Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan

Aktenzeichen  M 16 K 17.36736

Datum:
24.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 47885
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 30. März 2017 wird in den Nummern 4 bis 6 aufgehoben.Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4 und die Beklagte 1/4.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nur die Klägerbevollmächtigte zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die insgesamt zulässige Klage ist begründet, soweit der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans geltend macht (nachfolgend Nr. I). Im Übrigen ist die Klage unbegründet (nachfolgend Nr. II)
I. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Maßgeblich ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 24. August 2021, weil es sich um eine asylrechtliche Entscheidung handelt.
1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst auch das hier einschlägige Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 11 m.w.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen einen Mindestgrad an Schwere (minimum level of severity) erreichen, um den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu eröffnen; die Beurteilung des Schweregrads bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. EGMR, U.v. 6.3.2001 – 45276/99 – Hilal/Großbritannien Rn. 60; U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – Paposhvili/Belgien Rn. 174; BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12, jeweils m.w.N.).
Ob dem Kläger eine derartige Gefahr droht, ist am Maßstab der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu messen. Zunehmend gewinnt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) an Gewicht (vgl. Hruschka/Mantel in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Auflage 2021, § 60 AufenthG Rn. 27 zum Gleichlauf mit Art. 4 EU-GRCharta; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6 zur weitgehenden Identität der Regelungsbereiche des Art. 3 EMRK und des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, jeweils m.w.N.).
Hinsichtlich der erforderlichen Gefahrenprognose im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gilt der Maßstab des „real risk“ (der tatsächlichen Gefahr), im Zielstaat einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen zu werden bzw. ausgesetzt zu sein. Das ist der Fall, wenn stichhaltige Gründe für diese Annahme bestehen. Bei der Beurteilung bzw. der Bewertung des Vorliegens einer tatsächlichen Gefahr sind die vorhersehbaren Folgen der Abschiebung in das Zielland unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Lage und der persönlichen Umstände des Betroffenen in den Blick zu nehmen (vgl. EGMR, U.v. 23.8.2016 – 59166/12 – J.K. und andere/Schweden Rn. 79 ff. m.w.N.). Dem präventiven Zweck des Art. 3 EMRK wohnt ein gewisses Maß an Spekulation inne (weshalb vom Betroffenen – im Hinblick auf seine Beweisführungslast zu individuellen Umständen im Verfahren vor dem EGMR – kein eindeutiger Nachweis gefordert werden könne, dass er einer nach Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung ausgesetzt wäre, vgl. EGMR, U.v. 9.1.2018 – Nr. 36417/16 – X./Schweden Rn. 49 f.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6, „gewisser Grad an Mutmaßung“).
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“) entspricht dem Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ im nationalen Recht (vgl. BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35.19 – juris Rn. 27; B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 20, jeweils m.w.N.). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: für eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019, a.a.O.).
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat können als Behandlung i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu werten sein. Ein Schutzanspruch aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse liegt allerdings nur in ganz außergewöhnlichen Fällen vor, weil sich der Schutz aus Art. 3 EMRK hauptsächlich auf bürgerliche und politische Rechte, nicht aber zugleich auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat wie etwa die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse erstreckt. Nur dann, wenn der Asylsuchende im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, weil die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Abschiebezielstaat so schlecht sind, dass von einer Abschiebung zwingend abgesehen werden muss, kann seine Abschiebung Art. 3 EMRK verletzen. Die einem Ausländer drohenden Gefahren müssen auch insoweit ein Mindestmaß an Schwere aufweisen; es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. EGMR, U.v. 25.2.2020 – Nr. 68377/17 und 530/18 – A.S.N. und andere/Niederlande Rn.126 ff.; U.v. 29.1.2013 – Nr. 60367/10 – S.H.H./Großbritannien Rn. 88 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 10; U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12 unter Bezugnahme auch auf die Rechtsprechung des EuGH; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25 ff., jeweils m.w.N.). Anders als bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedarf es im Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK keines (verantwortlichen) Akteurs.
2. An vorstehenden Vorgaben gemessen ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und angesichts der derzeitigen Verhältnisse in Afghanistan nicht imstande sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft, Hygiene auf legalem Weg zu sichern und auch keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Aus folgenden Gründen:
a) Die wirtschaftliche und damit einhergehend humanitäre Situation in Afghanistan ist aktuell und auf unabsehbare Zeit, insbesondere für Rückkehrer, besorgniserregend.
aa) Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war die wirtschaftliche und humanitäre Lage der Bevölkerung in Afghanistan in besorgniserregendem Maß schlecht.
(1) Afghanistan zählte zu einem der ärmsten Länder der Welt und wurde zudem von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie schwer getroffen. Die Armutsrate in den Städten war bis zum Zeitraum 2019/20 bereits auf mehr als 45% angewachsen und dürfte im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein, während die Lebensmittelpreise im gleichen Zeitraum um 10% anstiegen. Die Grundversorgung war dementsprechend für große Teile der ansässigen Bevölkerung ebenso wie für Rückkehrer eine tägliche Herausforderung. UN-OCHA erwartete, dass 2021 mehr als 18 Millionen Afghaninnen und Afghanen in jeder Provinz auf humanitäre Hilfe angewiesen sein würden, also u.a. keinen gesicherten Zugang zu Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und/oder medizinischer Versorgung hätten. Die afghanische Wirtschaft ist von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Zwischen März und Mai 2021 waren 11 Millionen Menschen von akuter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen; eine weitere Verschlechterung sei ab dem Spätherbst 2021 zu erwarten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan v. 15.7.2021, Stand Mai 2021 [im Folgenden: Lagebericht], S. 20 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, aus dem COI-CMS, Version 4, Stand 11.6.2021 [im Folgenden: Länderinformation], S. 356 ff.).
Anfang 2021 benötigten aufgrund Vertreibung durch Dürre, Überschwemmungen, der anhaltenden Unsicherheit, des wirtschaftlichen Abschwungs und der Covid-19-Pandemie etwa 6,6 Millionen Afghanen eine Unterkunft gegenüber noch 3,6 Millionen im Jahr 2020. Ein Drittel der Binnenvertriebenen wohnt in stark beschädigten oder zerstörten Unterkünften (vgl. ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021).
Der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan war für 87% der Bevölkerung zumindest zu einer „rudimentären Grundversorgung“ in einem Radius von zwei Stunden vorhanden, wobei nationale und internationale NGOs geschätzt 90% der primären, sekundären und tertiären medizinischen Versorgung in Afghanistan über das Weltbank-Projekt „SEHATMANDI“ sicherstellten und nur 10% der Gesundheitsversorgung in rein staatlicher Verantwortung lagen. Bereits vor Übernahme der Macht durch die Taliban hatte die Sicherheitslage – vornehmlich bedingt durch Angriffe der Taliban (auch in von diesen besetzten Gebieten) etwa auf eine Frauenklinik und bei Polioimpfaktionen – erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung Afghanistans. Zudem hatten weitere Krisen in Verbindung mit einem wirtschaftlichen Abschwung im Land das Gesundheitssystem weiter an den Abgrund gedrängt (vgl. Lagebericht, S. 23 f.; Länderinformation, S. 372 ff.; ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021).
(2) Obschon rund 40% der Afghanen Afghanistan irgendwann verlassen hatten und das Konzept der Rückkehr daher weit verbreitet ist, stellte sich die humanitäre Lage für Rückkehrer, Binnenvertriebene und Flüchtlinge besonders folgenschwer dar. Deren Reintegrationsprozess war häufig durch einen schlechten psychosozialen Zustand gekennzeichnet. Viele von ihnen galten als weniger selbsterhaltungsfähig als andere Afghanen. Aufgrund der (Un-)Sicherheitslage war Rückkehrern die Rückkehr in ihre Heimatorte oft nicht möglich. Auch führte der hohe Konkurrenzdruck zwischen der ansässigen Bevölkerung, Rückkehrenden und Binnenvertriebenen häufig zu Konflikten. Erfolglosen Rückkehrern aus Europa haftete ferner das Stigma des Versagens an und diese wurden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Besonders als verwestlicht und zum Teil anti-islamisch geltende Rückkehrer aus dem westlichen Ausland litten an Diskriminierung und Stigmatisierung (Anm.: „Verwestlicht“ zu sein ist nicht formell definiert. Quellen beschreiben es vage als eine Person, die die Werte, das Aussehen, die Sprache, den Akzent oder die Kultur eines westlichen Landes übernommen hat, vgl. Home Office UK, Fundstelle nachfolgend). Ein Stigma, als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland negativ wahrgenommen zu werden und/oder eine Marginalisierung erfahren zu haben, war bei der sog. Seefar-Befragung von 2018 klar zu erkennen. Auch befanden sich Rückkehrer aus Europa oder der Türkei häufiger in finanziellen Schwierigkeiten, nachdem sie Vermögenswerte verkauft oder sich große Geldsummen für die Reise geliehen hatten. (vgl. Seefar, examining return and reeintegration in Afghanistan, why psychosocial interventions matter, Juli 2018, S. 3, 32). So wurde berichtet, dass Rückkehrer aus dem westlichen Ausland von der Grenzpolizei und anderen Staatsbeamten beleidigt und schikaniert wurden, ihnen vorgeworfen wurde, ihr Land verraten zu haben oder Ungläubige oder Konvertiten zu sein. Wenngleich zwar die meisten Rückkehrer aus Europa von ihren Familien und der Gemeinschaft wiederaufgenommen wurden, wurden Rückkehrer auch abgelehnt, weil sie zurückgekehrt waren, ohne die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen und die Ressourcen für die in Afghanistan verbliebene Familie zu begrenzt waren, um die Zurückkehrenden, meist junge Männer, zu versorgen. Welche Reaktion zu erwarten ist, hängt von der Fähigkeit des Rückkehrers ab, sich wieder zu integrieren, insbesondere dem Bewusstsein für sein soziales Umfeld und die Gemeinschaftsnormen. Dieses Verständnis kann wiederum davon abhängen, wie lange der Rückkehrer im Ausland war und welche Unterstützung er bei seiner Rückkehr erhielt. Wirtschaftlich befanden sich allerdings viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa, was durch die Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wurde (vgl. Länderinformation S. 390 ff.; Lagebericht, S. 20 ff.; Home Office UK, country policy and Information note Afghanistan: Afghans perceived as ‘westernised’, Version 2.0, Juni 2021). Nach Angaben der UN vom 12. August 2021 ist allein die Zahl der Binnenflüchtlinge in Afghanistan seit Anfang 2021 auf ca. 390.000 Menschen gestiegen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes v. 16.8.2021; s. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021, wonach bis zum 9. August 2021 über 550.000 Afghanen innerhalb des Landes vertrieben wurden). Ausweislich des Wochenberichts der Internationalen Organisation für Migration/Afghanistan vom 6. bis 12. August 2021 sind seit Anfang des Jahres 2021 mehr als 730.000 Afghanen aus Iran und Pakistan zurückgekehrt (IOM, return of undocumented Afghans, weekly situation report). Teilweise wurde berichtet, dass Rückkehrer aus Europa tätlich angegriffen, also gezielt Opfer von Gewalttaten wurden (vgl. Stahlmann/Diakonie Deutschland, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021).
bb) Mit der für alle Seiten unerwartet raschen Machtübernahme der radikalislamischen Taliban über nahezu das gesamte Land, zuletzt durch die Einnahme der Stadt Kabul am 15. August 2021, dem Ende der Islamischen Republik Afghanistan und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021). Dies bleibt nicht ohne Folgen für die humanitären Verhältnisse in Afghanistan und für die Situation von Rückkehrern, insbesondere Rückkehrern aus den westlichen Staaten.
(1) Die durch die Machtübernahme der Taliban ausgelöste politische Instabilität und der Nachfragedruck bei Fremdwährungen führten zu einem deutlichen Anstieg des Wechselkurses; der Afghani fiel auf ein neues Rekordtief. Da die meisten (selbst Grund-) Nahrungsmittel importiert werden müssen, führt jeder Wertverlust des Afghani zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise. Dementsprechend sind die ohnehin schon hohen Preise für Weizen, Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Salz und Zucker in den letzten Wochen enorm gestiegen. Gleichzeitig sanken die Beschäftigungsmöglichkeiten seit Anfang August drastisch um 10,5% auf 2,1 Tage/Woche und ebenso der Lohn für Tagelöhner. Angesichts dieser Umstände ist es für viele Haushalte schwer, sich ausreichend Lebensmittel zu kaufen (vgl. UN World Food Programme, vulnerability analysis and mapping, food security analysis, Afghanistan, countrywide market price bulletin, 22.8.2021; zur aktuellen Wirtschaftslage/Versorgung vgl. auch Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes v. 6.9.2021).
Zwar sind die Kampfhandlungen seit der Machtübernahme durch die Taliban zurückgegangen. Unterstützung für die humanitäre Hilfe in Afghanistan ist für die afghanische Bevölkerung, einschließlich etwa einer halben Million Binnenvertriebener, aber nach wie vor dringend erforderlich (vgl. UNHCR, briefing notes, UNHCR warns that humanitarian needs in Afghanistan cannot be forgotten, 20.8.2021). Etwa 14 Millionen Menschen sind unterernährt. Unterernährung ist besonders bei Frauen, Kindern, Menschen mit Behinderungen und Armen aber auch bei Binnenvertriebenen und Rückkehrern zu besorgen (vgl. wfp.org, „Afghanistan: WFP committed to averting humanitarian crisis as one in three people go hungry“, Stand 17.8.2021).
Der Zugang zu Grundnahrungsmitteln wird durch das Fehlen von funktionierenden Banken und Geldautomaten sowie durch Unsicherheit und Mobilitätseinschränkungen weiter eingeschränkt. Zudem werden zu erwartende Grenzschließungen der Nachbarländer Afghanistans und Bewegungseinschränkungen durch Kontrollpunkte der Taliban innerhalb Afghanistans die logistischen Schwierigkeiten weiter erhöhen und zur zumindest zeitweisen Unterbrechung von Lieferketten führen. Die Auswirkungen von Dürre, der Coronavirus-Pandemie, des Konflikts und der humanitären Zugangsbeschränkungen nach dem Machtwechsel werden die Ernährungssicherheit im Land weiterhin verschlechtern (vgl. ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021; vgl. BVerwG, B.v. 22.9.2020 – 1 B 39.20 – juris Rn. 6 zur Berücksichtigung auch der direkten und indirekten Auswirkungen einer Pandemie, die im Zusammenspiel mit anderen Faktoren eine Situation bewirken können, die als Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu werten ist). Eine Trendwende ist nicht in Sicht.
Nach Mitteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern. Eine Kreditlinie von rund 460 Millionen Dollar wurde gesperrt; die US-Regierung hat Bargeldlieferungen nach Kabul gestoppt und Afghanistans Gold- und Devisenreserven eingefroren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 20.8.2021; tagesschau.de, Taliban ohne Zugriff auf Devisenreserven“, Stand 18.8.2021).
Als Reaktion auf den Machtwechsel setzte die Bundesregierung die staatliche Entwicklungshilfe aus. Allein für das Jahr waren 250 Millionen veranschlagt, wovon bislang kein Euro geflossen ist. Bundesaußenminister Maas hatte bereits am 12. August 2021 angekündigt, keinen Cent mehr nach Afghanistan zu geben, wenn die Taliban komplett übernommen haben, die Scharia einführen und dieses Land ein Kalifat wird (vgl. tagesschau.de, „Deutschland setzt Entwicklungshilfe aus“, „Werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben“, Stand 17. und 12.8.2021). Nach Einschätzung des Direktors des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasly, steht Afghanistan vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, weil auch andere Staaten und Einrichtungen ihre Hilfsleistungen und Geldzahlungen für Afghanistan zurückhalten, nachdem die Taliban am 15. August 2021 die Kontrolle über die Hauptstadt Kabul übernommen haben (vgl. aljazeera.com, „WFP calls for urgent aid as millions of Afghans face starvation“; ebs. reuters.com, „Afghanistan ’marching towards starvation‘ – UN food chief“, Stand jeweils v. 24.8.2021; s. auch faz.net, „Afghanistan: Taliban übernehmen die Notenbank“, Stand 23.8.2021).
Die internationalen Hilfsorganisationen werden in der humanitären Krise auf absehbare Sicht kaum Unterstützung leisten können. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen waren bereits in der Vergangenheit bevorzugtes Ziel von Gewalt vormals regierungsfeindlicher Kräfte, namentlich auch der Taliban (vgl. UNAMA, protection of civilians in armed conflict, midyear update, Juli 2021, S. 5 ff.; Länderinformation, S. 273 ff.). Angesichts der zweifelhaften Sicherheitslage nach der Machtübernahme der Taliban sind deshalb derzeit viele Büros der Hilfsorganisationen geschlossen und viele ausländische bzw. internationale Mitarbeiter haben das Land inzwischen verlassen (vgl. tagesspiegel.de, „Wie Hilfsorganisationen in Afghanistan weiterarbeiten wollen“, Stand 24.8.2021; ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021). Zwar haben die Taliban erklärt, die Hilfsorganisationen könnten im Land bleiben, es werde keine Vergeltungsmaßnahmen geben. Ob hierauf vertraut werden kann, ist aber fraglich (vgl. tagesspiegel.de ebd.). Den politischen Ankündigungen der Talibanführung etwa zur Wahrung der Rechte von Frauen und Minderheiten („soweit sie der Scharia entsprechen“, vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021 zur Erklärung des Taliban-Sprechers Mohammed Naim) wird angesichts der – auch jüngeren – Gräueltaten der Taliban und ihrer Schreckensherrschaft in den Jahren von 1996 bis 2001 nicht nur vonseiten der Bevölkerung misstraut (vgl. derstandard.de, „Herrschaft der Taliban: Lange Hemden und islamische Fernsehsendungen“, Stand 17.8.2021; amnesty international, „Afghanistan: Taliban verantwortlich für brutales Massaker an Hazara-Männern“, Stand 20.8.2021; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes, „Anschläge auf Zivilisten“, Stand 16.8.2021). Auch außerhalb Afghanistans bestehen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Talibanführung. Dass sich die Taliban in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 20.8.2021; tagesschau.de, Analyse, „Machtwechsel in Afghanistan: Haben sich die Taliban geändert?“, Stand 18.8.2021).
Hinzu kommt, dass die Taliban keine „monolithische Organisation“ sind, sondern (zumindest auch) eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen (vgl. Länderinformation, S 241 f.; EASO, Afghanistan – regierungsfeindliche Elemente (AGE), Stand August 2020, S. 18 ff.). Nach Einschätzung von Hans Joachim Gießmann von der Berghof Foundation stehen der z.T. gemäßigten politisch-religiösen Führung und dem politischen Büro Doha die religiösen Hardliner sowie insbesondere die jungen Kämpfer gegenüber, darunter die Feldkommandeure, die letztlich den Sieg errungen haben und vom Hass auf die bisherige Regierung und die Demokratie getrieben seien (vgl. tagesschau.de, Analyse, „Machtwechsel in Afghanistan: Haben sich die Taliban geändert?“, Stand 18.8.2021; faz.net, „Taliban in Afghanistan: Ist dieser Mann der nächste Präsident?“, Stand 18.8.2021 zu Mullah Abdul Ghani und der Frage, ob die politische Führung zusammen mit den Feldkommandeuren auch künftig an einem Strang ziehen wird). Auch der mutmaßliche Abbruch der Beziehungen zu Al-Qaida hat zu Spaltungen innerhalb der Taliban geführt (vgl. Länderinformation, S 241).
Hiervon abgesehen ist von einer Taliban-Regierung – ungeachtet ihrer wahren politischen Absichten – auf längere Sicht nicht zu erwarten, dass sie angesichts eines zutiefst verarmten Taliban-Staats imstande ist, die erforderlichen praktischen bzw. administrativen Maßnahmen insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht im neuen „Emirat“ zu ergreifen (crisisgroup.de, „Taliban rule begins in Afghanistan“, Stand 24.8.2021; faz.net, „Afghanistan: Taliban übernehmen die Notenbank“, Stand 23.8.2021 zur Flucht des bisherigen Chefs der Notenbank DAB und dessen Ersetzung durch den bisherigen Leiter des Wirtschaftsrats der Taliban, Haji Mohammad Idris, der über keine formelle Finanzausbildung verfüge und auch keine Hochschule besucht habe, vgl. reuters.com, „Taliban name acting head of central bank as economic turmoil grows“, Stand 23.8.2021). Nach Einschätzung von Martine van Bijlert von Afghanistan Analysts Network werden die Taliban, obwohl sie nicht mehr so unvorbereitet sind wie in den 1990er Jahre, nachdem diese zumindest auf lokaler Ebene irgendeine Form von Verwaltung praktiziert haben, immer noch Neuland betreten müssen. Denn der Übergang von einer kriegerischen Gruppe, die auch Terror nutzt, um ihre Ziele zu erreichen, zu einer Regierung, die zur Rechenschaft gezogen wird und erst lernen muss, Raum für andere Meinungs-, Politik- und Lebensstilpluralität zu lassen, wird nicht einfach sein (vgl. afghanistan-analysts.org, „Afghanistan has a new government: the country wonders what the new normal would look like“, Stand 17.8.2021). In der Zeit der Taliban-Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 beschränkte sich das Finanzwesen der Taliban und die afghanische Wirtschaft im Wesentlichen auf den Mohnanbau, den Drogenhandel (bis zum Opiumverbot im Juli 2000), den Schmuggel und sonstigen illegalen Aktivitäten (vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan, Stand: November 1998 Nr. III.5, Mai 2001 Nr. IV.2). Ein grundlegender wirtschaftlicher Wandel ist trotz gegenteiliger Bekundungen nicht zu erwarten, weil die Taliban-Führer nach wie vor Mullahs mit Madrassa-Ausbildung sind.
Dass sich im Taliban-Staat die unzureichenden und weitgehend prekären Unterkunftsverhältnisse zum Besseren wenden, ist schon angesichts der wirtschaftlichen Situation und des Fehlens ausländischer Hilfsgelder unwahrscheinlich.
Die Situation im Hinblick auf den Gesundheitssektor wird sich nach der Machtübernahme der Taliban ganz wesentlich verschlechtern. Dies ergibt sich nach Überzeugung des Gerichts schon aus dem Ausbleiben internationaler Hilfe und dem Stopp von Hilfszahlungen durch die Weltbank, mit denen auch das SEHATMANDI-Programm finanziert wurde (vgl. auch WHO, Afghanistan emergency situation report, 30.8.2021). Bereits vor der Machtübernahme haben die Taliban gedroht, gegen die Gesundheitsdienstleister von SEHATMANDI vorzugehen, wenn ihre unmöglich umzusetzenden Forderungen nicht erfüllt würden; dies hat sich auch auf die Unterstützung anderer von der Weltbank geförderter Programme ausgewirkt wie etwa das COVID-19-Hilfsprojekt (vgl. SIGAR, quarterly report to the United States Congress, 30.7.2021, S. 91). Das Gesundheitssystem steht demzufolge am Abgrund (vgl. ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021). Wie die Taliban mit der Corona-Pandemie umgehen werden, ist ungewiss (ebs. Bundesverwaltungsgericht der Republik Österreich, E.v. 18.8.2021 – W228 2241306-1/17E – MILo, S. 8).
(2) Für Rückkehrer, Migranten und Flüchtlinge wird sich die ohnehin schon besorgniserregende humanitäre Lage (vgl. Lagebericht, S. 22) nach der Machtübernahme der Taliban massiv verschlechtern.
Binnenvertriebene und Rückkehrer sind von der humanitären Krise in Afghanistan mit am stärksten betroffen. Aufgrund der aktuellen Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie der sich entwickelnden humanitären Notlage hat das UN-Flüchtlingswerk UNHCR auch deshalb die Staaten am 17. August 2021 aufgefordert, die Rückführung afghanischer Staatsangehöriger so lange zu stoppen, bis sich die Sicherheitslage und die Menschenrechtsbedingungen dahin verbessert haben, dass eine sichere und menschenwürdige Rückkehr möglich ist (vgl. UNHCR, briefing notes, UNHCR issues a non-return advisory for Afghanistan, 17.8.2021).
Nach dem Ende der Islamischen Republik Afghanistan und der Machtübernahme durch die Taliban kann derzeit schon aus tatsächlichen Gründen keine Abschiebung aus Deutschland nach Afghanistan erfolgen. Der scheidende (stellvertretende) Flüchtlingsminister Wafiullah Kakar führt hierzu aus: „Da sich die Dinge in Afghanistan geändert haben, sind getroffene Vereinbarungen nicht mehr aufrecht. Ihre Regierung wird in Zukunft mit den Taliban verhandeln müssen, wenn sie abschieben will“ (zitiert nach derstandard.at, „Gericht enthaftet afghanische Schubhäftlinge“, Stand 17./18.8.2021). Auch dringend erforderliche internationale und nationale Hilfsleistungen zur Rückkehr und Reintegration, die den Betroffenen bislang zugutekamen, werden auf längere Sicht ausbleiben. Dies gilt auch und insbesondere für die Unterstützung von Rückkehrern durch die Internationale Organisation für Migration (IOM). Ausweislich der Mitteilung des Informationsportals der IOM und des Bundesamts mit Stand vom 24. August 2021 „ist die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt“ (www.returningfromgermany.de; s. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021). Darüber, wie die Taliban-Regierung mit Rückkehrern aus dem westlichen Ausland verfahren wird, kann nur spekuliert werden. Eine nicht koordinierte freiwillige Rückkehr afghanischer Flüchtlinge ist – von Ausnahmefällen abgesehen – vor diesem Hintergrund derzeit nicht vorstellbar, jedenfalls aber nicht zumutbar.
Vor der Machtübernahme der Taliban bestätigte das Auswärtige Amt wie schon in der Vergangenheit weiterhin, dass (ihm) keine Fälle bekannt sind, in denen Rückkehrende nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (vgl. Lagebericht, S. 24, es gebe aber unbestätigte Meldungen über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu Vermögen gekommen). Stahlmann ging demgegenüber weiterhin davon aus, dass Rückkehrer vonseiten der Taliban, aber auch vonseiten der eigenen Familie, der Öffentlichkeit und staatlicher Akteure „Verfolgung“ droht (vgl. zuletzt Stahlmann/Diakonie Deutschland, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021). Nach Darstellung des UNHCR lagen Berichte vor, wonach aus westlichen Ländern zurückkehrende Personen von regierungsfeindlichen Gruppen bedroht, gefoltert oder getötet wurden, weil sie sich vermeintlich die diesen Ländern zugeschriebenen Werte zu eigen gemacht hätten, „Ausländer“ geworden seien oder als Spione oder auf andere Weise ein westliches Land unterstützten (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Schutzsuchender, 30.8.2018, S. 52 f.). EASO stellte demgegenüber fest, dass kaum Fälle „aus zuverlässiger Quelle“ dokumentiert sind, in denen afghanische Rückkehrer gezielt ins Visier genommen wurden, weil sie durch ihre Flucht nach oder ihr Leben in Europa verwestlicht worden sind, westliche Identitätsdokumente haben oder sich während ihrer außerhalb Afghanistans verbrachten Zeit Ideen zu eigen gemacht haben, die als „unafghanisch“, „westlich“ oder „europäisch“ gelten. Es gebe aber vereinzelte Berichte über mutmaßliche Entführungen und Angriffe. Anderen Berichten zufolge sei nicht jeder in Gefahr gewesen, aber es „komme vor“, wobei Ausmaß und Häufigkeit „schwierig zu bemessen“ seien (vgl. EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 103 ff.). Das Gericht geht nach Vorstehendem davon aus, dass für Rückkehrer aus dem Ausland zwar das Risiko besteht, als verwestlicht wahrgenommen und stigmatisiert zu werden (und auch selbst psychologisch stigmatisiert zu sein) und ggf. sogar allgemein dem Verdacht des Verrats oder Unglaubens ausgesetzt zu sein. Eine tatsächliche Gefahr, allein der Rückkehr aus dem westlichen Ausland wegen der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt zu sein, ergab sich und ergibt sich indes nach Überzeugung des Gerichts nicht, auch weil es an zuverlässig dokumentierten Fällen fehlt.
b) Die mit Blick auf die Sicherung seines existenziellen Lebensunterhalts maßgeblichen individuellen Umstände des Klägers stellen sich auf Grundlage seiner insoweit glaubhaften Schilderungen gegenüber dem Bundesamt wie folgt dar:
Der unverheiratete, gesunde Kläger entstammt einer paschtunischen Familie islamisch-sunnitischen Glaubens aus einem Dorf („K … …“, „K …“ (?)) im Bezirk … in der Provinz … Sein Vater ist mit zwei Frauen verheiratet, mit denen dieser zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers acht weitere Söhne und vier (verheiratete) Töchter hatte. Zwei der Schwestern des Klägers leben im Ausland, eine davon in den Vereinigten Staaten (nach Angaben des Klägers gegenüber der Regierung von Oberbayern, würden noch weitere Mitglieder der Kernfamilie im Ausland leben, Blatt 132 der Bundesamtsakte). Die Großfamilie des Klägers lebte im Zeitpunkt seiner Ausreise im selben Dorf. Der Kläger ging in Afghanistan und ggf. auch in Pakistan zur Schule, hat dort aber keinen Schulabschluss erworben und auch keinen Beruf ausgeübt, aber im Laden des Vaters, in dem Zucker verkauft wurde, nach der Schule mitgearbeitet. In Deutschland lernt oder lernte der Kläger den Pflegeberuf („ab dem 24.11.2016 mache ich ein einmonatiges Pflegepraktikum, weiterhin gehe ich seit drei Monaten zum Beruflichen Fortbildungszentrum der Bayerischen Wirtschaft“). Im Jahr 2015 nach dem Opferfest ist der Kläger aus Afghanistan ausgereist, also im September/Oktober 2015. Im Dezember 2015 reiste der Kläger nach Deutschland ein. Von den Ersparnissen, den der Laden des Vaters abwarf, wurde die Ausreise des Klägers aus Afghanistan in Höhe von ungefähr 5.000 USD finanziert. Der die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie lag im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers im normalen Bereich.
c) In der Zusammenschau der vorangestellten Ausführungen ist das Gericht davon überzeugt, dass beim Kläger stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass er im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht wird sichern können.
Dieser Schluss gründet sich auf die vorangestellten Erkenntnisse zu den humanitären und gesellschaftlichen Bedingungen für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in der Vergangenheit und deren prospektive Beurteilung für die Verhältnisse nach der Machtübernahme der Taliban unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Klägers.
Als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, der dort fast sechs Jahre gelebt hat, wird der Kläger in der Öffentlichkeit, der Familie und vonseiten der Taliban aller Wahrscheinlichkeit nach mit Argwohn wahrgenommen und auch befragt werden. Möglicherweise werden ihm auch Verrat und Unglauben vorgehalten, was die Chancen auf eine zügige Wiedereingliederung in die Gemeinschaft erheblich erschwert.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger allein aufgrund seiner Rückkehr aus dem westlichen Ausland sogleich Folter, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch einen Akteur droht, sieht das Gericht aber nicht. Zunächst obliegt es dem Kläger, sich als Rückkehrer den neuen Gegebenheiten und – auch den unausgesprochenen – sozialen Normen in Afghanistan anzupassen, eine westliche Erscheinung etwa in Kleidung oder Haarschnitt sowie westliches Verhalten (z.B. Alkoholkonsum) zu vermeiden und auch keine entspannte oder gar ablehnende Haltung gegenüber der Religion zu zeigen. Dies ist dem Kläger auch zuzumuten. Im Übrigen dürfte sowohl der allgemeinen Bevölkerung wie auch den Taliban bewusst sein, dass eine Abwanderung ins Ausland ungeachtet sonstiger individueller Motive in erster Linie der konfliktbedingten Gewalt in Afghanistan geschuldet war und die Flucht ins westliche Ausland zudem in wirtschaftlicher Hinsicht einen Vorteil bot. Dass Rückkehrern aus dem westlichen Ausland allein deshalb eine Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden drohen würde, weil ihnen ernstlich unterstellt würde, in politischer und/oder religiöser Opposition zu den Taliban zu stehen, ist deshalb aus Sicht des Gerichts nicht beachtlich wahrscheinlich, wenngleich eine dahingehende Vermutung im Einzelfall ernst gemeint sein und auch entsprechende Handlungen vonseiten der infrage kommenden Akteure nach sich ziehen mag.
Der zumindest anfängliche Generalverdacht der Verwestlichung, dem Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ausgesetzt sind, ist aber für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft ein nicht zu unterschätzendes Hemmnis. So gibt es nach Angaben des UNHCR einen erheblichen Anteil an Rückkehrern aus dem Westen, die so große Angst um ihre Sicherheit haben, dass sie ihr Zuhause nicht verlassen, um nach Arbeit zu suchen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Schutzsuchender, 30.8.2018, S. 105 f.). Dies ist gerade bei Rückkehrern, die – wie der Kläger – lange Zeit im westlichen Ausland gelebt haben, nachvollziehbar. Der Kläger kam Ende 2015 als 18-Jähriger nach Deutschland und wurde seither über einen Zeitraum von fast sechs Jahren von der freiheitlichen, westlichen Gesellschaftsordnung in Deutschland geprägt. Diese Prägung wird das Handeln des Klägers noch einige Zeit nach seiner Rückkehr mitbestimmen. Infolge der Machtübernahme der Taliban wird die Angst vor Unsicherheit und Ablehnung umso größer und auch nachvollziehbarer sein, weil sich die Verhältnisse in Afghanistan, die dem Kläger noch in Erinnerung sind, grundlegend zum schlechteren verändert haben. Die Taliban vertreten eine besonders strikte Auslegung ihrer Vorstellungen des islamischen Rechts und vollziehen diese auch. Bereits vor der Machtübernahme gab es in von den Taliban gehaltenen Gebieten eine Art von Religionspolizei, die die Einhaltung der von den Taliban vorgeschriebenen sozialen Normen etwa in Bezug auf Kleidung und öffentliches Benehmen, Bartlänge, die Teilnahme von Männern am Freitagsgebet und die Verwendung von Smartphones oder anderen technischen Geräten überwachten und Verstöße zum Teil auch mit Schlägen und Inhaftierungen ahndeten (vgl. Home Office UK, country policy and Information note Afghanistan: Afghans perceived as ‘westernised’, Version 2.0, Juni 2021, S. 17 ff.). Dergleichen ist unter einer Taliban-Regierung für ganz Afghanistan zu erwarten; auffallend „westliches“ Verhalten wird nicht mehr ohne weiteres hingenommen werden.
Ob die Eltern und Geschwister sowie die Großfamilie des Klägers nach all den Jahren noch im selben Dorf in Afghanistan leben, ist dem Gericht nicht bekannt, weil sich der Kläger hierzu nicht geäußert hat, insbesondere nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Dies wird deshalb zu seinen Ungunsten angenommen, obwohl Rückkehrer de facto häufig zu Binnenvertriebenen werden, da u.a. verlorene Gemeinschaftsnetzwerke sie daran hindern, an ihren Herkunftsort zurückzukehren (vgl. Länderinformation, S. 353).
Jedenfalls ist davon auszugehen, dass der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan von seiner Familie nicht mit offenen Armen empfangen wird. Als einer von wenigstens 13 Kindern der (Kern-)Familie wird der Kläger sicherlich nicht mit besonderer Fürsorge behandelt werden. Auch sonst ist beim Kläger kein Merkmal zu erkennen, das ihn aus der Gruppe seiner Geschwister in irgendeiner vorteilhaften Weise hervorheben würde. Als Abgeschobener wird er ohnehin als Versager angesehen werden, als freiwilliger Rückkehrer ohne finanzielle Mittel ebenso. Die Ausreise des Klägers nach Deutschland kostete der Familie die für afghanische Verhältnisse beträchtliche Summe von ungefähr 5.000 USD, was nach den Angaben des Klägers die Ersparnisse waren, die der Laden des Vaters abgeworfen hatte. Dass sich dieser Betrag für die Familie des Klägers seither amortisiert hätte, dass also der Kläger wenigstens denselben Betrag nach Afghanistan zurücküberweisen konnte, ist nicht zu erwarten. Doch selbst wenn der Kläger seine Familie durch Überweisungen aus Deutschland unterstützen konnte, würden diese von ihm erwarteten Zahlungen nunmehr ausbleiben. Auf finanzielle Unterstützung durch Rückkehrprogramme kann der Kläger – wie zuvor ausgeführt – derzeit nicht hoffen. Der Kläger würde damit als mittelloser Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne Geld und Geschenke nicht nur das Stigma des Verwestlichten tragen, sondern zugleich als Versager gelten, der es im Unterschied zu anderen ausgereisten Afghanen nicht geschafft hat, in Europa Fuß zu fassen und sich eine Existenz aufzubauen. Sein Scheitern würde nicht nur den Kläger selbst, sondern auch dessen Familie innerhalb der Gemeinschaft beschämen und Schande über sie bringen. Viele in vorstehendem Sinn gescheiterte Rückkehrer ziehen es deshalb vor, nach ihrer Rückkehr obdachlos zu bleiben, anstatt von ihren Familien abgelehnt zu werden. Diese Schande dürfte für eine paschtunische Familie, insbesondere den Vater des Klägers, deren Kultur eine strikte Befolgung eines Ehren- und Verhaltenskodex verlangt, nur schwer zu ertragen sein (vgl. Home Office, UK, country policy and Information note Afghanistan: Afghans perceived as ‘westernised’, Version 2.0, Juni 2021, S. 25 ff.; EASO, COI query report – Afghan nationals perceived as westernised – 9.2.2020, S. 5, 9; Länderinformation, S. 304, 391; Stahlmann/Diakonie Deutschland, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021, S. 62 ff.). Es ist davon auszugehen, dass der Kläger innerhalb seines familiären und sozialen Netzwerks am Rand stehen wird, weil er die ihm traditionell zugedachte Rolle als Versorger der Familie nicht erfüllen kann.
Wie sich die Familie des Klägers anfangs verhalten wird, ist nicht abzusehen. Jedenfalls wird die Familie des Klägers aber angesichts der zu erwartenden Verschärfung der ohnehin schon besorgniserregenden humanitären Krise in Afghanistan weder dazu imstande noch dazu bereit sein, für den Kläger den Lebensunterhalt sicherzustellen. Denn von einem inzwischen jungen Mann von Mitte zwanzig wird erwartet, dass er maßgeblich zur Versorgung der Familie beiträgt und nicht auf deren Kosten lebt. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist die Unterstützung meistens nur temporär und nicht immer gesichert (Länderinformation, S. 391). Die Lage wird sich für Rückkehrer nach der Machtübernahme der Taliban noch deutlich verschärfen, weil deren wirtschaftliche Unfähigkeit und der Rückzug der internationalen Geldgeber eine massive Verschlechterung der humanitären Verhältnisse erwarten lässt. Dass der Kläger mit seiner hier begonnenen Ausbildung im Pflegeberuf eine bezahlte Arbeit in Afghanistan finden wird, ist derzeit unwahrscheinlich, insbesondere, weil die Finanzierung des SEHATMANDI-Projekts ausgesetzt wurde, das die wichtigste Grundlage für die Gesundheitsversorgung Afghanistans ist. Nachdem die Weltbank ihre Hilfe eingefroren hat, können auch keine Gehälter mehr ausbezahlt werden (vgl. WHO, Afghanistan emergency situation report, 28.8.2021).
Auch wenn der Kläger in seinem Heimatdorf über ein familiäres und soziales Netzwerk verfügen und auch zeitweise unterkommen mag, spricht wenig dafür, dass er dort eine bezahlte Arbeit finden wird. Dieser bedarf er aber, um weiterhin auf die Unterstützung seines familiären und sozialen Netzwerks bauen zu können. Der Kläger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit (und wohl auch zutreffend) zunächst als verwestlichter und verweichlichter Rückkehrer wahrgenommen werden, als eine Person, die die Werte, das Aussehen, die Sprache, den Akzent und die Kultur eines westlichen Landes übernommen hat und zudem nicht in der Lage ist, mit den schweren Lebensbedingungen in Afghanistan zurechtzukommen. Da der Kläger die letzten sechs Jahre in Deutschland verbracht hat, ist weiter davon auszugehen, dass ihm die Regeln, die Sozial- und Verhaltenskodizes im Umgang vor Ort nicht mehr in einer Weise vertraut sind, als dass er dem ihm entgegengebrachten Misstrauen und den Vorurteilen durch die Bevölkerung, aber auch vonseiten der Familie, etwas entgegenzusetzen hätte. Ob dessen Familie, allen voran der Vater, für den Kläger bürgen können, ist angesichts des Versagens des Klägers – in den Augen der Familie – eher fraglich, schon, weil nicht gewiss ist, ob der Kläger den an ihn gestellten Anforderungen noch genügen kann. Denn die Familie hat den Kläger in den letzten sechs Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Zudem hat sich die Lage für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nach der Machtübernahme durch die Taliban, religiösen Extremisten, deutlich verschlechtert, weil diese den Kläger als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in den Blick nehmen werden, wobei sich die rechtlichen und sozialen Vorstellungen der Taliban an einer besonders strengen, unnachgiebigen und extremistischen Auslegung des Islam und der Scharia orientieren. Dass der Kläger deshalb nicht nur von der Gemeinschaft, sondern auch vonseiten der neuen Herrscher im Islamischen Emirat Afghanistan beobachtet werden wird, dürfte auch einem potenziellen Arbeitgeber bewusst sein und dieser muss befürchten, durch die Beschäftigung des Klägers selbst ins Visier der Taliban zu geraten. Angesichts einer von Krisen gebeutelten Wirtschaft (Dürre, Covid-19 Pandemie, Konflikt) mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit, des Massenzuzugs von Flüchtlingen, Binnenvertriebenen sowie Vertriebenen aus Iran und Pakistan und einer entsprechend hohen Zahl von Arbeitsuchenden ist deshalb nicht davon auszugehen, dass gerade der Kläger mit seiner pflegerischen Vor- oder Ausbildung bei der Suche nach einer Arbeit erfolgreich sein würde (vgl. Länderinformation, S. 390 ff., 236 ff.).
Von Vorstehendem abgesehen ist derzeit auch nicht zu erwarten, dass der Kläger einen gesicherten Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung haben wird. Hierfür besteht aber womöglich alsbald nach seiner Rückkehr ein Bedarf, wenn er den für ihn zunächst ungewohnten niedrigen Hygienestandards und Krankheitsrisiken in Afghanistan ausgesetzt sein wird (vgl. Stahlmann/Diakonie Deutschland, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021, S. 54).
Sprechen deshalb nach Auffassung des Gerichts stichhaltige Gründe dafür, dass der Kläger bei den derzeitigen Verhältnissen seinen existenziellen Lebensunterhalt selbst in seinem Heimatort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht sicherstellen kann, so gilt dies erst Recht außerhalb der Reichweite (s) eines Netzwerks an einem anderen Ort innerhalb von Afghanistan.
d) Da der Kläger mithin einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Afghanistans hat, bedarf es keiner Entscheidung mehr über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Denn beim national begründeten Abschiebungsschutz handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17). Eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist daher nicht möglich (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2015 – 13a ZB 15.30032 – juris Rn. 9 m.w.N.)
e) Aufgrund des Vorliegens eines Abschiebungsverbots waren auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bundesamtsbescheids und das auf 30 Monate befristeten Einreise und Aufenthaltsverbot in Nr. 6 des Bundesamtsbescheids vom 30. März 2017 aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG, § 11 Abs. 2, § 75 Nr. 12 AufenthG).
II. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1 AsylG) noch auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG).
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist – im Einklang mit dem unionsrechtlichen und dem internationalen Flüchtlingsrecht – ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Die Furcht vor Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr – die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 37.18 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte – zu denen der Kläger nach den Feststellungen des Gerichts nicht gehört – werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung dafür, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 37.18 – juris Rn. 14 m.w.N.).
Daran gemessen kommt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht, weil der Kläger nicht zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht hat, dass er in Afghanistan verfolgt wurde, von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war oder sein wird.
a) Von der behaupteten Verfolgungs- oder Bedrohungslage aufgrund einer Verwandtschaft mit dem „Distrikt Manager“ von …, einem „A … K …“ ist das Gericht nicht überzeugt. Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht hat, dass „H … A … K … M …“, der ehemalige Bezirksgouverneur von …, tatsächlich sein Onkel ist. Weiterhin stehen u.a. die Angaben des Klägers gegenüber dem Bundesamt am 23. November 2016 zu seinem Aufenthalt in Pakistan im Widerspruch zu dessen Angaben gegenüber der Regierung von Oberbayern am 13. April 2017 (Bundesamtsanhörung: „drei Jahre lang in Pakistan“; Regierung von Oberbayern: „die letzten acht Jahre in Pakistan“). Diese Abweichung ist nicht unbedeutend, weil die Bedrohung durch die Taliban ein Auslöser für die Flucht der Familie nach Pakistan gewesen sein soll. Überdies ist es nicht plausibel, dass dem Kläger vonseiten der Taliban eine Gefahr gedroht haben soll, weil sein Onkel Bezirksgouverneur gewesen sei, der Rest der klägerischen Familie nach der Ausreise des Klägers aber unbehelligt blieb („Die Bedrohung ist noch da, aber bis jetzt ist nichts passiert“). Der Kläger hat die mündliche Verhandlung nicht dazu genutzt, seine behauptete Verwandtschaft mit dem Bezirksgouverneur näher darzutun oder etwaige Unklarheiten im bisherigen Sachvortrag auszuräumen.
b) Ob Rückkehrer aus dem westlichen Ausland eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden, kann dahinstehen. Denn Rückkehrern aus dem westlichen Ausland drohen von keinem Akteur mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Handlungen i.S.d. § 3a AsylG allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Migranten. Wie bereits ausgeführt wurde, fehlt es für die Annahme einer Verfolgungs- oder Bedrohungslage bereits an „zuverlässig dokumentierten Fällen“, aus denen sich eine Verfolgung oder Bedrohung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ergeben könnte. Erst Recht bestehen keine Anhaltspunkte für eine dahingehende hinreichende Verfolgungsdichte. Weder der Generalverdacht einer Verwestlichung noch die Marginalisierung von Rückkehrern aus dem westlichen Ausland in der Gesellschaft erreichen für sich die Intensität einer Verfolgungs- oder Bedrohungshandlung.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 AsylG – vorbehaltlich der in § 4 Abs. 2 AsylG normierten und hier nicht einschlägigen Ausschlussgründe – subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: (nachfolgend Buchst. a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, (nachfolgend Buchst. b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder (nachfolgend Buchst. c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Nach § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend, wobei an die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens treten; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung, ABl. L 337 S. 9) – sog. Anerkennungsrichtlinie – zum subsidiären Schutz umgesetzt (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 8). Im Rahmen des subsidiären Schutzes gilt für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „… tatsächlich Gefahr liefe …“ des Art. 2f RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“; vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 34 ff. m.w.N.).
a) Dem Kläger droht den vorstehenden Ausführungen zur fehlenden Flüchtlingseigenschaft folgend in Afghanistan nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
b) Dem Kläger droht in Afghanistan auch keine Folter oder unmenschliche Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.
aa) Hinsichtlich der geltend gemachten Bedrohung im Zusammenhang mit dem ehemaligen Gouverneur des Bezirks … wird auf die vorstehenden Ausführungen zur fehlenden Flüchtlingseigenschaft verwiesen.
bb) Ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ergibt sich auch nicht aus der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan. Denn eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung muss stets von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 und § 3c AsylG ausgehen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 9 ff.; B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6, jeweils m.w.N.), an dem es insoweit fehlt.
Die schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan gehen nicht von einem Akteur i.S.d. § 3c AsylG – auch nicht von den Taliban – aus. Die schlechte Versorgungslage (betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung) wird durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen (insbesondere die schwierigen klimatischen Bedingungen, Naturkatastrophen und die Covid-19-Pandemie), durch die Sicherheitslage und künftig wohl auch durch das Unvermögen der Taliban, Afghanistan wirtschaftlich aussichtsreich zu regieren, negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden Akteure ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Lage führen könnte. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt.
c) Dem Kläger droht zur Überzeugung des Gerichts in Afghanistan kein ernsthafter Schaden aufgrund einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Der Kläger hat keine glaubhaften individuellen/persönlichen Umstände vorgetragen, aus denen sich gefahrerhöhende Umstände in seiner Person ergeben, die ihn von einer allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 20 ff.). Auf die vorstehenden Ausführungen des Gerichts zur geltend gemachten individuellen Bedrohung aufgrund der Verwandtschaft des Klägers zu einem ehemaligen Bezirksgouverneur und dessen Zugehörigkeit zur Gruppe der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland wird im Übrigen verwiesen.
Kampfhandlungen zwischen den Streitkräften der ehemaligen Regierung der Islamischen Republik Afghanistan und den Taliban, die die nunmehrige Regierung des Islamischen Emirats Afghanistan bilden, finden nicht bzw. kaum mehr statt. Ob der bislang herrschende innerstaatliche Konflikt beendet ist, bedarf deshalb keiner Klärung. Das Gericht geht aufgrund der aktuellen Lage davon aus, dass der Kläger aufgrund dieses Konflikts derzeit nicht in Afghanistan bzw. in der Provinz …, Bezirk …, als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge „willkürlicher Gewalt“ mit der erforderlichen hinreichenden Gefahrendichte unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände, ausgesetzt ist (vgl. zuletzt EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19). Der Konflikt zwischen der Gruppe des sog. Islamischen Staats der Provinz Khorosan (ISKP) und den Taliban lässt angesichts der Niederlagen des ISKP auch in … und der damit einhergehenden Aufgabe der Kontrolle von Gebieten durch ISKP derzeit nicht die Gefahr besorgen, dass dem Kläger ein dahingehender ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht. Der Bezirk … stand bereits vor derer Machtübernahme in Afghanistan unter der Kontrolle der Taliban (vgl. Länderinformation, S. 162 ff., 245 ff.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Hinsichtlich der Kostenaufteilung geht das Gericht von einer Gewichtung des Asylantrags i.S.v. § 13 AsylG mit ¾ und der nationalen Abschiebungsverbote von ¼ aus. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO). Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.


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