mündlichen Verhandlung – bereits volljährig und damit außerhalb des tatbestandlichen Anwendungsbereichs des § 26 Abs. 5, Abs. 3 AsylG. Selbst wenn man bezüglich der geforderten Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung der Klägerinnen abstellen würde, so wäre der Stammberechtigte zu diesem Zeitpunkt noch nicht subsidiär schutzberechtigt gewesen und ein Anspruch auf „Familienasyl“ käme ebenso wenig in Betracht.
Trotz dessen, dass zur oben diskutierten Streitfrage des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes für die Minderjährigkeit des Stammberechtigten ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV beim Europäischen Gerichtshof anhängig ist (Vorlagebeschluss des BVerwG v. 15.8.2019 – 1 C 32/18 – ZAR 2019, 439, welches noch weitere mögliche Zeitpunkte ins Spiel bringt: Zuerkennung des subsidiären Schutzes, Einreise der Asylbewerber, Antragstellung des nunmehr subsidiär Schutzberechtigten), bestand keine Pflicht des Verwaltungsgerichts, den Rechtsstreit gemäß § 94 VwGO auszusetzen. Die Aussetzungsentscheidung nach § 94 VwGO steht im Ermessen des Gerichts, welches grundsätzlich auch bei Vorgreiflichkeit befugt ist, selbst über die Vorfrage zu entscheiden. Eine Verpflichtung zur Aussetzung besteht nur ausnahmsweise (Garloff in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 55. Ed. 1.4.2020, § 94 Rn. 6). Da hier eine europarechtlich zwingende Einwirkung auf § 26 Abs. 3 AsylG abgelehnt wird, kann dementsprechend das Ermessen hinsichtlich einer Aussetzung nach § 94 VwGO nicht auf Null reduziert sein.
c) Jedoch sind die gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG getroffenen Unzulässigkeitsentscheidungen hinsichtlich der Klägerinnen in Ziffer 1 des Bescheides vom 15. März 2018 rechtswidrig. In deren Folge sind auch die auf die Unzulässigkeitsentscheidungen aufbauenden Folgeentscheidungen rechtswidrig bzw. hinfällig (Ziffer 2.). Die Klägerinnen werden dadurch in ihren Rechten verletzt, so dass der Bescheid insgesamt gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben ist. Gleiches gilt für den nur die Klägerin zu 1) betreffenden Ergänzungsbescheid vom 12. Oktober 2020.
aa) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Den Klägerinnen wurde am 12. Juni 2017 durch Griechenland internationaler Schutz gewährt.
Gleichwohl ist die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtswidrig. Die Norm setzt Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL 2013/32/EU in nationales Recht um und ist daher richtlinien- und europarechtskonform auszulegen. Nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL dürfen die Mitgliedsstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ablehnen, wenn ein anderer Mitgliedsstaat internationalen Schutz gewährt hat. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof der Vorschrift im Wege der Auslegung noch ein weiteres, negatives Tatbestandsmerkmal entnommen. Nach der Entscheidung vom 13. November 2019 ist es den Mitgliedsstaaten nämlich nicht möglich von der Befugnis des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL Gebrauch zu machen und einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedsstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, aber die Lebensverhältnisse, die ihn dort als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris). Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist dabei auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen.
Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat also in richtlinienkonformer Auslegung zu berücksichtigen, ob dem im anderen Mitgliedsstaat Anerkannten nach einer Rücküberstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Dem steht auch nicht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht entgegen, welcher besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union, wie sie etwa in Art. 4 GRCh zum Ausdruck kommen, anerkennen, das sie umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen. Dieser Grundsatz gilt auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und gerade bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL, in dem er zum Ausdruck kommt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat grundrechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
Derartige Funktionsstörungen müssen eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C -297/17 u.a. – juris Rn. 89). Nicht ausreichend für das Erreichen dieser Schwelle ist der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Qualifikations-RL 2011/95/EU entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36). Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Plakativ formuliert kommt es darauf an, ob der Anerkannte bei zumutbarer Eigeninitiative in der Lage wäre, an „Bett, Brot und Seife“ zu gelangen (VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden ist, aufgrund derer sich die betreffende Person in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 91).
Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn der Antragsteller sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not im oben genannten Sinne befände. Dafür genügt nicht, dass in dem Mitgliedstaat, in dem einer neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97). Ebenso wenig ist das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat in Vergleich zu einem anderen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94, 96).
Bei dem so definierten Maßstab ist weiter zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige handelt oder eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität), die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 26). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh auch im Rahmen des Art. 4 GRCh zu berücksichtigen ist.
Für die demnach zu treffende Prognoseentscheidung, ob dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh droht, ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloße Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 4 GRCh zuwiderlaufenden Behandlung muss insoweit aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – BeckRS 2020, 5694 Rn. 28 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die für eine solche Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Tatsachen haben (OVG RhPf, a.a.O.; vgl. VGH BW, a.a.O., juris Rn. 187).
bb) Dabei legt das Gericht hinsichtlich der in Griechenland herrschenden Lebensverhältnisse für zurückkehrende, anerkannt Schutzberechtigte folgende Lage zugrunde:
Asylbewerber, die bereits von Griechenland als international Schutzberechtigte anerkannt worden sind, werden im Falle einer Abschiebung dorthin von den zuständigen Polizeidienststellen in Empfang genommen und mit Hilfe eines Dolmetschers umfassend über ihre Rechte aufgeklärt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 3). Die betroffenen Personen erhalten insbesondere Informationen zur nächsten Ausländerbehörde, um dort ihren Aufenthaltstitel verlängern zu können. Anerkannt Schutzberechtigte haben sich sodann beim zuständigen Bürgerservice-Center zu melden.
Spezielle staatliche Hilfsangebote für Rückkehrer werden vom griechischen Staat nicht zur Verfügung gestellt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 8).
Eine funktionierende nationale Integrationspolitik bzw. Integrationsstrategie für anerkannte Flüchtlinge existiert, v.a. aufgrund fehlender Geldmittel, in Griechenland aktuell kaum (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 30.8.2018, S. 11; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 7 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierte Gesamtausgabe vom 4.10.2019 mit Informationsstand vom 19.3.2020, Ziffer 6. Schutzberechtigte, S. 27 f.). Hinsichtlich staatlicher Kurse zu Sprache sowie Kultur und Geschichte des Landes ist das Bild unklar (für die Existenz kostenloser Kurse: Konrad-Adenauer-Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 11), wobei aktuellere und insofern vorzugswürdige Erkenntnismittel ein solches Angebot verneinen (Raphaelswerk, Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand Dezember 2019, S. 12). Die Integrationsprogramme sind von der Finanzierung durch die EU abhängig, da auf nationaler und kommunaler Ebene keine nennenswerten Ressourcen zur Verfügung stehen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 7; BFA a.a.O.).
In bestehende Lücken stoßen jedoch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die auf verschiedensten Feldern Integrationshilfe leisten und mit denen die griechischen Behörden, insbesondere die lokalen, auch kooperieren (OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 91 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 2; BFA a.a.O. S. 32). Die Arbeit der NGOs ist jedoch räumlich vorwiegend auf die Ballungsräume Athen und Thessaloniki konzentriert (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 2).
Hinsichtlich des Zugangs zu einer Unterkunft gilt für anerkannte Schutzberechtigte der Grundsatz der Inländergleichbehandlung mit griechischen Staatsangehörigen. Da es in Griechenland kein staatliches Programm für Wohnungszuweisungen an Inländer gibt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 1), entfällt dies auch für anerkannt Schutzberechtigte. Auch findet keine staatliche Beratung zur Wohnraumsuche statt. Sie sind zur Beschaffung von Wohnraum grundsätzlich auf den freien Markt verwiesen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 3; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 2; BFA a.a.O., S. 30; Amnesty International, Amnesty Report Griechenland 2019 – Stand: 16.4.2020). Das Anmieten von Wohnungen auf dem freien Markt ist durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte oder Studenten sowie gelegentlich durch Vorurteile gegenüber Flüchtlingen erschwert (BFA a.a.O., S. 30).
Zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigten werden nicht in den Flüchtlingslagern oder staatlichen Unterkünften untergebracht. Zwar leben dort auch anerkannt Schutzberechtigte, jedoch nur solche, die bereits als Asylsuchende dort untergebracht waren; diese können über die Anerkennung hinaus für einen Übergangszeitraum von 30 Tagen dort verbleiben (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 1 f.). Zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte haben insbesondere keinen Zugang zu einer Unterbringung im Rahmen des EUfinanzierten und durch das UNHCR betriebenen ESTIA-Programms (Emergency Support to Accomodation and Integration System). Über das ESTIA-Programm stehen derzeit zwar ca. 4.600 Appartements und insgesamt ca. 25.500 Unterbringungsplätze zur Verfügung (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Mai 2020), aber nur für Asylsuchende und für anerkannte Schutzberechtigte in den ersten 30 Tage nach ihrer Anerkennung (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 1 f., an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 1 f., an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 5; an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2). Das neue Asylgesetz Nr. 4636/2019, das am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist, und eine weitere Gesetzesänderung von März 2020 haben die früheren Bedingungen, die ein Verbleiben in der Flüchtlingsunterkunft für sechs Monate ermöglicht haben, verschärft (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 und an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 1 f.). Seit Juni 2020 wird die Verpflichtung zum Auszug, von der ca. 11.500 Personen betroffen sind, auch umgesetzt.
Das Programm Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection (Helios II-Programm), ein von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Abstimmung mit dem griechischen Migrationsministerium entwickeltes und durch die EU finanziertes Integrationsprogramm, sieht zwar 5.000 Wohnungsplätze für anerkannte Schutzberechtigte vor. Die Wohnungsangebote werden dabei von NGOs und Entwicklungsgesellschaften griechischer Kommunen als Kooperationspartner der IOM zur Verfügung gestellt und von den Schutzberechtigten, unter Zahlung einer Wohnungsbeihilfe an sie, angemietet (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2 f.). Das Programm richtet sich aber nur an international Schutzberechtigte, die nach dem 1. Januar 2018 anerkannt wurden, die im Zeitpunkt der Unterrichtung über ihre Anerkennung in einer Flüchtlingsunterkunft (insbesondere im ESTIA-Programm) untergebracht waren und innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Anerkennung einen entsprechenden Antrag gestellt haben (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 2 f. und an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 2). Ob Rückkehrern aus dem Ausland diese Möglichkeit offensteht, ist unklar, einen solchen Fall hat es bislang jedenfalls noch nicht gegeben (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 3). Seit September 2020 kann über das HeliosProgramm auch eine zweimonatige Unterkunft von Anerkannten in Hotels sichergestellt werden. Zusätzlich sollen Notfallkapazitäten in einem Lager in Athen zur Verfügung gestellt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 3).
Auch ist eine Unterbringung in Obdachlosenunterkünften durch kommunale oder regionale Sozialbehörden für anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich möglich. Allerdings sind die Kapazitäten, etwa in Athen, knapp bemessen und oft chronisch überfüllt (BFA a.a.O., S. 30; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3). Eine Erhebung des Refugee Support Aegean (RSA) vom 16. Juli 2018 ergab beispielsweise, dass alle 11 abgefragten Unterkünfte mit einer Kapazität zwischen 10 bis 150 Plätzen vollbelegt waren und darüber hinaus zum Teil längere Wartelisten aufwiesen (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 30.8.2018, S. 6 ff.). Die Aufenthaltsdauer dort ist regelmäßig begrenzt (Pro Asyl, a.a.O). Teils stellen die Unterkünfte weitere Anforderungen an die Interessenten wie etwa Griechisch- oder Englischkenntnisse und psychische Gesundheit (Pro Asyl, a.a.O.) Einen Rechtsanspruch auf Obdachlosenunterbringung besteht nicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020). Im Hinblick auf die begrenzten Kapazitäten bewerben sich viele Schutzberechtigte erst gar nicht für einen Platz in einer dieser Herbergen. Im Ergebnis bleiben viele anerkannt Schutzberechtigte, die selbst nicht über hinreichende finanzielle Mittel für das Anmieten privaten Wohnraums verfügen, obdachlos oder wohnen in verlassenen Häusern oder überfüllten Wohnungen (Pro Asyl, a.a.O, S. 6 ff.). Obdachlosigkeit ist unter Flüchtlingen in Athen dennoch kein augenscheinliches Massenphänomen, was wohl auf landsmannschaftliche Strukturen und Vernetzung untereinander zurückzuführen ist (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3).
Wohnungsbezogene Sozialleistungen, die das Anmieten einer eigenen Wohnung unterstützen könnten, gibt es seit dem 1. Januar 2019 mit dem neu eingeführten sozialen Wohngeld, dessen Höhe maximal 70,00 EUR für eine Einzelperson und maximal 210,00 EUR für einen Mehrpersonenhaushalt beträgt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2). Für besonders Vulnerable können zur Vermeidung von Obdachlosigkeit Mietsubventionierungen gezahlt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 2). Das soziale Wohngeld bzw. die Mietsubventionierung setzen allerdings einen legalen Voraufenthalt in Griechenland von mindestens fünf Jahren voraus (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 und an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 2).
Zugang zu weiteren Sozialleistungen besteht für anerkannt Schutzberechtigte, die nach Griechenland zurückkehren, auch sonst unter den gleichen Voraussetzungen wie für Inländer. Das im Februar 2017 eingeführte System der Sozialhilfe basiert auf drei Säulen. Die erste Säule sieht ein Sozialgeld in Höhe von 200,00 EUR pro Einzelperson vor, welches sich um 100,00 EUR je weiterer erwachsener Person und um 50,00 EUR je weiterer minderjähriger Person im Haushalt erhöht. Alle Haushaltsmitglieder werden zusammen betrachtet, die maximale Leistung beträgt 900,00 EUR pro Haushalt. Die zweite Säule besteht aus Sachleistungen wie einer prioritären Unterbringung in der Kindertagesstätte, freien Schulmahlzeiten, Teilnahme an Programmen des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen, aber auch trockenen Grundnahrungsmitteln wie Mehl und Reis, Kleidung und Hygieneartikeln. Alles steht jedoch unter dem Vorbehalt der vorhandenen staatlichen Haushaltsmittel. Die dritte Säule besteht in der Arbeitsvermittlung. Neben zahlreichen Dokumenten zur Registrierung für die genannten Leistungen – unter anderem ein Aufenthaltstitel, ein Nachweis des Aufenthalts (z.B. elektronisch registrierter Mietvertrag, Gas-/Wasser-/Stromrechnungen auf eigenen Namen oder der Nachweis, dass man von einem griechischen Residenten beherbergt wird), eine Bankverbindung, die Steuernummer, die Sozialversicherungsnummer, die Arbeitslosenkarte und eine Kopie der Steuererklärung für das Vorjahr – wird ein legaler Voraufenthalt in Griechenland von zwei Jahren vorausgesetzt (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 f. und an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 4 ff.; BFA a.a.O., S. 28: Mindestaufenthalt ein Jahr).
Das sogenannte Cash-Card System des UNHCR, welches über eine Scheckkarte Geldleistungen je nach Familiengröße zur Verfügung stellt, steht nur Asylbewerbern, nicht aber anerkannt Schutzberechtigten, die zurückkehren, offen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2; BFA a.a.O., S. 29).
Der Zugang zum griechischen Arbeitsmarkt ist für international Schutzberechtigte grundsätzlich gleichermaßen wie für Inländer gegeben. Die Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2019 in Griechenland rund 17% und ist damit die höchste in der EU. Die Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre hat zu einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsmarktchancen geführt, wobei Frauen noch stärker betroffen sind als Männer (Eures, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt, S. 1. u. 3., BFA a.a.O., S. 31). Die Coronakrise belastet aktuell die griechische Wirtschaft zusätzlich stark: In wirtschaftlicher Hinsicht führte das Virus und der staatliche angeordnete Lockdown zu einem Einbruch der griechischen Wirtschaft im dritten Quartal 2020 um 11,7%. Im wirtschaftlich bedeutsamen Tourismus-Sektor, der im Jahr 2019 noch ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes beigetragen hatte, gingen die Urlauberzahlen 2020 um 80% zurück. Im Jahr 2021 erwartet die Regierung statt eines Zuwachses beim Bruttoinlandsprodukt von 7,5% nur noch ein Plus von 4,8%. Um den Folgen des corona-bedingten Wirtschaftseinbruchs zu begegnen, stellte der griechische Staat im Jahr 2020 23,9 Milliarden Euro an Hilfen für die Wirtschaft zur Verfügung und plant diese im Jahr 2021 um weitere 7,5 Milliarden Euro zu erhöhen. Trotz der hohen Schuldenquote von 209% des Bruttoinlandsproduktes ist die Finanzierung des griechischen Staates wegen eines Liquiditätspuffers von 30 Milliarden Euro derzeit aber nicht in Gefahr (Höhler, Corona wirft Griechenland weit zurück, 25.12.2020 [Redaktionsnetzwerk Deutschland]). Einen Arbeitsplatz zu finden, ist für international Schutzberechtigte dementsprechend schwer, die Chance auf staatliche Vermittlung eines Arbeitsplatzes ist gering, da die staatliche Arbeitsverwaltung kaum Ressourcen hat. Spezielle Integrationshilfen für anerkannt Schutzberechtigte gibt es nicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 2, Pro Asyl, a.a.O, S. 10). Rechtmäßig ansässige Drittstaatsangehörige sind, wenn sie überhaupt Arbeit finden, meist im niedrigqualifizierten Bereich und in hochprekären Beschäftigungsverhältnissen oder gleich in der Schattenwirtschaft tätig (Konrad-Adenauer-Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 9). Ein Hindernis für anerkannte Schutzberechtigte stellen regelmäßig auch die Sprachbarriere (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7) sowie bürokratische Hürden im Allgemeinen und im Speziellen bei der Beantragung der „Social Security Number (AMKA)“ dar. Bezüglich letzterer wird vereinzelt berichtet, dass deren Beantragung seit Juli 2019 für nicht-griechische Staatsangehörige nicht mehr möglich sei (Respond, Working Papers, Integration – Greece Country Report, Stand Juni 2020, S. 26; zwar von Schwierigkeiten berichtend, aber keine Unmöglichkeit annehmend Asylum Information Database [AIDA], Country Report Greece, Update 2019, S. 166, 219 f.). Vereinzelt haben NGOs bzw. kirchliche Institutionen Initiativen zur Arbeitsvermittlung gestartet, etwa der Arbeiter-Samariter-Bund und die Diakonie (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 2). Für gut ausgebildete Schutzberechtigte besteht im Einzelfall auch die Chance auf Anstellung bei einer solchen Organisation, etwa als Dolmetscher oder Team-Mitarbeiter (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7; BFA a.a.O., S. 31).
Der Zugang zu medizinischer Versorgung und zum Gesundheitssystem ist für anerkannt Schutzberechtigte zu den gleichen Bedingungen wie für griechische Staatsangehörige gegeben. Es besteht Zugang zum regulären öffentlichen Gesundheitssystem. Für Medikamente besteht eine Zuzahlungspflicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 9). Die Versorgung unterliegt denselben Beschränkungen durch Budgetierung und restriktive Medikamentenausgabe wie für griechische Staatsbürger (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 9; OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 141 f.). Von der im Grundsatz kostenfreien staatlichen Gesundheitsfürsorge ist auch die Hilfe bei psychischen Erkrankungen umfasst (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg, S. 5). Voraussetzung ist das Vorliegen einer Sozialversicherungsnummer (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg, S. 5).
cc) Unter Zugrundelegung des vorstehenden rechtlichen Maßstabes (2. c) aa)) und der tatsächlichen Situation für rückkehrende anerkannte Schutzberechtigte (2. c) bb)) ergibt sich für die Klägerinnen unter Berücksichtigung der derzeit besonders verschärften wirtschaftlichen Lage infolge der Corona-Pandemie eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bei einer Rückkehr nach Griechenland. Es ist davon auszugehen, dass sie in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten werden und ihre Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ nicht werden befriedigen können.
Als Rückkehrperspektive ist von einer jeweils separaten Rückkehr der Klägerinnen zu 1) und 2) als alleinstehende Frauen auszugehen, da die Klägerin zu 2) mit 20 Jahren volljährig ist und ihren eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge nicht mehr mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Da der sich ebenfalls in Deutschland befindliche und subsidiären Schutzstatus genießende, nicht verfahrensbeteiligte …, Sohn und Bruder der Klägerinnen, mittlerweile ebenfalls volljährig ist, ist auch er nicht in eine etwaige gemeinsame Rückkehrperspektive mit den Klägerinnen aufzunehmen. Eine gemeinsame Rückkehrperspektive kann nur für die Kernfamilie, also Eltern plus minderjährige Kinder angenommen werden (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – NVwZ 2020, 158 Ls. 2, 3, Rn. 15 ff., allerdings für § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK). Besondere Umstände des Einzelfalles, die ausnahmsweise doch eine gemeinsame Rückkehrperspektive rechtfertigen könnten, sind nicht vorgetragen oder ersichtlich. Hinsichtlich der Klägerin zu 2) ist noch zu bemerken, dass allein ihr in der mündlichen Verhandlung vorgetragenes Verlöbnis noch keine gemeinsame Rückkehrperspektive zusammen mit ihrem Verlobten begründet.
Die Lebensverhältnisse von Schutzberechtigten in Griechenland stellen sich allerdings nicht schon allgemein für jedweden Personenkreis von Schutzberechtigten als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh dar (etwa VG Ansbach, U.v. 10.7.2020 – AN 17 K 18.50449 – juris). Zwar haben international oder subsidiär Schutzberechtigte nach der Ankunft in Griechenland möglicherweise über einen längeren Zeitraum keinen gesicherten Zugang insbesondere zu Obdach und sanitären Einrichtungen. Zudem ist es für sie zunächst teilweise praktisch unmöglich, die Voraussetzungen für den Erhalt des sozialen Solidaritätseinkommens zu erfüllen. Bei dieser Sachlage ist die Abdeckung der Grundbedürfnisse Bett, Brot und Seife vom eigenverantwortlichen Handeln des Einzelnen und der Hilfestellung durch NGOs geprägt, die im Bereich der sozialen Unterstützung, Nahrungsmittelhilfe, Bildung, medizinischen Versorgung und teils auch der Unterbringung aktiv sind (eine Übersicht der zahlreichen in der Flüchtlingshilfe engagierten Organisationen in Griechenland bietet: Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Athen, Hilfsorganisationen – Hilfe für Flüchtlinge in Griechenland, Stand Dezember 2019).
Vor diesem Hintergrund muss der jeweilige Schutzberechtigte, damit eine drohende Verelendung verneint werden kann, in der Lage sein sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative und unter Zuhilfenahme von Unterstützungsangeboten selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ist davon auszugehen, dass er diese Schwierigkeiten bewältigen kann, fehlt es an der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Griechenland (so auch: VG Cottbus, B.v. 10.2.2020 – 5 L 581/18.A – juris Rn. 40; VG Düsseldorf, B.v. 23.9.2019 – 12 L 1326/19.A – juris Rn. 43; VG Leipzig B.v. 17.2.2020 – 6 L 50/19 – BeckRS 2020, 2228 Rn. 15). Es verstößt demnach grundsätzlich nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn Schutzberechtigte den eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt sind und von ihnen erwartet wird, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen. Art. 3 EMRK gewährt grundsätzlich keinen Anspruch auf den Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Sofern keine außergewöhnlich zwingenden humanitären Gründe vorliegen, die gegen eine Überstellung sprechen, ist allein die Tatsache, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse nach einer Überstellung erheblich verschlechtern würden, nicht ausreichend, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (VG Düsseldorf, B.v. 23.9.2019 – 12 L 1326/19.A – juris Rn. 39).
Im Falle der Klägerinnen als jeweils alleinstehende Frauen liegen allerdings solche außergewöhnlichen humanitären Gründe, die einer Rückführung nach Griechenland entgegenstehen, vor. Zunächst steht ihnen weder eine Unterkunft im Rahmen des ESTIA-Programms noch des Helios II-Programms zur Verfügung. Auch ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine Anmietung einer ausreichenden Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt nicht möglich sein wird. Einerseits wegen der dort bestehenden Hürden wie einer Bevorzugung von Familienmitgliedern oder Studenten als Mietern, zum anderen wegen des zumindest in den ersten fünf Jahren bestehenden Ausschlusses wohnungsbezogener Sozialleistungen und des Ausschlusses vom Sozialgeld in den ersten zwei Jahren.
Die jeweils selbstständige Erwirtschaftung wenigstens des eigenen Existenzminimums erscheint angesichts des für die Klägerinnen als zurückkehrende, anerkannte Schutzberechtigte faktisch kaum zugänglichen Arbeitsmarktes äußerst unwahrscheinlich. Das folgt zum einen daraus, dass die in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise steigende Arbeitslosigkeit Frauen stärker betrifft als Männer (s.o. und Eures, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt, S. 1. u. 3., BFA a.a.O., S. 31). Da der größte Teil der Beschäftigten Mitarbeiter im Dienstleistungsgewerbe und im Verkauf sind (23,8%), erscheint die Annahme einer geringen Erwerbswahrscheinlichkeit plausibel und dürfte sich im Zuge der Corona-Krise und des damit einhergehenden Einbruchs im Tourismussektor, der für ein Fünftel des griechischen Bruttoinlandsproduktes steht, noch weiter verschärfen. Zudem steht Frauen im Vergleich zu Männern nur ein schmalerer Arbeitsmarkt offen, da etwa schwere körperliche Tätigkeiten in der Land- und Bauwirtschaft typischerweise und mehrheitlich von Männern wahrgenommen werden. Im Falle der Klägerinnen tritt noch hinzu, dass sie weder über griechische oder wenigstens ausreichende englische Sprachkenntnisse verfügen, die den Eintritt in den Arbeitsmarkt erleichtern würden.
Insoweit wird es den Klägerinnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jeweils an der Möglichkeit fehlen, Miete und Lebensunterhaltskosten selbst zu erwirtschaften. Eine Unterbringung in Obdachlosenunterkünften ist angesichts der limitierten Kapazitäten und der teils bestehenden Aufnahmebeschränkungen wie etwa griechischen oder englischen Sprachkenntnissen, über die die Klägerinnen jeweils nicht verfügen, eine nur vage und unwahrscheinliche Möglichkeit, die die tatsächliche Gefahr der drohenden Obdachlosigkeit nicht zu beseitigen vermag. Daran ändert auch die Tatsache, dass es etwa auf den Straßen Athens keine augenscheinliche Massenobdachlosigkeit gibt, nichts. Dies ist vor allem auf informelle Möglichkeiten zur Unterkunft, wie leerstehende oder besetzte Gebäude, meist ohne Wasser und Strom, zurückzuführen. Jedoch besteht für alleinstehende Frauen in diesem Zusammenhang im Allgemeinen eine größere Gefahr als dies für alleinstehende Männer der Fall ist, Opfer von (sexuellen) Übergriffen zu werden. Entsprechende Berichte gibt es bislang zwar nur aus Flüchtlingscamps (AIDA, Country Report Greece, Update 2019, S. 127 f., 130; United States Department of State, Greece 2019 Human Rights Report, S. 3, 13 f.), in die die Klägerinnen als Anerkannte nicht zurückkehren müssten, gleichwohl lässt sich aus ihnen ableiten, dass, wenn Übergriffe bereits in staatlich oder durch NGOs organisierten Camps auftreten, diese Gefahr in unregulierten Behelfsunterkünften, wilden Camps oder gar auf der Straße erst recht besteht. Da wie eben ausgeführt die Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerinnen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen gegenüber alleinstehenden Männern derzeit deutlich reduziert ist, ist umgekehrt mangels eines Erwerbseinkommens auf absehbare Zeit nur ein Aufenthalt in informellen Unterkünften zu erwarten, der mit den geschilderten Gefahren behaftet ist. Die Kombination beider Risiken führt dazu, dass sich alleinstehende Frauen – anders als nach der Rechtsprechung der Kammer alleinstehende Männer, denen eine Rückkehr nach Griechenland grundsätzlich zugemutet wird (VG Ansbach, U.v. 10.7.2020 – AN 17 K 18.50449 – juris) – nicht auf einen längerfristigen Aufenthalt in besagten informellen Unterkünften verweisen lassen müssen.
Angesichts dessen und wegen des beschriebenen temporären Ausschlusses von Sozialleistungen in den ersten zwei bzw. für das Wohngeld fünf Jahren des (legalen) Aufenthalts in Griechenland sowie der äußerst problematischen, durch die Corona-Krise derzeit massiv verschärften Arbeitsmarktsituation für alleinstehende Frauen droht trotz rechtlicher Inländergleichbehandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verelendung der Klägerinnen, da innerhalb einer nicht unerheblichen Zeitspanne nach Rückkehr keine Änderung in Hinblick auf Obdach und Sozialleistungen absehbar ist. Die Kammer geht im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG) nach dem eben Ausgeführten davon aus, dass die Klägerinnen, obwohl sie gesundheitlich nicht eingeschränkt sind, einen selbständigen Eindruck machen und die Klägerin zu 1) auch in der in der Vergangenheit ihr Leben als alleinstehende und alleinerziehende Frau gemeistert hat, in Griechenland durch jedes soziale Netz fallen würden und sich auch nicht aus eigener Kraft und eigenem Engagement heraus ein menschenwürdiges Existenzminimum erwirtschaften können.
Die zu erwartenden Lebensumstände in Griechenland beruhen zwar nicht auf der Gleichgültigkeit (so die Formulierung des EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90) des griechischen Staates, aber auf dessen massiver Überforderung, die trotz Unterstützung des UNHCR und der EU weiterhin besteht. So kamen etwa im Jahr 2019 74.600 Asylsuchende in Griechenland an und damit 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Dezember 2019), was angesichts einer Bevölkerungszahl von etwa 11 Millionen und der Steigerungsrate eine enorme Belastung darstellt. Zum Vergleich wurden in Deutschland im Jahr 2019 etwa 150.000 Asylsuchende und damit 11 Prozent weniger als im Jahr 2018 registriert (Bundesamt für …, Das Bundesamt in Zahlen 2019, S. 7). In absoluten Zahlen sind dies zwar gut doppelt so viele wie in Griechenland, allerdings bei einer mehr als sieben Mal so großen Gesamtbevölkerung. Im europäischen Vergleich muss Griechenland gemessen an seiner Größe überproportionale Lasten bei der Aufnahme von Flüchtlingen schultern und ist mit diesem Ausmaß, insbesondere was die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung anbelangt, überfordert. Für die Betroffenen wirkt sich die Überforderung des griechischen Staates im Ergebnis genauso wie Gleichgültigkeit, worauf der Europäische Gerichtshof abgestellt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90), aus. Rechtlich maßgeblich ist letztlich allein, ob wegen der Defizite mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, was sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof ergibt, da dieser an anderer Stelle den „allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet“, betont (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 37).
Der Annahme einer drohenden erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung steht auch nicht entgegen, dass die Klägerinnen als anerkannte Schutzberechtigte freiwillig aus Griechenland ausgereist sind, damit – möglicherweise sogar bewusst – auf die ihnen zustehenden Sozialleistungen verzichtet und ihre eigene Notsituation im Falle einer Rückkehr erst herbeigeführt haben. Zwar stellt der Europäische Gerichtshof grundsätzlich auf eine Notsituation der schutz-berechtigten Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen“ ab (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Allerdings kommt Art. 4 GRCh in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs absoluter Charakter zu, sprich Einschränkungen in dessen Gewährleistung sind nicht rechtfertigbar (EuGH, U.v. 24.2.2018 – MP, C-353/16 – ZAR 2018, 395 Rn. 36; Jarass in Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 12). Zudem lässt sich der Europäische Gerichtshof auch so verstehen, dass die Notsituation unabhängig vom Willen und persönlichen Entscheidungen des Anerkannten sich erst auf die Situation ab einer angenommenen Rückkehr nach Griechenland bezieht und deshalb das zeitlich davorliegende Verhalten keine Rolle spielen darf.
Schließlich vermag auch das allgemeine Schreiben des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 bezüglich zurückkehrender anerkannter Flüchtlinge nach Griechenland eine drohende unmenschliche Behandlung nicht auszuschließen. In diesem wird zugesichert, dass Griechenland die Qualifikations-RL 2011/95/EU rechtzeitig in griechisches Recht umgesetzt hat und basierend hierauf allen international Schutzberechtigten die Rechte aus der Richtlinie gewährt werden unter Beachtung der Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine Zusicherung, die die Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen Behandlung ausschließen soll, muss nach der Rechtsprechung des EGMR hinreichend konkret und individualisiert, etwa durch detaillierte und zuverlässige Informationen über die materiellen Bedingungen in der Unterkunft mit Bezug zu den Klägern, ausgestaltet sein (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127 Rn. 120 ff.). Das Bundesverfassungsgericht betont hinsichtlich der Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK die Notwendigkeit einer „hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage“ (BVerfG [2. Senat, 1. Kammer], B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 15 f., wo auch auf die Tarakhel-Entscheidung des EGMR Bezug genommen wird). Gemessen an diesem Maßstab bleibt die Mitteilung Griechenlands vom 8. Januar 2018 zu abstrakt und damit nicht ausreichend.
Nach alldem sind die Unzulässigkeitsentscheidungen gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Ziffer 1 des Bescheids vom 15. März 2018 rechtswidrig, verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten und sind damit aufzuheben.
d) Nachdem Ziffer 1 des Bescheides vom 15. März 2018 aufzuheben ist, sind in deren Folge auch die Ziffern 2 bis 4 aufzuheben. Da für die Klägerin zu 1) das in Ziffer 4 des Bescheids vom 15. März 2018 auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG durch den weiteren Bescheid des Bundesamtes vom 12. Oktober 2020 neu angeordnet und auf 24 Monate befristet wurde, ist dementsprechend auch dieser Bescheid aufzuheben.
Die unter Ziffer 2 getroffene Feststellung der Beklagten, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, ist im Falle der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung auf die Anfechtungsklage hin ebenfalls aufzuheben, weil sie verfrüht ergangen ist (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). Es steht dann nämlich noch nicht fest, hinsichtlich welches Ziellandes ein etwaiges Abschiebungsverbot zu prüfen ist (BayVGH, B.v. 8.3.2019 – 10 B 18.50031 – juris Rn. 21; dies wird in aller Regel das Herkunftsland des Klägers sein, da das Bundesamt an die gerichtliche Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung gebunden ist und außer bei veränderten Umständen in die materielle Prüfung des Asylantrages einsteigen muss, s. VG Aachen, U.v. 16.3.2020 – 10 K 157/19.A – juris Rn. 192).
Weiter ist die in Ziffer 3 getroffene Abschiebungsandrohung gemäß §§ 35, 38 AsylG aufzuheben. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher ist. Ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegt nach Aufhebung der Ziffer 1 nicht vor, s.o., § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist ebenso wenig einschlägig. Von der Aufhebung umfasst ist auch die Feststellung in Ziffer 3 letzter Satz des streitgegenständlichen Bescheids, dass die Klägerinnen nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen. Diese steht ersichtlich in unmittelbarem und untrennbarem Zusammenhang mit der Abschiebungsandrohung und kann ohne diese nicht mit sinnvollem Regelungsgehalt isoliert stehen bleiben. Sobald die Abschiebungsandrohung durch Aufhebung wegfällt und das Bundesamt das Verfahren fortführt, wird (ggf. bis zum Erlass eines neuen Bescheids) mangels Rechtsgrundlage überhaupt nicht abgeschoben und somit auch nicht nach Syrien. Die Benennung des behaupteten Verfolgerstaats als denjenigen, in den nicht abgeschoben werden darf, erfolgt allein deshalb, weil bei einem unzulässigen Asylantrag nicht inhaltlich geprüft wird und es deshalb auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass im Herkunftsstaat des Ausländers eine Verfolgungsgefahr besteht (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition Stand 1.11.2019, § 35 AsylG Rn. 11). Wird aber eine inhaltliche Prüfung durch das Bundesamt durchgeführt, ist auch über Abschiebungsverbote nach Syrien neu zu befinden. Da die Abschiebungsandrohung insgesamt aufzuheben ist, erübrigen sich Ausführungen zur unrichtigen Festsetzung der Ausreisefrist nach § 38 Abs. 1 AsylG, die allerdings keine Rechtsverletzung begründen würde (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2019 – 1 C 15/18 und U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – beide juris) sowie zu Fragen im Zusammenhang mit der „Gnandi“ – Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes (EuGH, U.v. 19.6.2018 – Gnandi, C-181/16 – NVwZ 2018, 1625; BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – BeckRS 2020, 8202).
Die in Ziffer 4 festgelegte Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate bzw. auf 24 Monate für die Klägerin zu 1) (s. Änderungsbescheid vom 12. Oktober 2020) ist mit dem Wegfall der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben. Gleiches gilt für den diesbezüglichen Änderungsbescheid vom 12. Oktober 2020 betreffend nur die Klägerin zu 1).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 Nr. 11 ZPO, 711 ZPO.


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